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Ausgabe:

1897 Nr. 8

Spalte:

222-223

Autor/Hrsg.:

Strümpell, Ludwig

Titel/Untertitel:

Abhandlungen zur Geschichte der Metaphysik, Psychologie und Religionsphilosophie in Deutschland seit Leibniz 1897

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 8.

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doch ihr Ziel, ein Ganzes von Erkenntnifs und Weltan-
fchauung zu entwickeln, nicht anders, als indem fie auf
mannigfaltige Weife mit der übrigen Wiffenfchaft, fonder-
lich der Philofophie, in Wechfelwirkung und Austaufch tritt.

Den leitenden Grundgedanken, die der Verf. entwickelt
und bekennt, kann ich nur zuflimmen. Die Dog-
matik hat in der That den Glauben zu ihrer Grundlage
und ift nichts ohne ihn. Wiederum mufs der Glaube
ftets in feiner Beziehung auf die Offenbarung genommen
und verftanden werden, die ihm allein feinen Inhalt giebt,
wie andererfeits — ich würde das ftärker betonen — die
Offenbarung (die Schrift) für die Dogmatik nur als die
im Glauben angeeignete Quelle und Norm ift. Ebenfo
mufs nachdrücklich feftgehalten werden, dafs die fo gewonnene
Erkenntnifs, die die Dogmatik entwickelt, Wahrheit
ift und fein will, und zwar, da fie Gotteserkenntnifs
ift, letzte, definitive, das Ganze umfpannende Wahrheit.
Der Art aber, wie der Verfaffer diefe Gedanken kom-
binirt und fo die konkrete Methode gewinnt, vermag ich
nicht zuzuftimmen. Als der entfcheidende Punkt in
feiner Conftruction erfcheint mir nämlich der, dafs er
aus der in einer eigenthümlichen Erfahrung vergewifferten
Grundwahrheit des Glaubens (refp. der Offenbarung)
fchliefsend und folgernd das Ganze der chriftlichen
Erkenntnifs gewinnen will, das nun in lebendiger Fühlung
mit Wiffenfchaft und Philofophie zu entwickeln fei. Dagegen
habe ich einzuwenden, dafs die apologetifche
Auseinanderfetzung mit dem übrigen Wiffen, die Einordnung
des Glaubens und feiner Erkenntnifs in das
Ganze des geiftigen Lebens, in die Vorhalle der Dogmatik
gehört. Denn fie kann fich (feit Kant) nicht mehr
darauf richten, diefe Wahrheit mit aller übrigen Wahrheit
objektiv zu einem Ganzen zu vereinigen, was nie
gelingen wird, da es alle menfchlichen Kräfte überfteigt.
Sie kann nur darin beliehen, dafs wir auf den Menfchen
achten, deffen die Erkenntnifs und die Wahrheit ift, und
uns vergewiffern, wie fich ihm der Glaube als ein wefent-
liches und unentbehrliches Glied in die Einheit feines
geiftigen Lebens und vor allem feiner Erkenntnifs einordnet
. Das ift nicht ein Verzicht auf das eigentlich zu
Erftrebende, fondern ein Einfetzen am richtigen Punkt
und ein Auffuchen der eigentlichen Grundformel aller
diefer Grenzfragen. Natürlich nicht als wenn es mit dem
blofsen Nachweis des fpecififchen Unterfchiedes von
theoretifchem Erkennen und Glauben gefchehen wäre:
darin hat der Verfaffer Recht, dafs nicht das Trennen,
fondern das Verbinden das letzte Wort hat. Aber das
Verbinden mufs hier im Quellort aller Erkenntnifs und
aller uns gegebenen Wahrheit gefucht und vollzogen
werden. Ferner aber habe ich einzuwenden, dafs wir
mit einem Schliefsen und Folgern aus der Heilserfahrung
nicht erreichen, was wir brauchen. Diefe Erfahrung ift
überhaupt nicht Erfahrung in dem Sinn, in welchem fonft
die pofitive Wiffenfchaft die Erfahrung zur Grundlage
nimmt: fie darf daher auch nicht irgendwie ihr analog
genommen und bearbeitet werden, wie es bei diefem
Schliefsen und Folgern gefchieht. Es war der verhäng-
nifsvolle Irrthum Franks, der in der Linie der von
Schleiermacher in feiner Glaubenslehre wirklich ausgeübten
Methode liegt, dafs er mitteilt wiffenfchaftlicher
Reflexionen über die Erfahrung der Wiedergeburt einen
Nachweis für die Gewifsheit der Glaubensobjekte erreichen
zu können meinte. Statt deffen müffen wir uns
klar machen, dafs diefe ,Erfahrung' des Chriften infofern
eigenthümlich ift, als fie nur in und mit beftimmten Er-
kenntniffen zuftande kommt, die in die Gewifsheit des
eignen Lebens aufgenommen find. Diefe fo mit dem
eigenen perfönlichen Leben verflochtenen Erkenntniffe,
die das Wort der Offenbarung gewirkt hat, find eben
der chriftliche Glaube. Der Glaube ift daher felbft ein
Erkennen. Und die Dogmatik hat wirklich nichts andres
zu thun als diefe Glaubenserkenntnifs fo klar herausgearbeitet
und fo fcharf profilirt wie es die wiffenfchaft- |

liehe Kunft irgend vermag, darzulegen, fie hat nichts zu
erfchliefsen und nichts zu folgern. Dem Glauben felbft
ift die ganze Wahrheit, mit der wir es in der Dogmatik
zu thun haben, unmittelbar gegeben.

