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Ausgabe:

1896

Spalte:

690-691

Autor/Hrsg.:

Seeberg, Reinhard

Titel/Untertitel:

Gewissen und Gewissensbildung. Ein erweiterter Vortrag 1896

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Verkündigung Jefu mit dem paulinifchen Wort vom
Kreuze zu einer inneren Einheit zufammen. Hienach beantwortet
fich unferem Harmoniften auch die Frage:
,wie ift der chriflliche Glaube entftanden? entfteht er
heute noch ebenso, und bedarf es heute noch derfclben
Verkündigung um ihn zu bewirken?' Es ift nicht der
Eindruck des in feinem Wort und Wirken fich erfchlies-
senden Perfonlebens des gefchichtlichen Jefus, welcher
den Glauben gewirkt hat und denfelben noch fortwährend
hervorruft, begründet und trägt; nur die Bot-
fchaft von dem gekreuzigten und auferftandenen Herrn
und Erlöfer hat diefes Wunder gethan, fie mufs es auch
heute noch thun. Wie aber? Läfst fich denn diefe Bot-
fchaft von jenen Vorausfctzungen trennen? Wäre diefe
Trennung nicht gerade für uns Nachgeborene verhäng-
nifsvoll? Ift uns etwa die Auferftehung Jefu eine durch
lieh felbft redende, einfach felbftverftändliche Thatfache?
Könnten wir mit derfelben einfetzen, indem wir abfehen
würden von dem Gefchichtsbild deffen, der uns den
Glauben an das ewige Leben und an die allmächtige
Liebe des himmlifchen Vaters abgewonnen hat? Was
wäre unfer Glaube an den lebendigen Herrn, wenn er
fich nicht immer aufs Neue ftützte auf die Erfchcinung
deffen, der uns Worte des Lebens gebracht und deffen
Geift wir als den Geilt Gottes erfahren und erleben?
Gewifs, in Cremer's Vorträgen nehmen wir den kräftigen
Pulsfchlag echten chriftlichen Glaubens wahr, aber hat
er das evangelifche Verftändnifs diefes Glaubens auf
einen glücklichen, zutreffenden Ausdruck gebracht,
wenn er erklärt: ,Dafs mit Jefu der Vater eins ift, können
wir glauben, — nein wir brauchen es nicht zu glauben,
wir wiffen es' (S. 87). So lange über das Wefen des
evangelifchen Heilsglaubens folche Reden im Schwange
gehen, dürfte es schwer fein, den Grund aufzuweifen,
warum unfer Glaube gottgewirkter Heilsthatfachen bedarf.

3. Das dem Jahresbericht (1895 — 1896) des theo-
logifchen Seminariums der Brüdergemeinde beigegebene
Programm des derzeitigen Directors, P. Kolbing, gilt der
als der Kernpunkt des gegenwärtigen Streites um die
Bibel bezeichneten Frage nach der normativen Bedeutung
der h. S. für die chriflliche Glaubenserkenntnifs. Seinen
eigenen Ausführungen fchickt der Verf. eine eingehende
Darftellung des Problems voran, wobei er die Löfungs-
verfucheKubel's, Haupt's,Grunsky's,Kaftan's, M.Schulze's,
Kaehler's, Häring's, Köftlin's lichtvoll und gedrängt zu-
fammenfafst. Die Nothwendigkeit einer gründlichen Cor-
recturder altorthodoxen Infpirationstheorie ist der grofsen
Mehrzahl der Theologen in der Gegenwart zu klarem
Bewufstfein gekommen; mit diefer Correctur geht aber
Hand in Hand irgendwelche Umgeftaltung des orthodoxen
Glaubensbegriffs und weiterhin auch des Offenbarungsbegriffs
der'alten Dogmatiker; daher unternimmt es K.
zunächft, das Verhältnifs des Denkens zum chriftlichen
Glauben und im Zufammenhang damit den chriftlichen
Begriff der göttlichen Offenbarung zu erörtern. Auf die
erfte diefer beiden Fragen geht K. mit befonderer Sorgfalt
ein. Er gelangt dabei zu dem Ergebnifs, dafs die
Lehre ohne Zweifel nicht ein Beftandtheil, fondern ein
fecundäres Erzeugnifs des chriftlichen Glaubens ift ; dagegen
enthält diefer von vornherein Erkcnntniffe in unmittelbarer
Verknüpfung mit den primären Gefühlen und
Willensacten des chriftlichen Glaubens, Erkcnntniffe,
die, obwohl dem Bereich der concreten Vorftellung angehörend
, vermöge ihres fittlichen Charakters kein freies j
Spiel der Phantafie, fondern ein zufammenhängendes und
deutlich abgegrenztes Ganze find, religiöfe Erkenntniffe
fittlicher Art und fittliche Erkenntniffe religiöfer Art.
Hieraus folgt, dafs es für das Chriftenthum eine Normalgeftalt
fiitlich-religiöfer, noch nicht lehrhaft entwickelter
Krkenntnifs gibt;' diefelbe liegt als Erzeugnifs der eigen-
thiimlichen Gotteserfahrung Jefu und der Urgemeinde in
den neuteftamenthehen Schriften vor. Dafs diefelben in
einzigartiger Weife Erzeugniffe des heiligen Geiftes find,

