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Ausgabe:

1896 Nr. 5

Spalte:

145-146

Autor/Hrsg.:

Smend, Jul.

Titel/Untertitel:

Feierstunden. Kurze Betrachtungen für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. 2. verb. Aufl 1896

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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145 Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 5. 146

der antiken Mufik, über welches wir verfügen, ausreicht,
einen eigentlichen Beweis zu führen. Was mit dem
Material gemacht werden kann, hat G. unteres Erachtens
geleiltet. Ob man feinen Ergebnifsen mehr zugeftehen
wird, als gröfste Wahrfcheinlichkeit, wird man abwarten
müffen.

2. Sodann wird es darauf ankommen, ob man die
Grundvorausfetzung G.'s zugiebt, nach welcher die prägnanten
, einfach fyllabifchen Gefänge die älteften, die
melismatifch verbrämten die zweifellos fpäteren find.
Diefer Anfchauung fteht eine andere gegenüber, welche
die melismatifch-reichen Melodien für die urfprünglichen,
ebenfo dem üppigen Schöpfertrieb des jungen Chriften-
thums, wie der Heimath des Kirchengefangs (Syrien)
entfprechenden hält und in der Kürzung und Vereinfachung
, welche der antiphonifche Gefang in Rom erfuhr, die
Frucht bewufster Stilifirungsarbeit lieht, wie fie ja auch
den liturgifchen Hervorbringungen dort zu Theil wurde.
Der auf Prägnanz und Gravität gerichtete römifche Geift
hat überall das Rankenwerk befchnitten. Uns fcheint
es vor allem, um Klarheit zu gewinnen, nothwendig, der
Herkunft der fog. Jubilationen1) nachzugehen. Sind diefe
oft bis zu 50 Tönen umfaffenden Ton-Reihen urfprüng-
lich das gewefen, wofür man fie fpäter kirchlicherfeits
erklärt hat, textlofe Ergiefsungen des überftrömcnden
chriftlichen Empfindens, ein mufikalifches Analogon der
Gloffolalie? Oder find fie nicht gleichfalls Refte alter
Melodien, die über den Text (Halleluja) überfchiefsen-
den Töne der urfprünglich mit anderen Texten ver-
fehenen Melodien, die zu dem Halleluja genommen, auf
dasfelbe gleichfam ganz äufserlich aufgenäht worden
find? Wäre dem fo, dann wären diefe über den Halle-
lujatext überfchiefsenden Melodien der Beweis dafür,
dafs man einen andern als fyllabifchen Gefang anfangs
nicht gekannt hat, weil man fbnft fämmtliche Töne unter
den Text gebracht hätte. Ob der Beweis erbracht werden
kann, bezweifeln wir bei dem Mangel an Anhaltspunkten
.

Giefsen. H. A. Köftlin.

Smend, Prof. D. Jul., Feierstunden. Kurze Betrachtungen
für die Sonn- und Fefttage des Kirchenjahres. 2. verb.
Aufl. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1895. (VIII,
302 S. 8.) Geb. M. 4. —; m. Goldfehn. M. 4. 50

Dafs Smend's Feierftunden fchon nach drei Jahren
eine zweite Auflage erleben, ift ein erfreulicher Beweis
dafür, dafs es doch auch unter den Gebildeten eine nicht
unbeträchtliche Anzahl folcher giebt, einmal die überhaupt
noch das Bedürfnifs nach religiös-erbaulicher Leetüre
empfinden, und die ferner hiebei mehr auf gefunde reli-
giöfe Nahrung als auf Parteifchlagwörter und üblich gewordene
Redensarten fehen. Es fcheint, man mufs nur
den richtigen Ton treffen, fo findet fich auch für derartige
Literatur in unferer Zeit ein Publicum. Wenn .der Verf.
diefe zweite Auflage als eine vrrbefferte bezeichnet und
im Vorwort befonders betont, dafs keine der Betrachtungen
,völlig unverändert geblieben' fei, fo ift deshalb
doch an durchgreifende und wefentliche Veränderungen
nicht zu denken. Einige Proben haben mich überzeugt,
dafs es fich nur um kleine, ziemlich belanglofe Zufätze
oder Modificationen handelt. Ich finde das auch ganz
in der Ordnung. Das Buch hat fich feine Freunde in
derjenigen Geftalt erworben, welche ihm in der erften
Auflage eigen war. Auf ihr beruht feine Eigenthümlich-
keit; diefe durfte nicht verwil'cht werden. Handelt es
fich doch nicht um ein wiffenfehaftliches Werk, welches
mit der theologifchen Entwickelung voranzufchreiten
hätte, fondern um Befriedigung religiöfer Gemüthsbedürf-
nifse, die heute nicht anders fein werden als vor drei

1) die mit den Gefangs-Vcrzierungen nicht zu verwechfeln find!

