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Ausgabe:

1896

Spalte:

481

Autor/Hrsg.:

Secrétan, Charles

Titel/Untertitel:

Religion und Theologie 1896

Rezensent:

Schultz, Hermann

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 18.

482

Secretan. weil. Prof. Charles, Religion und Theologie.

[Hefte zur ,Chriftl. Welt' Nr. 21.] Leipzig, Grunow,
1895. (31 S. gr. 8.) M. —. 40

Der bekannte Laufanner Ethiker verfucht in den
kurzen geiftreichen Auffätzen, die hier in guter Ver-
deutfchung vor uns liegen, den religiöfen Inhalt feftzu-
ftellen, der in der theologifchen Hülle der chriftlichen
Centraidogmen vor uns liegt. ,An Sündenfall und Erb-
fünde glauben, heifst fein Theil von dem menfchlichen
Unglück auf fich nehmen; an die Menfchwerdung glauben,
heifst der Heiligkeit ihre richtige Stelle einräumen; an
die Verföhnung glauben, heifst an die Veränderung
glauben, durch die fie möglich ift, fühlen dafs wir krank
waren und geheilt find'. So fafst Secretan felbft feine
Gedanken zufammen, die überall von inniger perfönlicher
Glaubensftellung zu Chriftus getragen werden, und auch
denen, die feinen Ausführungen nicht immer beiftimmen,
Genufs und Förderung zu bringen geeignet find.

Göttingen. H. Schultz.

Busse, Privatdoz. Dr. Ludw., Philosophie und Erkenntnistheorie
. L Abtlg. 1. Tl. Metaphyfik und Erkenntniskritik
. 2. Tl. Grundlegung eines dogmatifchen philo-
fophifchen Syftems. Leipzig, Hirzel, 1894. (XXIII,
288 S. gr. 8.) M. 6. —

Mit diefem Buche beabfichtigt der Verf., ,zu dem
zwifchen der dogmatifchen Philofophie und der kritifchen
Erkenntnifstheorie um die Möglichkeit der Metaphyfik
entbrannten Streite Stellung zu nehmen'. Er hat den
Muth, in der Zeit des Neukantianismus, des Pofitivismus
und der phyfiologifchen Pfychologie ein metaphyfifches
Syftem aufzuftellen. Die Grundgedanken desfelben und
viele einzelne Theile verrathen, wie der Verf. felbft hervorhebt
, den Einflufs Lotze's. Man wird ihm aber das
Zugeftändnifs felbftändiger Durcharbeitung auch der an
Lotze fich anlehnenden Ausführungen nicht verweigern
können. Die Unterfuchungen, welche den Inhalt des
Buches bilden, find im Anfchlufs an die Vorlefungen
und Uebungen entftanden, welche der Verfaffer als
Profeffor der Philofophie an der kaiferlichen Univerfität
zu Tokyo in Japan in den Jahren 1887—1892 gehalten
hat und feinen Hörern gewidmet.

Das Buch ift in der That das reife Erzeugnifs eines
gefchulten Denkens und genügt in der Form der Darfteilung
(wenn man von ,hypergenauer Pedanterie' S. 246
abfieht) in hohem Mafse der unter den befonderen Ver-
hältnifsen, unter denen es entftand, doppelt dringenden
Forderung der Klarheit und logifchen Gliederung.

In einem erften Theil .Metaphyfik und Erkenntnifs-
kritik' werden die ,antimetaphyhfchen Richtungen' im
allgemeinen, ,d. h. nach ihrer allgemeinen charakteriftifchen
Grundtendenz' abgehandelt. Der zweite pofitive Theil
giebt ,eine Art Encyklopädie der Philofophie vom dogmatifchen
Standpunkt aus'. In einem dritten noch nicht
erfchienenen Theil will der Verf. feine Ergebnifse an
einer Beurtheilung der gegnerifchen Syfteme im einzelnen
erproben.

Von den ,antimetaphyfifchen Richtungen' wird zu-
erft der .unbedingte Skepticismus' zurückgewiefen, der
fich felbft aufhebt, weil der Zweifel an aller Wahrheit
diefe felbft zu feiner eigenen Möglichkeit vorausfetzt.
Als Arten des ,bedingten Skepticismus' bezeichnet der
Verf. den Idealismus, den Subjectivismus und den Phänomenalismus
. Der Idealismus macht, indem er alle
Erkenntnifs in fubjective Vorftellung auflöft, nicht blofs
die Erkenntnifs der Dinge, fondern auch die der eigenen
Vorftellungen, überhaupt jede Unterfcheidung von ob-
jectivem Sein und fubjectivem Schein unmöglich. Der
Subjectivismus ,hält es nicht für überhaupt unmöglich,
dafs es wahre Erkenntnifs geben könne, er bezweifelt

