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Ausgabe:

1896

Spalte:

575-579

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Christliche Dogmatik. I. Teil 1896

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Schmidt, Prof. D. Wilh., Christliche Dogmatik. i. Tl. I

Prolegomena. [Sammlung theolog. Handbücher, 4. Tl.
1. Abtig.] Bonn, Weber, 1895. (XVI, 452 S. gr. 8.)

M. 9. —

In der 116 S. umfaffenden ,Einleitung' zu diefen
Prolegomena wird die Aufgabe der Dogmatik in ver-
fchiedenen Beziehungen befprochen, mit befonderer
Hervorhebung des Punktes, dafs der Dogmatiker den aus ,
der Offenbarung gefchöpften, mit feiner fubjectiven I
Ueberzeugung feftgehaltenen chriftlichen Glauben als
objectiv wahr, vernünftig, nicht mit dem Welterkennen
in Widerfpruch ftehend zu erweifen habe. Eingerahmt
wird diefe Erörterung durch eine ausführliche Befprechung j
des Sprachgebrauchs der Begriffe Dogma und Dogmatik
und durch einen gefchichtlichen Ueberblick über die
proteftantifchen dogmatifchen Syfteme vonSchleiermacher
an. In den eigentlichen Prolegomena foll i) Inhalt oder 1
Object, 2) Form oder Methode der Dogmatik beftimmt
werden. Da das Object, der chriflliche Glaube, unter
den Gattungsbegriff Religion fällt, wird das Wefen und
die Entftehung der Religion unterfucht. Es liegt dem
Verf. hier befonders an folgenden Punkten. ,Die Religion
ift ein Univerfalphänomen der Menfchheit' (S. 117).
,Giebt es kein Volk ohne Religion, fo kann auch der aus j
feinem Schofse geborene und mit feinem gefammten
Geiftesleben in feinem Mutterboden wurzelnde Einzelne
urfprünglich und von Haus aus nicht ohne fie fein'(S. 129).
Er kann, wie einft die Cyclopen (S. 118), zwar irreligiös, j
aber nicht religionslos werden (S. 130). Alle die ver- !
fchiedenen Verfuche, die Entftehung der Religion in der |
Menfchheit auf natürlich-pfychologifchem Wege, aus
Eindrücken von der finnlichen Aufsenwelt oder aus
praktifchen, fittlichen Motiven herzuleiten, find unzureichend
. So ift ,das apriorifche Datum einer religiöfen j
Anlage des Menfchen oder eines Gottesbewufstfeins, mit
dem er fich vorfindet, fobald er im Rapport mit der
Welt zum Selbftbewufstfein erwacht', als erwiefen anzunehmen
(S. 291). ,Der Menfch kann nicht umhin, das
Gottesbewufstfein zu vollziehen'. Da er hierbei nicht
felbft die eigentliche causa efficiens ift, fo kann das caufale
Princip nur eine Wirkfamktit Gottes in und an ihm fein
(ibid.). Diefes urfprüngliche Gottesbewufstfein ift ein
monotheiftifches. ,Das Actuellwerden desfelben ift fchon
felbft, in der Nothwendigkeit feines Vollzugs, eine Bürg-
fchaft für die objective Realität der Idee Gottes' (S. 294).
Die Wirkfamkeit diefer Offenbarung im Menfchen ift ,an
die fubjectiv bejahende und aneignende Vermittlung des
Empfängers effectiv gebunden' (S. 301). Bei ihrer Entwicklung
laffen fich die pfychologifchen Vermittlungen
vielfach verfolgen; nur ,dafs dabei nicht gerade Alles
pfychologifch, nicht gerade fo Alles ohne Reft aufgeht'
(S. 306). Zum Beweife dafür, dafs ,die Bibel diefe allgemeine
Offenbarung für das menfchliche Gefchlecht
durchweg in Anfpruch nimmt', wird befonders auf Rom. 1
1, 19 f. verwiefen (wo die ätöiog övvaiitg x. dsi6ntg als
unfichtbare Kraft und Gottheit verftanden wird, S. 300
und 319t; daneben auf Joh. 1, 5 und 9 (wo das sgyouevov I
eig x. y.ouii. als felbftverftändlich zu üiavxa avl)o. gehörig |
gilt) und Act. 17, 28 (S. 298 ff). Neben der Nothwendigkeit
der apriorifch gegebenen Offenbarung find aber auch
die guten Dienfte anzuerkennen, die das Welterkennen
der Gotteserkenntnifs leidet. Diefes Moment ift befonders
Ritfehl gegenüber zu betonen (S. 316 ff). Auch
Jefus wollte doch das rationelle Welterkennen nicht von
dem religiöfen ausfchliefsen. Beweis: feine Gleichnifse,
in denen er aus dem Naturleben und der Weltwirklichkeit
Momente erhob, um die himmlifchen Wahrheiten
deutlich zu machen, und in denen er das rationelle Erkennen
zum Zweck religiöfen Gewifswerdens zu Hülfe
nahm (S. 318). ,Der Ritfchl'fche Fundamentalfatz: wir
Willen nichts von Gott abgefehen von feiner Offenbarung,
ift eine Ueberbietung des Offenbarungsbegriffs und läfst

