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Ausgabe:

1897

Spalte:

251-252

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Hermann

Titel/Untertitel:

Reformation und Täufertum in ihrem Verhältnis zum christlichen Prinzip 1897

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Seite 1

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Theologiche Literaturzeitung. 1897. Nr. 9.

252

Lüdemann, Prof. D. H., Reformation und Täufertum in Schlufswort gedankt, ,dafs alle theologifchen Meinungs-
ihrem Verhältnis zum christlichen Princip. Bern, W. verfchiedenheiten, die unter uns ftreitig find und ftreitig
T, . o c , _ e o ^ t- I bleiben mögen, famt und fonders von fecundärer Bedeu-

Karser, 1896. (95 b. gr. 8.) Fr. 2. 10 tung find > Vergleich mit der einen Ueberzeugung, in

der wir gegenüber allen unevangelifchen Ausprägungen
des Chriftenthums zufarnmentreffen, der vollkräftig pofi-
tiven Ueberzeugung von der unüberwindlichen Wahrheit
des evangelifchen Grundfatzes von der Rechtfertigung
durch den Glauben allein'. Aber gerade, jemehr die
heutige Theologie an diefem Fundament fefthält, um fo

In Nr. 4 der Th. L. Z. 1896 hat Ref. beklagt, dass
E. Müller in feiner Gefchichte der Bernifchen Täufer
dem Zauber der kühnen Hypothefen L. Keller's von den
altevangelifchen Gemeinden völlig erlegen ift, ftatt felbft-
ftändig zu prüfen. Lüdemann hat im Frühjahr 1896 bei
der Verfammlung der Bernifchen Geiftlichen aus Anlafs

des Müller'fchen Buches das Thema .Reformation und mehr wird fie fich trotz Schleiermacher befcheiden
Täuferthum in ihrem Verhältnifs zum chriftlichen Princip' müffen, fchon völlig abfchliefsende Geftaltungen der in
behandelt. Der Erfolg des Vortrags war, dafs Müller unmittelbarem Zufammenhang mit der Rechtfertigung
seine Anflehten .wefentlich modifizirte und ein Gegen- flehenden Dogmen gewonnen zu haben. Die Gefchichte
fatz zwifchen ihm und Lüdemann nicht mehr befteht.' | kennt wohl keine rückläufige Bewegung, auch die Dog-
Es wäre fehr zu wünfehen, dafs auch in den Kreifen, mengefchichte nicht. Aber auch Lüdemann erkennt es
in welchen ,ein bedenkliches Ermatten und Unklarwerden I als Grofsthat an, das die Reformatoren auf Chriftus
der evangelischen Grundüberzeugung zu beobachten ift' ' felbft und feinen genialften und geiftesverwandeften
(S. 3.), fo auch in den Kreifen der .Philadelphia', Lüdemann's j Apoftel zurückgegangen (S. 80); und doch war die ReVortrag
den Anstofs bildete, um sich neue Rechenschaft I formation keine einfache Repriftination. Was das Chriften

über das überwiegend betonte Heiligungsprincip zu geben.
Ja es ift dem ehrlichen Ludwig Keller zuzutrauen, dafs
er feine bisherige Pofition in ihrer Begründung und ihrem
Autbau einer gewiffenhaften Prüfung in Bezug auf ihre
Haltbarkeit unterzieht. Widerfpruch von den gewichtigften
Seiten hat Keller reichlich erfahren. Aber es fehlte an
einer Zufammenfaffung und einer Zufpitzung zu einer
Prinzipienfrage, welche auch weitere Kreife, als die Lefer

thum an Erkenntnifs im Lauf der 15 Jahrhunderte wirklich
gewonnen hatte, war nicht verloren. Es ift
darum nicht Reaktion, nicht Verleugnung der wirklichen
Ergebniffe der neueren Theologie, wenn fich mehr und
mehr in der heutigen Theologie das Streben geltend
macht, fich mit der Theologie der Reformatoren und
vor allem Luthers klar auseinanderzufetzen. Es mag
rein individuell, am Ende ächt fchwäbifch fein, dafs Ref.

der hiftorischenFachlitteratur, aufmerksam machen könnte, i in den etwas zuverfichthehen Ton S. 85 ff. nicht ein-
Lüdemann's kleine Schrift füllt alfo eine Lücke aus, I ftimmen kann. Noch weniger kann Ref. den Ton gut-
dazu fpricht er mit anfprechender Wärme und grofser | heifsen, welchen Lüdemann öfters gegen L. Keller an-

