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Ausgabe:

1896 Nr. 3

Spalte:

86-87

Autor/Hrsg.:

Stosch, Georg

Titel/Untertitel:

St. Paulus, der Apostel 1896

Rezensent:

Deissmann, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 3.

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nicht blofs an der Tagesordnung waren, fondern auch
einervon der heutigen verfchiedenen fittlichcnBeurtheilung
anheimfielen. Gerade dafür werden wir nunmehr von
einem Philologen hart angelaffen und bekommen Urtheile
zu hören, welche, wenn wir fie formuürt hätten, uns von
philologifcher Seite ohne Zweifel eine Verwarnung eingetragen
hätten ob des einfeitig theologifchen Gefichts-
winkels der Betrachtung. Man follte denken, es gebe
ernflhafte, namentlich auch für ein philologifch gefchultes
Urtheil fchwer wiegende Gründe, die Paftoralbriefe aus
der Zahl der echten Paulusbriefe auszufcheiden. Unferem
Verf. find diefe Stücke S. 24. 31 fragelos echt; denn fonft
wären fie ja S. 2 a falsario conficta omniaque quae de
Timotheo aliisqtic hominibus insunt impudcnter emenlita.
Was foll man von Theologen halten, welche S. 37 tota
scripta mendacii accusare flocci non faciant? Aber wir
haben es ja nicht mit den Paftoralbriefen, fondern mit
der Apoftelgefchichte zu thun, die gar keinen Autornamen
nennt und vor 170 kaum als eine Schrift des aus dem
N.T. bekannten Lucas gegolten hat, wenn auch die feit-
her nachweisbare Tradition, die fie ihm zufchreibt, felbft
nach den Aufteilungen der ,Theologen' eines foliden
Anhaltspunktes nicht entbehrt, fofern Lucas wenigftens
der Verfaffer des darin verarbeiteten Reifeberichtes ift.
Unferem Verf. zufolge ift auch das freilich nur die
Meinung von Menfchen, welche S. 3 h pro Luca anony-
mum quendam falsarium sibi confinxerunt, und fo wird
denn auch in der kurzen Abfertigung, deren fie S. 7 f. gewürdigt
werden, das immer wiederkehrende Wort /raus
als Haupttreffer ausgefpielt. Aber Lügner, wie den Verfaffer
der Historia Prochori oder des Petrusevangeliums
foll man S. 7. 31 daran leicht erkennen, dafs fie offen
und dumm lügen. Behaupten, die Paftoralbriefe feien unecht
, heifst behaupten, fie rühren von einem ingenium
mediocre her; Letzteres aber ift undenkbar. Das foll
diejenige Kritik fein, welche unter des Verf.'s Fachgenoffen
zur Geltung gekommen ift, postquam magis adulta est
liaec philologia nostra, während die Theologen diefer
Philologie nur dasjenige abgelernt haben follen, was fie
einft verfchuldete, als fie noch in den Kinderfchuhen
wandelte Jtaque erit fortasse tempus, quo nos, Schlie-
manui et Docrpfeldi immortalibus meritis tandem meliora
edocti, Troiam credetuus a Graccorum exercitu captaui dele-
tamqucesse,praefuisseeiexcrcituiAgamemnonemMycenarum
regem, si dis placct etiam Heienatu fuisse causam belli,
Uli contra pergent quae in cvangeliis et Actis scripta sunt
pleraque pro falsis habere, suis inventis nebulosis confidere'
(S. 30). Man fragt erftaunt, auf welche Sorte heutiger
Evangelienkritik (vgl. S. 6 qui nunc plorent et auetoritate
polleni) diefe monftröfe Anklage gemünzt fein folle. ,Soll
die Parallele irgend welchen Werth haben — meint überdies
E. v. D. S. 601 — fo wird man den Nachweis erwarten
dürfen, dafs die Gefpräche der homerifchen
Götter und Helden in hiftorifch treuer Wiedergabe vorliegen
'. So wird es am Ende auch blofs an unferer
ungläubigen Schwerfälligkeit liegen, wenn keiner von uns
mehr mit Bl. S. 25 den Codex Amiatinus in das 6. Jahrhundert
fetzt, nachdem fchon vor 8 Jahren zu Tage gekommen
ift, dafs er vielmehr im Jahr 715 in einem north-
umbrifchen Klofter gefchrieben und dem Papft zum
Gefchenk gemacht worden ift. Einftweilen halten wir
jedenfalls dafür, dafs z. B. die gefchichtlichen Schwierigkeiten
, welche den Theologen angefichts eines Berichtes
von 21, 24 auf das gefchichtliche Gewiffen gefallen find,
damit nicht aus der Welt gebracht find, dafs der philo-
logifche Commentar einfach darüber hinweggeht.