fich nicht halten. Wäre es fo, dann würden wir nie
etwas von Gott erfahren, denn feine Offenbarung erreicht
überall nur die empfänglichen Gemüther,die ein Senforium
dafür und darin doch bereits einen Rapport zu ihm, wie
immer derfelbe auch näher zu beftimmen fein mag,
haben und bekunden' (S. 321). Einer gefchichtlichen
Offenbarung hätte es nicht bedurft ohne die Dazwifchen-
kunft der Sünde (S. 325). Das Chriftenthum als gefchicht-
liche Offenbarungsreligion erweift feine Wahrheit als
vollkommene Religion durch feine heiligenden, fittlich
erneuernden Wirkungen (S. 341).

Im zweiten Abfchnitt über Form oder Methode der
Dogmatik werden die allgemeinen Erörterungen über
die Aufgabe des Dogmatikers, die fchon in der Einleitung'
gegeben waren, wieder aufgenommen und durch eine
Befprechung des Schriffprincips erweitert. Die Theorie
von der mechanifchen Verbalinfpiration wird verworfen.
Die Wahrheit des Schriftinhalts mufs innerlich erfahren
werden. Dar testimonium Spir. S. ift der einzig zureichende
Beweis für diefe Wahrheit und für die Infpi-
ration, die in einer nicht näher zu formulirenden göttlichen
Mitthätigkeit bei den biblifchen Schriftftellern
befteht (S. 392). Zum Schlufs entwickelt der Verf. feine
erkenntnifstheoretifchen Grundfätze: 1) dafs wir in der
Lage find, in der empirifchen Welt Schein und Sein zu
unterfcheiden und die Wirklichkeit der Dinge zu ermitteln
und dafs alfo das, was wir wahrnehmen oder auf Grund
unferer Wahrnehmungen ermitteln, objectiv wirkliche
Dinge find (S. 442); 2) dafs unfere Denkgefetze und
apriorifchen Begriffe, namentlich das Caufalitätsgefetz,
nicht nur innerhalb der Erfahrungswelt Geltung haben
(S. 444). Er wählt für feine Faffung des Erkenntnifs-
problems den Titel des,inner-undüberweltlichenRealismus'
(S. 446).

Dafs fich gegen die Anfchauungen des Verf.'s
mannigfache Einwendungen geltend machen laffen, merkt
der Sachverftändige leicht. Aber es wäre fchwer, im
Rahmen einer Anzeige diefe Einwendungen gehörig zu
begründen, und es widerftrebt mir, ohne folche Begründung
nur meine abweichende Auffaffung feftzuftellen.
Aber ich kann mich doch nicht ganz mit dem gegebenen
objectiven Referate begnügen, fondern glaube die eigen-
thümliche Methode, mit der der Verf. fein Werk ausgeführt
hat, etwas genauer beleuchten zu müffen. Die
charakteriftifche Befonderheit des Werkes liegt in der
grofsen Ausführlichkeit, mit der auf andere Literatur
eingegangen ift, Mittheilungen aus ihr gemacht find und
Auseinanderfetzung mit ihr erftrebt ift. Ich zolle der
ungewöhnlich grofsen Belefenheit des Verf.'s, die fich
auch auf die ausländifche Literatur erftreckt und, wie gerade
diefer Prolegomena-Theil zeigt, fich auch über die Gebiete
der Philofophie und Religionsgefchichte verbreitet hat,
grofse Bewunderung. Aber ich habe freilich auch einen
lebhaften Eindruck davon bekommen, dafs der Vorzug,
über den der Verf. verfügt, ein fehr einfeitig ausgebildeter
ift und dafs die Art, wie er diefen Vorzug
etwas prunkhaft zur Geltung zu bringen fucht, der dogmatifchen
Arbeit keineswegs zum Vortheil gereicht hat.
Ich möchte in diefer Beziehung folgende Bedenken geltend
machen.

Erftens hat der Verf. den Drang empfunden, das,
was ihn felbft bei feiner Vorarbeit intereffirte, in vollfter
Breite mitzutheilen, auch wenn es mit feinem Thema
nur im lockerften Zufammenhang ftand und ohne den
geringften Schaden für den eigentlichen Zweck der
Erörterung hätte wegbleiben können. Dies gilt namentlich
mit Bezug auf grofse Parthien in dem den vierten
Theil des Buches in Anfpruch nehmenden Abfchnitt
über die Entftehung der Religion. Es ift durch die Antwort
, welche der Verf. auf die Frage nach diefer Entftehung
geben zu können meint, bedingt, dafs er die
Frage felbft nicht für eigentlich indifferent für die Dog-
| matik hält. In ihrer Beantwortung findet man ja zugleich