beruht auf der einzigartigen gefchichtlichen Situation, in
welcher ihre Verfaffer zum chriftlichen Glauben gelangten,
und welche in Folge der unmittelbaren Einwirkungen
Jefu. als des Sohnes Gottes, die höchfte Reinheit der eigen-
thümlich chriftlichen Gotteserkenntnifs ermöglichte. —
Den Grundgedanken dieser umfichtigen, an feinen pfycho-
logifchen Beobachtungen reichen, ein beträchtliches Material
durchdringenden und beherrfchenden Abhandlung
kann auch derjenige zuftimmen, der im Einzelnen den
erkenntnifstheoretifchen Ausfuhrungen des Verf. nicht
überall zu folgen im Stande ift. Vor Allem aber liefert
die hier zu Tage tretende Verbindung echt wiffenfehaft-
lichen Sinnes mit tiefem religiöfen Verftändnifs einen
neuen Beweis dafür, dafs eine unierm offiziellen Kirchenthum
an chriftlichem Glauben und Leben gewifs nicht
nachftehende evangelifche Gemeinfchaft, wie wir fie in
der Brüderunität dankbar begrüfsen dürfen, die ernfte
Arbeit einer in Freiheit und Pietät die Wahrheit fuchenden
Theologie nimmermehr zu fcheuen braucht.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Seeberg, Prof. Dr. Reinh., Gewissen und Gewissensbildung.

Ein erweiterter Vortrag. Erlangen, Junge, 1896. (76 S.
gr. 8.) M. 1.—.

Diefer erweiterte, mit Anmerkungen und Literaturangaben
für theologifche Lefer verfehene Vortrag hat
den Zweck ,zu einem fchärferen Verftändnifs des Gewiffens
, als man es oft findet, anzuregen, und die Ge-
wiffenhaftigkeit zu stärken im Kampfe gegen die Ge-
wiffenlofigkeit'. Dazu find unftreitig diefe anfprucl.slofen
Blätter fehr geeignet. Zur Schilderung des VVefens des
Gewiffens fetzt der Verfaffer nicht bei einer gegebenen
P'ormel (er bekämpft mit treffenden Gründen die landläufige
Definition des Gewiffens als der Stimme Gottes
im Menfchen, f. S. 9, doch vgl. S. 30), fondern bei der
Beobachtung des ethifchen Phänomens des Gewiffens
ein. Das Gewiffen ift das anerfchaffene fittliche Selbft-
bewufstfein des Menfchen, das fich äufsert in der Selbft-
beurteilung als gut und böfe. Inhalt und Mafsftab empfängt
diefes Selbfturtheil aus dem religiöfen und fittlichen
Inhalt des Bewufstfeins. Sofern nun der Chrift
das Bewufstfein der Sündenvergebung hat, ift fein Gewiffen
gutes Gewiffen. Indem aber anderfeits das Leben
mit Gott, das er im Glauben führt, ein fittlich neues
Leben ift, bewährt fich diefes gute Gewiffen auch an der
Beurteilung der Gefinnungen und Handlungen feines fittlichen
Lebens. Es ift ein gutes Gewiffen angefichts des
empirifch Guten, das aus der Gemeinfchaft mit Gott
quillt, und es ift ein gutes Gewiffen auch angefichts des
empirifchen Böfen, das er als natürlicher Menfch begeht
, vermöge des Glaubens an die Sündenvergebung.
Das Gewiffen ift etwas rein Perfönliches; eine wirkliche
Macht ift das Gewiffen nur als mein Urtheil über mich
felbft: das ,öffentliche' Gewiffen ift eine Phrafe. Diefer
Individualismus des Gewiffens ift Segen und Kraft; er
macht das Gewiffen zu einer ,Grofsmacht' der Welt-
gefchichte.' — Diefe Ausführungen ftellen den Verfaffer
vor eine letzte Frage, welcher der Schliffs des Vortrags
gewidmet ift, die Frage nach der Bildung der Gewiffen.
Dabei richtet er feinen Blick auf die Gemeinfchaften
des Lebens, das Haus, die Schule, die Kirche, das öffentliche
Leben. Feine Bemerkungen, ernfte beherzigenswerte
Ausfprüche enthalten diefe Seiten, aus denen man
längere Stellen mitteilen und fich felbft zur Schärfung
und Vertiefung des Gewiffens vergegenwärtigen möchte.
,Wir haben wenig Ichheit, aber viel Egoismus; wir haben
wenig Mannhaftigkeit, aber viel Schneidigkeit; wir haben
wenig Ueberzeugung, aber viele Ueberzeugungen. Unfer
Gewiffen ift wohl dreffiert andere zu richten, und dadurch
Blasphemie zu treiben (1. Kor. 10, 29. 30), aber
es fehreckt zurück vor dem Selbftgericht.' ■ Dies der