Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1897 Nr. 8

Spalte:

223-224

Autor/Hrsg.:

Harris, George

Titel/Untertitel:

Moral evolution 1897

Rezensent:

Kaftan, Julius

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

223

Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 8.

224

habe. Nach meiner Erfahrung giebt es überhaupt, wenn bei eingehender Erörterung und Vertheidigung Stich-

einem gegenüber dem jetzt wieder fteigenden Anfehen
der Metaphyfik Bedenken gegen die Verwerfung aller
Metaphyfik auffteigen, kein wirkfameres Mittel zur Be-
feftigung in dem einfach ablehnenden Urtheil als die
Vertiefung in irgend welche tüchtige metaphyfifche
Arbeit.

Berlin. Kaftan.

Harris, Prof. George, Moral evolution. Boflon, Houghton,
Mifflin & Co.. 1896. (IX, 448 S. 8.)

Das Buch enthält etwas anderes, als was der Titel
verfpricht. Denn diefem zu Folge erwartet man eine
Auseinanderfetzung über die Entwickelung der Moral in
der Menfchheit, darüber, wie fie entfleht, entliehen mufs
und fich weiter entwickelt. Statt deffen bietet das Buch
eine Erörterung über das Verhältnifs der Ethik zu der
(Darwinfchen) Entwickelungslehre. Indem der Verf. fich
refolut auf den Boden diefer Lehre Hellt, will er zeigen
und zeigt er, dafs fie nicht, wie vielfach angenommen
wird, der Moral zuwider ift, fondern im fchönften Einklang
mit ihr fteht. Dazu dient ihm namentlich der
Gedanke, dafs der .Altruismus' nur die eine Hälfte der
moralifchen Aufgabe bezeichne: die andere eben fo
wichtige Hälfte fei die Selbftdurchfetzung [self-realiza-
tion) ■— dies Selbft vom höheren auf ideale Ziele gerichteten
Selbft verftanden. Weiterhin wird dann dasfelbe
Problem mit Bezug auf die chriftliche Ethik und den
chriftlichen Glauben erwogen, wie nämlich deren Verhältnifs
zur Entwickelungslehre fich geftaltet. Und zwar
wird auch da den vollkommenen Einklang herzuftellen
oder nachzuweifen gefucht. Ja, man hat den Eindruck,
dafs es im letzten Grunde eben hierauf abgefehen ift: es
handelt fich um eine apologetifche Erörterung, in der gezeigt
werden foll, dafs der chriftliche Glaube und die
Entwickelungslehre fich aufs belle vertragen. Eine ge-
wiffe Anpaffung beider aneinander findet dabei natürlich
ftatt. Es ift nicht die orthodoxe Lehrüberlieferung, die
der Verf. vertheidigt, aber auch nicht ein paar abge-
blafste allgemein religiöfe Gedanken, fondern der konkrete
chriftliche Glaube, der Jefus Chriftus zum Inhalt hat: es
komme darauf an, der in der neueren Theologie erkennbaren
Tendenz entfprechend, die chriftlichen Gedanken
in ihrem engen Zufammenhang mit den ethifchen Wahrheiten
zu erfaffen und zu formuliren. Daraus erklärt
fich wohl auch der Titel des Buches v/oral evolution.
Das Moralifche bildet das Mittelglied. Der zu Grunde
liegende Gedankengang ift der: Entwickelungslehre und
Moral gehören zufammen, das Chriftenthum ift die vollendete
Moral, wir nehmen es in feinem höchften Sinn,

haltigeres vorzubringen hätte, als es nach diefer populären
Darftellung fcheint.

Um nur Einiges zu nennen: was über das Verhältnifs
von Pflicht, Gebot, Gehorfam auf der einen, Gut,
Glück, Neigung auf der anderen Seite gefagt wird, ift
doch recht obenab gefchöpft. Die liebenswürdige Ver-
ficherung des Verf.'s, dafs die Sache fo und fo ift, und
dafs gar keine Schwierigkeiten vorliegen, mufs die innere
Bewältigung der Sache und die eindringende Beweisführung
erfetzen. Auch mit dem Lieblingsgedanken des
Verf.'s, der Altruismus fei durch die Betonung der self-
realization zu ergänzen, kann ich mich nicht zurechtfinden
. Ich verliehe ihn zwar aus dem Gegenfatz gegen
eine Anfchauung, die Moral und Altruismus einander
gleichfetzt, und aus dem Beftreben, das Ethifche in den
Grundgedanken der evolution einzuhaken. Das fcheint
mir auch nicht unberechtigt zu fein. Aber geht es wirklich
an, diefe Beziehung auf das Selbft neben die auf
die Nächften zu Hellen? Lebt nicht das ideale Selbfl,
das gemeint iH, fich gerade in der Uebung der Liebespflichten
dar? IH das alfo eine richtige Nebenordnung
? Mufs nicht vielmehr gezeigt werden, wie in allem
moralifchen Handeln eine Beziehung auf das SelbH mitgefetzt
iH, ohne dafs das ein befonderes den anderen
nebenzuordnendes Stück der Moral iH? Kurz, auch hier
fehlt, für den Lefer wenigHens, die feinere Arbeit an den
begrifflichen Beziehungen. Steckt folche dahinter, fo
hätte fie der Verf. wohl etwas deutlicher verrathen
dürfen.

