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Ausgabe:

1896

Spalte:

47-49

Autor/Hrsg.:

Köhler, August

Titel/Untertitel:

Über Berechtigung der Kritik des Alten Testamentes 1896

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literatur:

zeitung. 1896. Nr. 2.

4«.

der Formulirung. Ueberall weifs er feine reichen und oft
feinen Einzelgedanken in einen Zufammenhang einzureihen
und diefen felbft wieder in einem forgfam ausgeführten
, ebenmäfsigen Syftem zu gliedern. Freilich eins
fehlt bei allem Inhaltsreichthum und aller Kunft der Ge-
ftaltung, die hinreifsende Gewalt des einheitlichen, das
Ganze beherrfchenden Gedankens. Schon die Zerftück-
lung des Buchs in 998 Paragraphen d. h. in ebenfoviele
forgfältig, ja nur zu forgfältig formulirte Thefen mit Erläuterungen
läfst den Lefer nicht zu dem Eindruck der
unaufhaltfam ihr Ziel verfolgenden Gedankenentwicklung
kommen und macht das Durchftudiren der 869 Seiten zu
einer oft recht ermüdenden Arbeit. Noch mehr aber
trägt dazu eben jene Vielfeitigkeit bei. Diefem Charakter
des Buchs und nicht irgend welchen Parteiintriguen ift
es auch wefentlich zuzufchreiben, dafs es trotz feines
kunftvollen Gedankengebäudes bei weitem nicht die durch-
fchlagende Wirkung hatte wie Ritfchl's Monographie mit
ihren oft unbehauenen Blöcken zu einem dogmatifchen
Bau. Es ift begreiflich, dafs Lipfius fich darein nur fchwer
gefunden hat. — Die theologifche Vielfeitigkeit, durch die
Lipfius hervorragte und die ihm doch wieder im Wege
ftand, geht auch aus dem dankenswerthen Verzeichnifs
feiner fämmtlichen literarifchen Publicationen hervor, das
Baumgarten beigegeben hat; diefe Lifte bezeugt auch
feinen lebhaften Drang zur Activität und zur Verwer-
thung der theologifchen Wiffenfchaft für die evangelifche
Kirche. Dafs er feinen Dienft für fie aus einer energifchen
perfönlichen Glaubensüberzeugung heraus that, davon
zeugt auch das uns vorliegende letzte Werk feiner Hand.

Göttingen. M. Reifehle.

t. Holzhey, Dr. Karl, Die Inspiration der hl. Schrift in der
Anschauung des Mittelalters. Von Karl dem Grofsen
bis zum Konzil von Trient. München, Lentner, 1895.
(IV, 167 S. gr. 8.) M. 2. —

2. Kahler, Prof. D. Mart., Unser Streit um die Bibel. Vorläufiges
zur Verftändigung und Beruhigung für ,Bibelverehrer
' von einem der ihrigen. Leipzig, A. Deichert
Nachf., 1895. (III, 78 S. gr. 8.) M. 1. 25

3. Köhler, Geh.-R. Prof. D. Aug., Über Berechtigung der
Kritik des Alten Testamentes. Leipzig, A. Deichert
Nachf., 1895. (68 S. gr. 8.) M. 1. —

1) Der Streit um die Bibel wird noch immer fehr
lebhaft geführt. Die erfte der drei hier angezeigten
Schriften greift nicht direct in die wiffenfehaftlichen
Controverfen der evangelifchen Theologie ein. Sie flammt
aus der Feder eines katholifchen Theologen und verfolgt
zunächft einen hiftorifchen Zweck. Mit grofsem Fleifs
ftellt der Verf. die wichtigflen Ausfprüche der Kirchenlehrer
des Mittelalters über die Infpiration der heiligen
Schrift zufammen. Aus diefer catena patrum foll fich
ergeben, dafs ,die gefammte religiöfe Entwickelung des
Mittelalters fich unter dem mafsgebenden Einflufs der
Bibel vollzog, und dafs die chriftlichen Völker diefer
Zeit mit voller und urfprünglicher Kraft daran gingen,
die Forderungen der heil. Schrift an fich zu verwirklichen'.
Der von dem Verf. angedrehte Beweis ift m. E. durch
die reiche Auswahl von Stellen, die er aus den mittelalterlichen
Theologen angeführt hat, nicht erbracht worden.
Einmal ift von der theoretifchen Anerkennung der Autorität
und Infpiration der heiligen Schrift der Schlufs auf
die praktifche Verwerthung und den thatfächlichen Gebrauch
der Bibel ein voreiliger und durch den That-
beftand nicht immer beftätigter; zum Zweiten .darf man
nicht vergeffen, dafs die mittelalterlichen Lehrer nur von
der mit Kirche und Tradition in lebendiger Verbindung
flehenden Schrift' handeln; nur in diefem Sinn und mit
diefer Limitation wird auch von den Lehrern und Vätern