Allein, nun weifs ich nicht, wie weit diefe Bemerkungen
wirklich den Verf. treffen. Die in einer Rede
gebotene Kürze hat ihn gezwungen, feine Gedanken
über das umfaffende Thema nur anzudeuten. Immerhin
wird es dabei, glaube ich, fein Bewenden haben, dafs
wir in den Grundgedanken zufammentreffen, in deren
Kombination und Ausführung dagegen in den eben
hervorgehobenen Richtungen von einander abweichen.

Berlin. Kaftan.

Strümpell, Prof. Ludw.( Abhandlungen zur Geschichte der
Metaphysik, Psychologie und Religionsphilosophie in Deutschland
seit Leibniz. 4 Hfte. Leipzig, Deichert Nachf.,
1896. (gr. 8.) M. 5.25; Einzelpr. M. 6.—

1. Gottfried Wilhelm Leibniz und die Hauptflücke feiner Meta-
phyfik, Pfychologie und Religionsphilofophie. (VI, 91 S.) M. 1.60.
— 2. De methodo philosophica commentatio. — Die Metaphyfik
Herbart's nach ihren Principicn und in ihrem Verlaufe gefchildert.
(64 S.) M. 1.—. — 3. Die wirklichen und wefentlichen Beftand-
theile der Welt, von denen das in ihr stattfindende Gefchehen herkommt
. — Johann Friedrich Herbart's Theorie der Störungen und
Selbsterhaltungen der realen Wefen, dargestellt nach ihrer histori-
fchen und systematifchen Begründung. — Das Problem der Caufa-
lität oder die Frage nach dem Urfprunge des Gefchehens. —- Der
Caufalitättsbegriff und fein metaphyfifcher Gebrauch in der Natur-
wiffenfehaft. (134 S.) M. 2.40. — 4. Die intellectuellen Verhält -
niffe der Welt. — Von der Schöpfung, der Erhaltung, der Regierung
der Welt und von der Vorfehung. — Gott und die Kategorien der
Endlichkeit und Unendlichkeit. (71 S.) M. I.—

Es find ältere, früher zerftreut erfchienene Abhandlungen
, die der Verf. hier gefammelt zum zweiten Mal
hat erfcheinen laffen. Die drei letzten der Reihe, die mit
einander das vierte Heft bilden (auch einzeln käuflich
für 1 M.) behandeln religionsphilofophifche Themata
und berühren das Gebiet der Theologie. Die erfte
befpricht, was der Verf. ,die intellektuellen Verhältniffe
der Welt' nennt, und bietet, von der Herbartfchen Philofophie
ausgehend, eine Art Beweis für das Dafein Gottes,
der fich mit dem teleologifchen Beweis berührt, aber
gröfser gedacht und umfaffender angelegt ift, überzeugend
freilich wohl nur für den, der vorher von der Richtigkeit
der Metaphyfik Herbarts überzeugt ift. Eben das-
felbe gilt von der zweiten Abhandlung, die ,von der
Schöpfung, der Erhaltung, der Regierung der Welt und
von der Vorfehung' handelt. Die dritte Abhandlung betrifft
,Gott und die Kategorien der Endlichkeit und Unendlichkeit
'. In ihr handelt es fich um eine Frage des
religionsphilofophifchen und theologifchen Sprachgebrauchs
, die doch wefentlich in die Sache hineinreicht.
Sie ift ein Mufter klarer und fcharffinniger Erwägung,
aus der jeder etwas lernen kann, nämlich dafs es zweck-
mäfsig wäre, wie es mit Recht heifst, den .unendlichen
Mifsbrauch' der Kategorie des Unendlichen aufzugeben.
Womit nicht gefagt fein foll, dafs aus den andern Abhandlungen
nicht auch etwas zu lernen wäre. Sie erfreuen
jedenfalls durch die klare und beftimmte Gedankenführung
, auch durch die Entfchiedenheit, mit der
fie allem, was Pantheismus heifst, entgegentreten. Allein,
da kann doch nicht mitgehen, wer an Herbarts Metaphyfik
nicht glaubt. An meinem Theil nun thue ich das
nicht, und da ich f. Z. meine Schriftftellerei mit einer
,Studie zur Kritik Herbarts' begonnen habe, in der mir,
fo lehr ich manche darin ausgefprochene Gedanken heute
im Sinn gröfserer Zuffimmung zu Herbart modifiziren
würde, die an feiner Metaphyfik geübte Kritik nach wie
vor begründet erfcheint — fo darf ich das als eine Behauptung
ausfprechen, die ich zu rechtfertigen verfucht