Aber die wichtigfle Frage iH, was von der hier verflachten
Auseinanderfetzung zwifchen Chriflenthum und
Entwickelungslehre zu halten iH. Irre ich nicht, fo wird -
dies Thema in den nächHen Jahrzehnten immer bedeutungsvoller
werden. Und da iH es fchon ein Ver-
dienfi, dafs der Verf. es furchtlos in Angriff genommen
hat. Vielen wird feine warmherzige, beredte und überzeugte
Darflellung gewifs von Nutzen fein. Doch kann
ich auch in diefer Beziehung nicht verhehlen, dafs kaum
tief genug gegraben fein dürfte. Es macht fich dem
Verf. alles zu leicht, Schwierigkeiten exiHiren kaum.
Viel gründlicher müfste m. E. gezeigt fein, dafs, alles
zugegeben was die Natur wiffenfchaft über die Entwickelung
ausgemacht zu haben meint, damit doch nur eine
lange Reihe thatfächlichen Gefchehens aufgezeigt iH, und
die Theorie, die Erklärung der Wirklichkeit, die man
daraus entnimmt, erfl durch den Zweckgedanken wird,
was fie heifst, diefer Zweckgedanke aber nicht etwas
thatfächlich fich Aufdrängendes, fondern etwas nur in
der inneren Erfahrung zu Erfaffendes iH — kurz dafs die
nur auf die Refultate der Wiffenfchaft gefiützte Entwickelungslehre
eine Frage und keine Antwort iH, und

wenn wir feine Lehre (der Schrift entfprechend) demge- j die Antwort nicht aus dem blofsen Erkennen entnommen
mäfs deuten, alfo iH es auch irrig, einen Zwiefpalt | werden kann. Ferner: mufs nicht in ganz andrer Weife

zwifchen ihm und jener Lehre anzunehmen.

Eine eingehendere Ueberficht über den Inhalt des
Buches zu geben iH nicht wohl möglich. Die verfchiedenfien
Fragen werden erörtert, die Grundbegriffe der Moral

als es hier gefchieht, dieFrage geHellt und aufgeklärt
werden, was es denn unter diefen Vorausfetzungen mit
der chrifllichen Lehre von der Sünde auf fich hat? Es
iH doch fo, dafs die Beurtheilung eine gänzlich andere

fo gut wie alle Hauptpunkte chrifilicher Lehre werden ! werden mufs, wenn der Menfch aus der vormenfchlichen
befprochen, überdies von ökonomifcher Reform, Staat j Entwickelung nach einem vom Verf. citirten Wort
und Kirche, Ehe und Ehefcheidung und von manchem Huxleys den Tiger und den Affen mitbringt. Kann man
anderen noch gehandelt. Eine auch nur nothdürftige das acceptiren und friedlich neben einer dem chrifllichen

Ernfl entfprechenden Beurtheilung der fittlichen Dinge
aufmarfchiren laffen? Und fo wäre noch manches Fragezeichen
zu machen. Immerhin wird das Buch einem in
weiten Kreifen verbreiteten Bedürfnifs entgegenkommen
und feine guten Dienfle thun.

Skizze aller diefer Ausführungen zu geben würde mehr
Raum beanfpruchen als zur Verfügung fleht. Urtheile
ich recht, fo hängt diefer Charakter des Buches, dafs
im Fluge gleichfam ein fo grofser Stoff durchgenommen
wird, mit der Abficht zufammen, die gewonnene Er-

kenntnifs einem gröfseren wenn auch wiffenfchaftlich Berün Kaftan
gebildeten Publikum vorzutragen. Nicht eine ffreng-
wiffenfchaftliche Unterfuchung, fondern eine populär-
wiffenfchaftliche Auseinanderfetzung iH beabfichtigt. Eben
das erfchwert auch das Urtheil. Ich hätte manche Fragezeichen
zu machen, weifs aber nicht, ob nicht der Verf.