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Ausgabe:

1896 Nr. 19

Spalte:

506-507

Autor/Hrsg.:

Henke, Oskar

Titel/Untertitel:

Die Bergrede Jesu. Für Schüler höherer Lehranstalten erklärt 1896

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 19.

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fchaftlichen Idee gegenüber giebt es nun verfchiedene
Arten der Stellungnahme. Der am tiefften flehende Standpunkt
ift der ,naive Dogmatismus', dem ohne Weiteres
feine eigene Forfchungsidee als die einzig richtige, als
felbftverftändlich unfehlbar und defshalb unantaltbar gilt.
,Die diefe Pofition einnehmenden Forfcher find Fabrikarbeitern
vergleichbar, die, ohne ein weiteres Bedürfnifs
zu fühlen und ohne mehr zu kennen, als die zu ihrer
Thätigkeit nöthigen ftereotypen Handgriffe, zufrieden
find, auf dem Porten, auf den fie geftellt find, befchäftigt
zu fein und hier auch eine ganze Menge leiften können'.
Der kritifche Forfcher dagegen bearbeitet nicht nur das
Thatfachenmaterial unter der Leitung einer beftimmten
Idee, fondern er bearbeitet auch diefen Ideengehalt der
Forfchung felbft. Er läfst die Forfchungsideen nie dog-
matifch erftarren und dadurch zu Feffeln der Forfchung
werden.

Der Schwerpunkt des Werkes liegt in dem mittleren
Teil: ,Die Lebenskraft. — Eine Studie über das Naturbegreifen
.' Eines Dogmatismus machen fich auch diejenigen
fchuldig, welche a priori annehmen, dafs ,die
die Organismen genannten Thatfachenkomplexe ausmachenden
Gefchehnifselemente' fich in den Lehrgebieten
der Phyfik-Chemie unterbringen laffen werden, ,dafs
fie fo oder fo phyfikalifch oder chemifch find' (58). Hie
und da erwies fich ein Stück von der Peripherie diefes
Gebietes der Phyfik-Chemie zuweisbar, aber die Natur
der Hauptmaffe ift uns unbekannt. Das, was man mit
dem Worte ,Leben' bezeichnet, hat der Unterordnung
unter die phyfikalifch-chemifchen Lehren theilweife geradezu
Hohn gefprochen. Die Biologie hat defshalb ihre
Selbrtftändigkeit zu bewahren, indem fie ,fich ihre Exact-
heit felbft fchafft in der Erzeugung eigener, eigenartiger
Lehrkörper, die, diefen gleichwerthig, zu den phylikalifchen
und chemifchen Lehrkörpern hinzukommen' (63). Der
gewöhnliche Sprachgebrauch würde hier von .Lebenskraft
' reden. Merkwürdigerweife kann fich der Verf.
hier auf Lotze berufen, der durch feinen berühmt gewordenen
Artikel über ,Leben und Lebenskraft' in
Wagner's Handwörterbuch der Phyfiologie (1843) gerade
die Herrfchaft diefes Begriffs gebrochen hat, um an deffen
Stelle die Forderung einer ,mechanifchen' Erklärung des
Lebens zu fetzen. In der von dem Verf. citirten ^Ii-
gemeinen Phyfiologie des körperlichen Lebens' weift
Lotze allerdings die Behauptung zurück, dafs diefe Erklärung
des Lebens nach denjenigen Grundfätzen der
Mechanik gefchehen müffe, deren fich die Phyfik bei
Betrachtung des Unlebendigen bedient (66). Der Verf.
vertheidigt dann ausführlich und nicht ohne Glück den
»veralteten Vitalismus' gegen Liebmann (Zur Analyfis
der Wirklichkeit. 2. Aufl. 1880, S. 333), wobei die Begriffe
der Kraft, des Gefetzes, des Dings jeder falfchen
,Hypoftafirung' entkleidet werden. Die Stoffe und Dinge
find ,weiter nichts wie zeitweilige Stabilitätsinfeln im
Gefchehen der allgemeinen Thatfächlichkeit' (89). Die
.Allgemeingiltigkeit und Unwandelbarkeit der Natur-
gefetze' befagt nur, dafs ,im Organismus unter den
gleichen Bedingungen wie aufser ihm auch die gleichen
Gefetzlichkeiten im gleichen Gefchehen auftreten'. Wären
aber diefe Bedingungen andere, als die bisher erkannten,
fo würden auch andere ,Gefchehensgefetzlichkeiten' wie
die bisher erkannten auftreten (95 f.). Ob dies der Fall
ift, will der Verf. nicht entfcheiden. Er will nicht etwa
felbft eine »Lebenskraft ftatuiren', fondern nur »vorerft
der kritifchen Forfchung auf biologifchem Gebiet das
Feld frei machen von den nicht legitimirten Schranken
des zur Zeit herrfchenden phyfico-chemifchen Dogmatismus
zu unbeeinflufster freier Entwicklung' (150).

