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Ausgabe:

1896 Nr. 6

Spalte:

166-168

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Julius

Titel/Untertitel:

Das Christentum und die Philosophie 1896

Rezensent:

Scholz, Heinrich

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I6S

Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 6.

166

yMagi', ,Alchymiften', .Schwärmer', .Rofenkreuzer' und
mit andern Schimpfnamen bezeichneten und ihnen die
Abficht beilegten, ,die Laien zu Aufruhr und Empörung
aufzuftiften' S. 76. Im Einzelnen hat Keller unter fleifsiger
Benutzung der einfchläglichen altern und neuern Literatur
Bericht erftattet über den fogen. Palmenorden S. 11—28,
über die Gefellfchaft der Drei Rofen S. 29—35, den
Strafsburger Tannenorden S. 35—37, den Blumenorden
S. 37—42, den Schwanenorden S. 42—48, eine Gefellfchaft
von Alchymiften zu Nürnberg, deren Mitglied Leibniz
1667 wurde, S. 50—55. Wir erfahren hier manche Einzelheiten
über die Begründung diefer Orden, ihren Zu-
fammenhang mit frühern und gleichzeitigen verwandten
Gefellfchaften in Italien, den Niederlanden und England,
über die Mitglieder derfelben, über das Ceremoniell ihres
Gemeinfchaftslebens, foweit uns die bezüglichen Angaben
noch zugänglich und verftändlich find, und manche
andere Einzelheiten von culturhiftorifchem Intereffe. Was
an Keller's Unterfuchungen befonders werthvoll erfcheint,
ift dies, dafs man den Zweck diefer Gefellfchaften nicht
ausfchliefslich oder vorwiegend in der Pflege der Mutter-
fprache zu fuchen hat, wie bisher vielfach angenommen
wurde, — vgl. den Namen ,Deutfche Sprachgefell-
fchaften'. Ihr eigentlicher Zweck ift in einer andern
Richtung zu fuchen. Sie erftrebten im Gegenfatz zu
dem fcholaftifchen Wiffenfchaftsbetriebe der officiellen
Vertreter der Gelehrfamkeit ihrer Zeit die Erwerbung
einer auf Beobachtung und Erfahrung an der Natur
beruhenden .Panfophie' — daher werden fie von Keller
.Akademien der Naturphilofophen' genannt — fie traten
ein für die idealen Güter der ,Erforfchung der chrift-
lichen Wahrheit, der Befferung des fittlichen Lebens, der
Pflege und Cultur des Geiftes' S. 23. Insbesondere wurde
in ihrer Mitte der Gedanke der Toleranz und der Freiwilligkeit
des Bekenntnifses gepflegt. Ihre Mitglieder,
welche faft ausfchliefslich der reformirten Kirche angehörten
oder aus dem Kreife der um ihres Glaubens
willen Verfolgten flammten, bildeten unter fleh den Gedanken
der kirchlichen Union unter den Proteftanten aus
und fliehten im Verkehre unter einander den ideell erftrebten
Ausgleich der religiöfen und Socialen Gegenfätze
auch praktifch zu verwirklichen. In diefer Beziehung find
jene Gefellfchaften ohne Zweifel als Vorläufer des Freimaurerordens
anzufehen, mit dem fie fleh ja auch in
manchen Aeufserlichkeiten bis herab auf den Gebrauch
des Schurzfelles S. 67 berühren. In anderer Beziehung
dürfen fie aber auch als die Vorläufer der Königlichen
Gefellfchaften der Wiffenfchaften gelten, wie denn die
Royal Society 1662 aus der urfprünglich freien Akademie
in London hervorgegangen und die Königliche Societät
der Wiffenfchaften in Berlin 1700 unter dem Beirathe
von Leibniz geftiftet wurde, welcher, wie berichtet, felbft
einer freien Akademie in Nürnberg angehört hatte. Mit
Recht macht aber Keller darauf aufmerkfam, dafs diefe
Königlichen Inftitute von Anfang an dadurch einen
wefentlich andern Charakter als die älteren erhielten,
dafs jene ,fich zu Gelehrtengefellfchaften im engeren
Sinne geftaltetetr, diefe aber in erfter Linie ,eine Lebensund
Gefinnungsgemeinfchaft darfteilen wollten' S. 55.

Ich breche des Raumes wegen hier ab. Das Mitge-
theilte wird genügen, um das Bedeutungsvolle diefer neuen
Keller'fchen Arbeit für unfere genauere Kenntnifs des
geiftigen Lebens im 17. Jahrh. zu verdeutlichen und zum
Studium derfelben anzuregen. Gewifs laffen fich die hier
gebotenen Ergebnifse gefchichtlicher Unterfuchungen in
dem einen oder andern Punkte noch ergänzen. So wäre
es z. B. erwünfeht gewefen, wenn der Verf. auch den
Spuren des Miffionsintereffes nachgegangen wäre, auf das
wir in diefen Akademien treffen, zu deffen Belebung
z. B. Juftinianus v. Weltz 1664 e'ne Sonderbare Gefellfchaft1
zu gründen gedachte, und dem Leibniz u. A. in
den Statuten der Berliner Societät der Wiffenfchaften
Ausdruck gab. Aber der Verf. fagt felbft, da es bisher

an einer zufammenfaffenden Darfteilung der Gefchichte
der Akademien gefehlt, fei es .unmöglich, gleich beim
erften Anlauf eine vollftändige Klarftellung zu geben'.
Dem wird man zuftimmen können und dem Verf. dann

i um fo dankbarer für das fein, was er uns hat bieten

i können und hier geboten hat.