Doch liegt es uns fern, ungerecht gegen eineLeiftung
darum zu fein, weil fie uns nicht gerecht wird. Diefelbe
ift nicht blofs von Bedeutung, weil fie eine neue text-
kritifche Combination vertritt und für die Exegefe fruchtbar
macht, fondern vor Allem als förderlicher Beitrag
zu der genaueren Kenntnifs des neuteftamentlichen
Sprachidioms. In diefer Richtung bringen ;j 8 und $ 9

der Einleitung, ferner zahlreiche Stellen des Commentars
und fchliefslich der von G. Reinhold gefertigte Index
'cerborum S. 301—334 ein Material, deffen Verarbeitung
der neuteftamentlichen Grammatik und Hermeneutik zu
Gut kommen wird. Auf diefem Punkte bewährt fich das
Buch ganz und voll als Editio philologica und wird um
fo mehr gefchätzt werden, als auch innerhalb der Philologenwelt
felbft gerade der Verf. durch feine vorzügliche
Vertrautheit mit dem für das N.T. in Betracht kommenden
Theil der reichen Entwickelungsgefchichte des Grie-
chifchen zu einer mafsgebenden Leiftung ganz befonders
berufen war. Nur fein apologetifches, Philologen würden
vielleicht geradezu fagen: fein theologifches Intereffe
erklärt ein Urtheil, wie S.Ii ,sed quid Lucae cum historicis
Graecis Romanisve, quos eum lectitassc vel aemulatum
esse ne minimum quidem exstat indiciunA1 Er felbft
weifs fehr wohl die Kunft des Schriftftellers zu rühmen
als eine folche ,quae Graeco Romanove scriptore rerum
non indigna sit1 (S. 13), daher wohl auch nicht allein
über der Leetüre von LXX erworben fein wird; man vgl.
nur S. 19 Jeetiora quaedam undecumque e libris graecis
petita vel ex consuetudine doctiorum hominum exceptar.
War der Apoftelgefchichtfchreiber möglicher Weife fogar
im Homer belefen S. 19 = 282, fo fieht man nicht ein,
warum er fein Vorwort nicht nach dem Mufter der Vorrede
des Dioskorides von Anazarbus gehaltet haben
follte, wofür doch deLagarde und Joh. Weifs frappante
Beobachtungen geltend machen. Ich will hier die Jofe-
phus-Frage nicht wieder zur Sprache bringen, fondern
nur zum Schluffe noch bemerken, dafs die nach vielen
Vorgängern zuletzt noch von C. Clemen S. 338 f. vertretene
Annahme, wonach der bekannte Irrthum 5, 36. 37
einer vagen, aber doch noch in den gewählten Ausdrücken
erkennbaren Erinnerung an Joseph. Ant. 20, 5, 1
entflammt, ungleich natürlicher und ungezwungener er-
fcheint, als die Verlegenheitsauskunft von Bl., der Name
Theudas fei von einem Chriften in den Jofephustext
fperpera/u illatum' (S. 89).

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Stosch, Georg, St. Paulus, der Apostel. Eine apologetifche
Studie. Leipzig, Verlag der Akadem. Buchh. (W. Faber),
1894. (VII, 232 S. gr. 8.) M. 3. -; geb. M. 3. 75

Weshalb das Buch eine ,apologetifche' Studie genannt
ift, wird bei der Leetüre nicht klar. Als apologetifche
Studie wird es fchwerlich einen tiefen Eindruck machen,
am wenigften bei den radicalen Kritikern der Gefchichte
des apoftolifchen Zeitalters. Sie werden zweifellos nur
die Ueberzeugung gewinnen, dafs die Combinationsgabe
Stofch's der ihrigen an hochgradiger und ungebändigter
Expanfionskraft nicht nachfteht. Hat doch über die Methode
des Verf.'s gelegentlich der Befprechung eines feiner
anderen Werke (Die Augenzeugen des Lebens Jefu,
Gütersloh 1895) felbft der confervative Recenfent im
,Theolog. Litteraturbericht' (1895 S. 328), Pfarrer Kluck-
huhn in Rofperwende, das herbe und furchtlofe Urtheil
abgegeben, fie erneuere alle Künfte und Kniffe einer
überwundenen Harmoniftik, die überall das Gras wachfen
höre und blendende Irrlichter tanzen laffe. Es wäre
nicht fchwer, auch aus der vorliegenden Schrift manches
Eündlein eines phantaftifchen Spürfinnes herauszuheben.
Aber ich meine, man beginge an dem Verf. ein Unrecht,
wenn man die liebenswürdigen Sonderbarkeiten feiner
literarifchen Erfcheinung kritifch zerzaufen wollte, zumal
fich diefelben gewöhnlich recht befcheiden äufsern. Eine
hiftorifch-kritifche Unterfuchung ift fein Werk nicht, wohl
aber eine im guten Sinne populäre Darftellung des Lebens
des Paulus. Und als folche wird es feinen Weg machen.
Ich habe, obwohl ich jedenfalls einen anderen literar-
kritifchen Standpunkt einnehme, viele Partien mit innerer
Freude gelefen, gefeffelt von der frifchen und inter-
effanten, oft geradezu edelen Darftellung. Das Buch ift