In einem dritten Theil: ,Zu {siel) Erkenntnifskritik'
bekämpft der Verf. noch befonders die hypoftafirende
Auffaffung der Hypothefe als .Thatfächlichkeit', als das |
.wahre Wefen der Dinge', wie fie ebenfo im ,Waffer' des 1
Thaies, als im ,Atom' der modernen Chemie fich finde |

(188 ff.). Die exaete Naturwiffenfchaft mache fich fo
eines .metaphyfifchen Dogmatismus' fchuldig, ohne von
der durch Kant begründeten Erkenntnifskritik irgend
etwas gelernt zu haben. Der Verf. fcheint hier zu über-
fehen, dafs die begrifflichen Elemente, welche in der
wiffenfehaftlichen Hypothefe eine Art Höhepunkt erreichen
, fchon bei der einfachen ,Sinneswahrnehmung'
des erwachsenen Menfchen eine wefentliche Rolle fpielen,
dafs alfo in gewiffem Sinne das .Hypoftafiren' fchon hier
beginnt und von der uns gegebenen .Thatfächlichkeit'
überhaupt nicht zu trennen ift.

Beachtenswerth ift noch folgender Gedankengang
diefes dritten Theils. Die Caufalverhältnifse laffen fich
immer nur empirifch feftftellen. Warum aus diefer Cau-
falcomplication diefes, aus jener gerade jenes als Wirkung
folgt, ein Warum des Naturgefchehens, erkennen
wir nicht. Es ift defshalb auch unmöglich, aus der Sinneswahrnehmung
auf ein ,Ding an fich' zu fchliefsen, denn
diefes Caufalverhältnifs müfste ja, wie alle Caufalverhältnifse
, erft aus der Erfahrung, aus diefer Wahrnehmungswelt
felbft, über welche man hinaus will, gewonnen werden
(219 ff.). Durch diefe von der gewöhnlichen etwas
abweichende Beweisführung wird jedoch eine Anschauung
nicht unmittelbar getroffen, welche nicht das einzelne
Caufalverhältnifs, fondern die Denknothwendigkeit der
Caufalität überhaupt betont und für das Ganze der
Wahrnehmungswelt eine — im Uebrigen unbekannte —
Urfache vorausfetzen zu müffen glaubt.

Riedlingen a/D. Th. Elfenhans.

Henke, Prof. Gymn.-Dir. Dr. Osk., Die Bergrede Jesu.

Für Schüler höherer Lehranftalten erklärt. Gotha,
F. A. Perthes, 1895. (VIII, 77 S. gr. 8.) M. 1. —

Die Widmung der vorliegenden Erklärung der
.Bergrede Jefu' lautet: Beinen lieben Primanern von
Stendal, Perleberg, Höxter und Barmen 1871 —1893 in
Liebe und Treue zugeeignet'. Sie weift auf den Ur-
fprung diefer Auslegung hin, auf den Unterricht in der
Religion, den der Verf. ,zwei Jahrzehnte auf allen Stufen
höherer Lehranftalten, fiebzehn Jahre lang in der Prima
ertheilt (hat). Die Krone diefes Unterrichts bildete ftets
das in der Oberprima zur Behandlung kommende „Leben
Jefu". Dabei wurde dann auch die Bergrede, die bereits
in Obertertia auswendig gelernt und erklärt war, im Urtext
aus Tifchendorf's Ausgabe (editio aeadenücä)
aufs neue gelefen und erklärt. Aus diefen Befprechungen
ift das vorliegende Büchlein hervorgegangen' (S. V).
Es verzichtet darauf, ,eine erfchöpfende oder auch nur
eine annähernd vollftändige Materialienfammlung für die
Erklärung der Bergrede Jefu zu fein'. Auch liegt die
Abficht fern, ,neue und unerhörte Forfchungen (zu)
bringen oder neue Wege für die Erklärung auf(zu)weifen'
(S. V). ,Auf pädagogifchem Gebiet' wird nach des Verf.'s
eigener Meinung .Werth oder Unwerth feiner Schrift zu
fuchen fein'. Wir flehen nicht an, fie als werthvoll zu
bezeichnen und zwar ganz befonders deshalb, weil unfer
verehrter Freund, dem wir von unferen rheinifchen
Religionslehrerverfammlungen her noch ein treues und
dankbares Gedenken bewahren, es meifterhaft verlieht,
nicht nur die Worte Jefu genau zu erklären, fondern
auch mit dem Leben, wie es die Schüler und uns alle
umgiebt, in Beziehung zu fetzen. Eis wird nichts in die
Worte des Herrn .hineingeheimnifst' (S. 20) wohl aber
ihr unvergänglicher Gehalt dargelegt und angewendet.

Die eigentliche Erklärung der Bergpredigt, der eine
forgfältige Ueberfetzung (S. 1 — 7) fowie eine orientirende
kurze Einleitung (S. 8—10) vorausgefchickt ift, umfafst
einen allgemeinen (S. II—25) und einen befonderen Theil
(S. 25—75). In jenem werden die Begriffe Rechtbe-
fchaffenheit [dtxaioavvn), Reich Gottes [ßäaiXtla toi- Ütov
zwv ovuavuiv), Offenbarung, (anQXct/UiuV/c) erörtert, die
Mittel und die Weife der Offenbarung befprochen' und