nur, dafs unfere Erkenntnifs die richtige ift' (S. 30)
Er kann aber diefen Zweifel wiederum auf nichts anderes
gründen, als auf feine fubjective Denknothwendigkeit.
,Eben weil dies fo ift, und wir ein ,,objectives" Denken
gar nicht haben, müffen wir aber auch unfer fubjectives
Denken als die höchfte Autorität anerkennen, das was
es für wahr erklärt, auch für wahr halten'. Dann aber
ift diefe Autorität auch für transfcendente Dinge compe-
tent. Sonft .würde, mit einer allem wiffenfchaftlichen
Verfahren Hohn fprechenden Willkür, einem Theile des
Denknothwendigen, nämlich dem, welcher fich auf transfcendente
Dinge bezieht, die Giftigkeit feiner Denknothwendigkeit
zum Trotze abgefprochen, für einen
anderen — dem, welcher fich innerhalb der Sphäre des
Subjectiven hält — die Giftigkeit wegen feiner Denknothwendigkeit
in Anfpruch genommen' (S. 35). Es
giebt nicht zweierlei Vernunftarten, eine kritifch-trans-
fcendentale und eine dogmatifche, fondern nur eine Vernunft
, nur eine für alles Denken gleichmäfsig verbindliche
Denknothwendigkeit. Angriffe gegen die Metaphyfik
können fich alfo immer nur gegen die Denknothwendigkeit
metaphyfifcher Sätze richten.

Man kann dem Verf. darin zuftimmen, dafs es kein
anderes Kriterium wiffenfchaftlicher Wahrheit giebt, und
doch der Anficht fein, dafs die Vernunft auf demfelben
Wege der Denknothwendigkeit dazu kommen kann, fich
felbft Grenzen zu fetzen.

Unter Phänomenalismus verfteht der Verf. ,den
Standpunkt, welcher zwar die Gültigkeit der Denkformen
für das objective Sein nicht in Abrede Hellt, aber ihre
Brauchbarkeit zur Erkenntnifs desfelben deswegen
beftreitet, weil das Denken nur in Verbindung mit An-
fchauung Erkenntnifs liefern kann, die Formen der
Anfchauung — Raum und Zeit — aber nur phänomenal,
fubjectiv find' (S. 76 f.). Diefe hauptfächlich von Kant
vertretene Anficht ift jedoch unhaltbar, weil fchou die
Vorftellung des zeitlichen Verlaufes zu ihrer eigenen
Möglichkeit die objective Realität der Zeit vorausfetzt
(S. 80 f.).

In einem zweiten Hauptabfchnitt behandelt der
Verf. den Kriticismus und die Transfcendentalphilofophie.
Das Wefen der transfcendentalen Methode fucht er darin,
dafs fie die Erklärung aus den Erkenntnifselementen)
die fie giebt, zugleich als eine Deduction der Giltig-
keit der letzteren betrachtet und diefe Deduction als
die einzige Garantie der Giftigkeit anfleht (S. 89). Die
ficheren Kennzeichen jener apriorifchen Elemente find
aber auch nach der .Kritik der reinen Vernunft' wiederum
nichts anderes als .Nothwendigkeit und ftrenge
Allgemeinheit'. Es wird alfo auch hier die logifche, die
dogmatifche Nothwendigkeit vorausgefetzt.

Wenn der Verf. im Anfchlufs hieran (S. 112 und
fpäter S. 258) eine kritifche Erkenntnifstheorie überhaupt
für unmöglich erklärt, fo geht er damit über Lotze's
vorfichtigeren Standpunkt hinaus und berückfichtigt zu
wenig die Möglichkeit einer Erkenntnifskritik, die ohne
zeitlich oder fyftematifch jeder Philofophie voranzugehen,
doch das Erkennen nach feinen Vorausfetzungen und
feiner Tragweite nachträglich prüft.

Ein dritter Hauptabfchnitt wendet fich o-eo-en die
theologifche Beitreibung der Metaphyfik, foweit fie
nicht im Bisherigen fchon enthalten ift. ,Die theoretifche
Vernunft hat weder ein Recht noch Veranlaffung, in Abrede
zu ftellen, dafs eine logifche Conftruction des ge-
fammten Weltinhaltes durch reine Vernunft nicht möglich
ift' (S. 114). Nur das ihr Widerfprechende kann
fie nicht anerkennen. ,Alogifch kann vieles in der Welt
fein, unlogifch nichts'. Die Unbegreifllichkeit kann fich
daher immer nur auf geoffenbarte Thatfachen nie
auf geoffenbarte Wahrheiten beziehen. Der Verf.
wandelt hier ganz in den Bahnen des alten Supranatu-
ralismus und Rationalismus, indem er die Offenbarung
als Mittheilung von Wahrheiten oder Thatfachen fafst,