Jahren. Und fo hat der Verfaffer recht daran gethan,
dafs er auch diejenigen Defiderien, welche in der Anzeige
der erften Auflage (Theol. Lit.-Zeitung 1892, Nr. 25) aus-
gefprochen wurden, nicht berückfichtigt hat. Das Mehr
von Theologie, die beftimmtere Anfchauung von gewiffen
Ereignifsen oder Dogmen (Oftern, Trinität), die ich dort
gewünfeht hatte, ift offenbar durch das Bedürfnifs der
Lefer, die die erfte Auflage gekauft haben, eben nicht
gefordert. Hierin find die Menfchen nun einmal ver-
fchieden, und der verftändige Seelforger — als folchen
darf man Smend wohl bezeichnen — kann nichts befferes
thun, als auf diefe Verfchiedenheit Rücklicht nehmen,
und, wenn er literarifch wirkt, fich eben auf dasjenige
Gebiet verlegen, welches für feine Begabung und Neigung
das geeignetfte und fruchtbarfte ift. Der Verf. hat hier
das feinige mit ficherem Griff getroffen. Hier ift er Meifter.
Wer mehr eigentliche Belehrung fucht, mag fich anderswohin
wenden. Ich kann nur feftftellen, dafs mir bei
erneuter Leetüre derfelbe erfreuliche Eindruck wie das
erfte Mal geworden ift — trotz jener Defiderien. Und
fo wünfehe ich, ftatt zu wiederholen was ich früher ge-
fagt habe, diefer zweiten Auflage, die durch ein Ver-
zeichnifs der verwendeten oder umfehriebenen Schrift-
abfehnitte und -Stellen bereichert ift, einen gleich glücklichen
Erfolg wie ihn die erfte gehabt hat.

Heidelberg. Baffermann.

Simons, Priv.-Doz. Lic. Ed., Freikirche, Volkskirche, Landeskirche
. Vorträge, auf dem evangelifch-theologifchen
Ferienkurfus zu Bonn, Auguft 1895, gehalten. Freiburg
i/B., J. C. B. Mohr, 1895. (III, 59 S. 8.) M. f.—

Der Verfaffer verfolgt, wie er felbft fagt, mit diefen
feinen Vorträgen nicht die Abficht, für ein kirchenpoli-
tifches Programm zu werben, fondern er will nur über
den gegenwärtigen Stand wiffenfehaftlicher Unterfuchung
des durch den Titel bezeichneten Gebietes Bericht er-
ftatten. Er Hellt zunächft die Begriffe: Freikirche, Volkskirche
, Landeskirche feft, und zwar thut er es hauptfächlich
im Anfchlufs an Achelis, deffen Darlegungen er jedoch
in einigen Punkten zu ergänzen und fortzubilden
fucht. Mit dem Genannten unterfcheidet er zwifchen
Freikirche im religiöfen und im kirchenpolitifchen Sinn.
Freikirche im religiöfen Sinn ift foviel als .Freiwilligkeitskirche
', d. i. eine Kirche, die keine geborenen Mitglieder
kennt, fondern nur folche, die fich aus freier und felbftän-
diger Ueberzeugung ihr anfchliefsen. Freikirche im kirchenpolitifchen
Sinn ift dagegen diejenige Kirche, die vom
Staat unabhängig ift, ihre Verwaltung und Regierung felb-
ftändig vollzieht. Zur Freikirche im religiöfen Sinn fteht
im Gegenfatz die Volkskirche d. i. ,eine folche religiöfe
Gemeinfchaft, welche geborene Mitglieder hat'. So de-
finirt nämlich Achelis. Simons aber glaubt, wohl nicht
mit Unrecht, diefem Merkmal noch andere hinzufügen zu
müffen. er fagt, zum Begriffe der Volkskirche gehöre
auch, dafs fie Intereffe nehme am Volk als Ganzem, und
nicht blofs das, ,fondern dafs fie, mit feiner Gefchichte aufs
engfte verwachfen, ja fie felbft ein Theil feiner Gefchichte,
fich eine volkserzieherifche Aufgabe fetze, auf das Volk
als Ganzes einwirken, am Volksganzen arbeiten wolle'.
Denkbar wäre es nun wohl, dafs die Volkskirche in
Geftalt der Freikirche (im kirchenpolitifchen Sinn) exi-
ftirte. Aber thatfächlich ift es nicht der Fall. Sondern
die Volkskirche erfcheint der gefchichtlichen Betrachtung
in der Geftalt der Landeskirche bezw. Staatskirche. Doch
mufs auch zwifchen Landeskirche u. Staatskirche wieder
unterfchieden werden. Zum Begriff der Landeskirche
gehören (wieder nach Achelis) zwei Momente: das Zu-
fammenfallen der Landesgrenzen mit den Grenzen der
Kirche und die ftaatliche Beaufsichtigung der Kirche, bezw.
die Vermifchung des Staates und der Kirche. Aber diefe
Vermifchung kann in verfchiedenem Grade ftattfinden.