jener Zeit ,die Schrift als klar bezeichnet, weil fie aus
den Väterfchriften erklärt ift, und als genügend, weil
die Tradition fie ergänzt'. Die Richtigkeit unferer Be-
urtheilung bewährt fich an Holzhey's Stellung zu den
Entfcheidungen des Trienter Concils. Durch die dort
gegebenen Beftimmungen über das Verhältnifs von Tradition
und Schrift ,wird die Würde des gefchriebenen
Gotteswortes nicht im Geringften beeinträchtigt, fondern
auf die einzig mögliche und entfprechende Grundlage
geftellt und ihm zugleich jene unbedingt nothwendige,
äufsere Sicherheit gewährleiftet, ohne welche es auch
feine inneren Eigenfchaften nicht entfalten und wirkfam
werden laffen kann'. Auch der gegen das tridentinifche
Decret über die Vulgata erhobene Vorwurf ift unbegründet.
,Die Approbation der Vulgata foll dem Lefer der hl. Schrift
die nothwendige Gewifsheit verfchaffen, dafs er den Inhalt
der Schrift rein und vollständig aus ihr zu fchöpfen vermag
; würde ihm die Autorität der Kirche diefe Gewifsheit
nicht bieten, fo wäre er gezwungen, entweder irgend
einem Ueberfetzer dies Vertrauen zu fchenken, oder felbft
die Prüfung vorzunehmen. Indem nun die Kirche den
Lefer der hl. Schrift diefer Aufgabe enthebt und ihm
eine legitime Ueberfetzung bietet, ftellt fie weder die
Urfchriften in Schatten, noch auch behauptet fie eine
abfolut genaue Uebereinftimmung mit der Vorlage'. Es
ift nicht zu verwundern, dafs der auf folchem Boden
flehende Verf. die Pofition Luther's nicht in ihrem ganzen
Umfang und in ihrer Tiefe zu würdigen vermag; immerhin
mufs anerkannt werden, dafs feine Darfteilung eine
durchaus mafsvolle und objective ift, und dafs er dem
Reformator ein Verftändnifs entgegengebracht hat, das
man feiten bei römifchen Theologen findet. Er fafst fein
Urtheil über Luther in folgende Sätze zufammen: ,Nachdem
Luther die Lehrautorität der Kirche, die Väterlehre
, die weltliche Philofophie und die Vernunft bereits
befeitigt hat, fetzt er der infpirirten Schrift als noch
höhere Inftanz die perfönliche Ueberzeugung, Chriftum
zu haben, offen entgegen. Er ift auf dem Punkte, dafs
er gar nichts mehr frägt nach allen Sprüchen der Schrift,
wenn man ihrer noch mehr wider ihn aufbrächte'.

2) Kaehler will ein ,vorläufiges Wort zur Verftändigung
und Beruhigung für Bibelverehrer' fprechen, welche
etwa, wie er felbft, in ihren Lehrjahren vornehmlich bei
Bengel, H. Rieger, Menken, Tholuck, Beck, Hofmann,
Delitzfch, O. von Gerlach ihre Gründung und Förderung
erhalten haben'. Wer es beklagt, dafs eine grofse Zahl
nicht nur gebildeter Laien, fondern auch Theologen die
in Kähler's ,Wiffenfchaft der chriftlichen Lehre' enthaltenen
Schätze nicht zu heben vermögen, weil fie fich
durch die Schwerfälligkeit und Trockenheit der Darfteilung
abfehrecken laffen, ift jedesmal dem Verf. herzlich
dankbar, wenn er die Knappheit und Dunkelheit
feiner gewöhnlichen Ausdrucksweife verlaffend, fich ent-
fchliefst, eine einem gröfseren Kreife von Lefern zu
gängliche Sprache zu führen. In vorliegender Schrift
hat er dies gethan, und zwar in einer Weife, welche ,die
gefchloffen fortfehreitende Entwickelung aus einem
Guffe', durch die fein Hauptwerk fich auszeichnet, im
Rahmen einer weniger umfangreichen Arbeit, unbefchadet
der Klarheit der Darfteilung, zu voller Geltung bringt.
Der Streit um die Bibel, in welchen K. klärend und vertiefend
eingreifen möchte, ift ein Streit über Art und
Mafs der Schätzung derfelben. Ihm ift der Streit für
die Bibel kein Streit für die Verbalinfpiration und deshalb
auch kein Streit gegen die kritifche Bibelforfchung
und ihre Behandlung an den theologifchen Facultäten.
,Einfach zur alten Art und Weife zurückzukehren ift ein
Ding der Unmöglichkeit'. Die alte Infpirationslehre ift
nicht die neuteftamentliche; fie hat nicht geleiftet, was
fie follte; fie ftellt eine unlösbare Aufgabe; fie ift entbehrlich
, weil man fich längft hineingefunden hat, dafs
man verfchiedene Lesarten in unfern beiden Bibeltheilen
hat und über fie vielmals nicht zur Gewifsheit kommen