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Ausgabe:

1896 Nr. 4

Spalte:

108-110

Autor/Hrsg.:

Görigk, Emil

Titel/Untertitel:

Johannes Bugenhagen und die Protestantisierung Pommerns 1896

Rezensent:

Bossert, Gustav

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107 Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 4. 108

der Widerfpruch, welcher von den verfchiedenften Seiten
gegen Keller's fchöne Gemälde von den altevangelifchen
Gemeinden erhoben wurde, nur zu gegründet ift. Mag
auch Ritfchl's Hypothefe von einem Zufammenhang des
Anabaptismus mit den Tertiariern des Franciskanerordens
zu weit gehen, wahr bleibt doch, dafs im Anabaptismus
die mönchifchen Heiligkeitsideale Wiederaufleben. All
die lebhaften Verhandlungen, die Keller's Anfchauung
hervorrief, find Müller unbekannt geblieben; erft am Schlufs
machen ihm Stähelin's ,Huldreich Zwingli' und Baur's
Theologie Zwingli's Bedenken, über die er allzu leicht
hinweg geht. Und doch ift nirgends ein klarer Zufammenhang
mit der mittelalterlichen Oppofition zu erkennen.
Der von Müller als ,geiflreicher Theologe' gerühmte
Michael Sattler leitet feine Ueberzeugung von Paulus her.
Ganz unberückfichtigt läfst Müller die Berührung der
Züricher mit Thomas Münzer (Egli /. c. 19) und Karl-
ftadt's Schriften (Bl. f. w. K. G. 1889, S. 81). Wenn Müller
S. 54 behauptet, ,in den wenigen Jahren feit Erfcheinen
der Reformationsbibeln gewinne der Bauer nicht die
Bibelkenntnifs, die den gelehrten Prädicanten matt fetze',
fo vergifst er felbft die von ihm citirte Warnung Egli's
vor Ueberfchätzung des Anabaptismus S. 16. Der gröfste
Theil der Täufer beftand aus fehr einfachen Leuten mit
befcheidener Erkenntnifs. Sodann hat der Memminger
Kürfchner Seb. Lotzer in ganz kurzer Zeit eine erftaun-
liche Bibelkenntnifs gewonnen, die er einzig Luther verdankt
. Vgl. Bl. f. w. K. G. 1887, Nr. 4 ff. Müller hätte gut
daran gethan, fich auf die Berner Täufer zu befchränken
und die allgemeinen Betrachtungen wegzulaffen. Dort
ift er daheim, hier unficher. Da läfst er fich zu gewagten
und fchiefen Urtheilen hinreifsen. Z. B. S. 57 Karl der
Grofse habe die arianifchen Reiche der Burgunder, Weft-
gothen und Longobarden unterworfen, S. 4 Melanchthon
habe den Grundfatz erbannungslofer Vertilgung der
Täufer nicht nur ausgefprochen, fondern auch ausführen
helfen, S. 3 Juftus Menius behandle jeden Widerfpruch
gegen Luther als Gottesläfterung, S. 159 die Schweizer
Täufer haben an die niederländifchen 1522(1) einen Brief
gefchrieben. Reiblin ift nicht aus Rottenburg, fondern
von Lauffenburg und Bafel nach Wytikon gekommen
S. 15. Dafs die Begründung der Mafsregeln der vier Orte
Zürich, Bern, Bafel, Konftanz gegen die Täufer mit
Gräueln der Täufer in Gmünd auf einer infamen Lüge
Ferdinand's beruht, hätte Müller aus Zwingli's Anbringen
an den Burgertag in Bafel (Simler'fche Sammlung
Band 24) fehen können. Vgl. Württb. Viertelj.-Hefte 1881,
S. 181.

Was Müller für die Gefchichte der Berner Täufer
bietet, ift durchaus beachtenswerth. Man fieht, wie der
Berner Petz gewaltig die Tatzen braucht. Die geftrengen
Herren Republikaner fahren viel fchärfer drein, als z. B.
die Herzoge von Württemberg und nehmen es mit der
Todesftrafe faft fo leicht, als die katholifchen Fürften.
Man hat auch im evangelifchen Württemberg wie in Bern
die Täufer des Landes verwiefen, ihr Vermögen für die
Erben eingezogen, unfägliche Mühe an die Verwaltung
diefer Güter und an die freundliche Belehrung der Täufer
durch die höchften Staatsbehörden gerückt, und die un-
gehorfam Wiederkehrenden eingefperrt, befonders Lehrer,
aber kein Blut vergoffen. Bern aber fchickt Täufer gar
zu katholifchen Herren auf die Galeeren, wie die ge-
meinften Verbrecher. Man fieht daraus, wie grofs die
Gefahr fchien, welche einem Staat mitten zwifchen Katholiken
drohte, wo Unterthanen den Eid und die Wehrpflicht
verweigerten. Erfreulich ift, dafs die Theologen
immer wieder zu milderem Verfahren riethen, und auch
fonft die Stimme der Menfchlichkeit aus dem Mund von
Herner Grofsen erfcholl. Grofs find die Anftrengungen,
welche von Seiten der Niederlande, theils von den
Generalftaaten, theils von einzelnen Kirchen, befonders
aber den Mennoniten zu Gunften der Täufer im Canton
Bern gemacht werden. Man fieht, wie bedeutend der