Ueberzeugungskraft. Die Worte: .Werden wir irre am
evangelischen Prinzip, irre an dem Grundfatz von der
Rechtfertigung durch den Glauben, — dann lafst uns
unfere Kirche fchliefsen', (S. 4) werden Widerhall bis jen-
feits des Oceans finden. Lüdemann geht aus von .einem
grofsen fachlich-principiellen Zusammenhang, der allen
den praktisch-rigoriftifchen Oppofitionsparteien zu Grunde
liegt, welche die römifche Weltkirche auf ihrem ganzen
Gang durch die Kirchengefchichte begleitet' (S. 18) und
findet darin das Wahre an Kellers Aufftellungen über
die altevangelifchen Gemeinden und die Anknüpfung
des Anabaptismus an das Waldenferthum, während er
Ritschis Versuch, den Anabaptismus aus dem Mönchthum
abzuleiten, als ,durchaus fchief' verwirft. Er gefleht
Keller zu, dafs ,der Anabaptismus nicht jene wurzellofe,
plötzlich aus der Reformationsbewegung auffchiefsende
Erfcheinung war, für den man ihn bis dahin meift gehalten
' (S. 18.), aber wenn auch Ritfchls Verfuch, den
Anabaptismus mit den Tertianern in Verbindung zu
bringen, der nöthigen Unterlage entbehrt, fo erklärt doch
Lüdemann felbft das Mönchthum ,für den innerkirchlichen
Concurrenten des antikirchlichen Rigorismus des
Mittelalters' und ,beide flehen in Wahlverwandtfchaft' mit
einander (S. 33 u. 35.) Die Reformatoren hatten doch
nicht fo ganz fehlgefchoffen. (Vgl. Möller-Kawerau,
Lehrbuch der Kirchengefchichte 3,58, 82 ff.) Man kann
fich nicht auf die geringe hiftorische Bildung derfelben
berufen (S. 35). Ihr Blick für den Gegenfatz der Principien
war gefchärft. Das weltfcheue, auf das eigene Verhalten
fich gründende Heiligkeitsideal des Täuferthums hat
doch feine nächften Vorgänger in den Mönchen, wenn
auch entfernte Einflüffe der Waldenfer möglich find. Das
Wort von den .Mönchen ohne Kappen' behält ein gewiffes
Recht. Hier ist befonders Mich. Sattler typifch. Der
Gang, welchen Lüdemann mit Keller und Müller in
grofsen Urnriffen und weiten Ausblicken durch die Kirchengeschichte
macht, ist sehr dankenswerth, befonders die
Beleuchtung der Vorftellung vom dreihundertjährigen
Beliehen ,des alten apoftolifchen Chriftenthums' und die
fcharfe Sonderung des Begriffs .Gelaffenheit' bei den
Myftikern und bei den Täufern, wie die Würdigung der
Lehre Joh. Denks. Noch fei ihm befonders für das

gefchlagen hat. Es geht doch zu weit, ihm z. B. unglaubliche
Naivität', ,die Ruhe eines Nachtwandlers' S. 18 vorzuwerfen
. Kellers Verdienfte liegen nicht auf Seiten der
richtigen Verarbeitung und Beurteilung feines Stoffes,
fondern wefentlich auf der Hebung desfelben aus ver-
funkenen Schachten. Dafs der Stoff ihn anzog, dafs die
Befchäftigung mit den Täufern ihn mit grofser Liebe
und Begeifterung erfüllte, ift ein Schickfal, dem auch
andere Geifter unterliegen, über welche ihr Stoff Herr
geworden. Ref. kann die Ergebniffe Kellers in keiner
Weise theilen, aber er weifs den Eros etwas milder zu be-
urtheilen, als Lüdemann dies thut. Sind denn die ge-
lehrteften und gewiffenhafteften Geifter fo ganz gefeit
gegen alle idola, specus, tribus, fori et theatri? Sind wir
denn fo ganz unabhängig auch nur von dem Geift unferer
Umgebung? S. 8 und 12 gebraucht L. den Ausdruck
,Abfolge', wo uns Deutfchen Folge genügt. Diefen Ausdruck
hat er ficher nicht aus feiner Kieler Heimat mitgebracht
, fondern den Einflufs des Schweizer Idioms
damit bewiefen. Ob nicht auch in feiner Beurtheilung
der Schweizer Reformatoren und Luthers, z. B. S. 66.,
ähnlich wie bei Keim, der Schweizer Geift unbewufst
mitwirkte, mag dahinftehen, aber es wäre völlig begreiflich
. Ref. führt diefe Beobachtungen blos an, um
für eine mildere Beurtheilung Kellers einzutreten.

Schief fcheint dem Ref. S. 30 die Formulierung des
Gegenfatzes innerhalb der vornieänifchen Kirche zu fein,
wenn hier eine aufrichtige und opportuniftifcheRich-
tung unterfchieden, der Opportunismus weltklug, der
Rigorismus ehrlich genannt wird. Ift der Opportunismus
unehrlich? Als Luther im Anfang März 1522 von
der Wartburg zurückkehrte, trat er als Opportunift in
feinen gewaltigen acht Predigten dem Rigorismus Karl-
ftadts und Zwillings entgegen. War er deswegen weltklug
und unehrlich? Ift Paulus Rom. 14 nicht Opportunift
? Die Ausftellungen, welche Ref. hier vorbringt,
beeinträchtigen den Genufs, den ihm Lüdemann mit der
Beleuchtung des Gegenfatzes von Reformation und Täuferthum
gewährte, nicht, und er hofft, dafs diefelbe nicht
nur bei Müller, fondern in viel weiteren Kreifen der
evangelifchen Kirche ihre Wirkung thut.

Nabern. G. Boffert.