Göttingen. K. Knoke.

1. Harnack, Prof. D. Adf., Das Christentum und die Geschichte
. Ein Vortrag. Leipzig, Plinrichs, 1895. (20 S.
gr. 8.) M. —. 50

2. Kaftan, Prof. D. Jul., Das Christentum und die Philosophie
. Ein Vortrag. Leipzig, Hinrichs, 1895. (26 S.
gr. 8.) M. —. 50

Die chriftliche Apologetik hat zuweilen an die Praxis
jenes Hausbefitzers erinnert, der fein fichtlich verfallendes
Grundftück mit hohen Worten anpries, auch fich auf
das übereinftimmende Zeugnifs der früheren Bewohner
berief und, als er keinen Glauben mehr fand, zu der
desperaten Verficherung fortfehritt, das Haus fei grundbuchlich
gegen Abbruch gefchützt und überhaupt unver-
aufserlich. Er hätte das Grundftück ausbauen follen, um
die Gegner zum Schweigen zu bringen. Ohne Bild geredet
, hat die wiffenfehaftliche Vertheidigung des Chriften-
thums fich öfters darin übernommen, dafs fie zu Vieles
in ihre Vorausfetzungen aufnahm, was erft zu beweifen
war, und dann doch wieder vorgab, vorausfetzungslos
fo ziemlich Alles bewiefen zu haben. Dabei täufchte
fie fich felbft in der Erwartung, was bewiefen fei, werde
eben darum auch hinreichen, die Menfchen zu bekehren.

Wie viel befcheidener geben fich die vorliegenden
Vorträge von Harnack und Kaftan! Aber fie leiften
wirkliche Dienfte, indem fie fich auf das Erreichbare be-
fchränken und vorfichtig die Linie der Verftändigung
innehalten, ohne den Anfpruch auf Bekehrung in directer
d. h. intellectualiftifcher Weife geltend zu machen. Es
foll erhärtet werden, dafs das Chriftenthum keine Winkellehre
, fondern der Anlage nach Weltanfchauung für Alle
ift, nämlich berechtigte, ja unter gewiffen Bedingungen
fich als nothwendig aufdrängende Weltanfchauung.

Harnack ftellt für feinen Zweck eine Unterfuchung
über den Werth der Perfönlichkeit in der Gefchichte an
und findet, dafs der moderne Entwickelungsgedanke, der
eine demokratifche Neigung zum Nivelliren hat, mit Unrecht
die ragenden Häupter und fcharf gefchnittenen
Profile perfönlichen Lebens in der Gefchichte verwifcht.
Dadurch wird Raum für die Perfönlichkeit Jefu. Es giebt
aber keinen hiftorifch oder anderswie zu ermittelnden
Gattungsbegriff für die Perfönlichkeit, der ihr im Voraus
Mafs und Ziel fetzte, fondern fie ift in jedem einzelnen
Fall das, was fie ift und fein kann. Demnach liegt nichts
Gefchichtswidriges in der Annahme, in der die Bekenner
des Chriftenthums einig find, dafs die Perfönlichkeit Jefu
alle Anderen überrage, einzigartig und darum gebietend
fei. Jedoch erhebt fich die Frage, wie das Gebieterifche
in Jefus bis in die Gegenwart als fortwirkend zu denken
ift, ob als Summe feiner Ideen oder als deren urbildliche
Verkörperung. Harnack entfeheidet fich für das Letztere.
Die blofse Fortwirkung von Ideen oder Lehren reiche
nicht aus, um das zu gewähren, was das Chriftenthum
feinen Anhängern verheifse, nämlich den vollen Frieden
zwifchen Idee und Willen einerfeits, Idee und Wirklichkeit
andererfeits. Wie komme ich dazu, das Gute, das
ich erkenne, auch zu wollen? und wenn ich es will und
| thue, wer bürgt dafür, dafs diefes Gute mehr als ein
Traum, dafs es der tragende Grund und die waltende
Ordnung der ganzen Welt ift? Hier fpringt der Factor
des perfönlichen Vertrauens, durch welches Jefus der Men-
fchenfeele nahekommt und ihr als Helfer und Bür^e unentbehrlich
wird, mit fittlicher Nothwendigkeit hervor.
Das Schlufsftück der Erörterung bildet ein Abrifs über