Einflufs der Mennoniten in den Niederlanden war. Rührend
ift ihre Opferwilligkeit zum ßeften der Opfer der Berner
Staatsraifon, die noch zuletzt mit Deportationen fich der
für den Staat unverdaulichen Elemente zu entledigen
fucht und doch damit nicht zum Ziele kommt. Denn
in den einfamen Thälern der Alpen und den grofsen
weitverzweigten Pfarreien, die eben keine Seelforge-
gemeinden waren, können fie fich aller Polizei zum Trotz
erhalten. Müller geht den vertriebenen Berner Täufern
bis in die Pfalz, die Niederlande, nach Preufsen und
Amerika nach. Ueberall gewinnen fie fich als Coloniflen
und Pächter Vertrauen, felbft bei den Fürftbifchöfen von
Bafel, welche dem Drängen der Berner und ihrer eigenen
Unterthanen trotzend den Täufern in ihrem Gebiet Zuflucht
gewähren, weil fie ihren Fleifs und ihre Redlichkeit
fchätzen. Intereffant ift die Schwierigkeit, welche
es den Staats- und Kirchenbehörden bereitet, fich in die
Glaubensfreiheit zu finden, welche der grofse Umfchwung
der Dinge mit der franzöfifchen Revolution und der
helvetifchen Republik brachte. Man athmet ordentlich
auf, dafs endlich den Stillen im Land, die fo viel Glaubenstreue
und Heldenfinn im Dulden bewiefen, Ruhe und
Frieden geworden. Eine andere FYage ift, ob fie ihre
Ideale erreicht haben. Schon die Spaltungen, von denen
Müller berichtet, reden eine beredte Sprache.

Bei allen formellen Ausftellungen fcheidet Ref. mit
Dank von dem gehaltreichen Buch.

Nabern. G. Boffert.

Görigk, Subdiac. Emil, Johannes Bugenhagen und die Pro-
testantisirung Pommerns. [Aus: ,Der Katholik']. Mainz,
Kirchheim, 1895. (IV, 91 S. gr. 8.) M. 1. 20

Auf dem Umfchlag der kleinen Schrift, welche ein
Separatabdruck aus der Zeitfchrift ,Katholik' ift, fleht
eine Anzeige von G. Evers, Martin Luther; das pafst
recht gut. Es ift diefelbe Tendenz, die Reformatoren
herunterzumachen. Für Schmähfchriften Luther's ift der
Markt allmählich fchlecht geworden, Majunke ift felbft
von Nie. Paulus verleugnet worden, und gegen .Luthero-
philus' fchweigt man auf der ganzen Linie des Ultramontanismus
, aber vielleicht mochte das Gefchäft bei
den Reformatoren zweiter Ordnung beffer gehen. Görigk
will an Bugenhagen zum Ritter werden. Die Mache ift
ganz diefelbe, wie bei Janffen und feinen Nachtretern.
Janffen's verderblicher Einflufs auf die katholifche Ge-
fehichtsfehreibung trägt jetzt fchon bittere Früchte. Der
letzte Reft des Vertrauens zu diefen Geiftern verliert fich
vollends rafch.

Görigk ift Mofaikarbeiter wie Janffen. Selbftändige
Forfchung darf man bei ihm nicht fuchen. Aber er hat
fich nicht einmal die Mühe gegeben, der neueren Literatur
genau nachzugehen. Sillem's fchöne Schrift über
die Reformation in Hamburg benützt er nicht, die be-
achtenswerthen Beiträge zu Bugenhagen's Biographie in
den Studien und Kritiken 1889 S. 793 ff. kennt er nicht.
Dafs Tfchackert's Urkundenbuch der Reformation in
Preufsen ihm Einiges z. B. für Danzig böte, ahnt er nicht.
In der leichtfinnigen Angabe der Quellen leiftet er noch
mehr, als Janffen. S. 26 Anm. 2 citirt er Hering S. Iii,
während er in Wahrheit Zitzlaff S. 92 ausfehreibt. S. 13
behauptet er, Melanchthon habe Luther wegen persönlich
erlittener Mi fshandlungen (am Ende gar Prügel!)
mit dem Demagogen Cleon und dem wüthenden Herkules
verglichen und citirt in gröfsefter Naivetät als
Quelle , Melanchthon epist. ad Theodorum und Loc.
I comun. (!!) 5, 310'. In den Briefen Melanchthon's an
Veit Dieterich fteht nichts davon, natürlich noch weniger
in den Loci communes. Blindlings fchrieb Görigk aus
Döllinger und Janffen ab. Janffen hatte fchon den Ver-
I gleich Luther's mit Cleon beigebracht und dafür als
| Quelle C K. 3, 594 und 6, 879 citirt. C. R. 6, 879 fteht