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Ausgabe:

1896 Nr. 16

Spalte:

423-427

Autor/Hrsg.:

Martens, Wilh.

Titel/Untertitel:

Gregor VII., sein Leben und Wirken. 2 Bde 1896

Rezensent:

Hauck, Albert

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 16.

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andern Texte haben will, diefelbe noch einmal mit in j
den Kauf nehmen.

Ulm. E. Neftle.

Martens, Regens a. D. D. Dr. Wilh., Gregor VII., sein
Leben und Wirken. 2 Bde. Leipzig, Duncker & Humblot,
1894. (XVI, 351 u. VIII, 373 S. gr. 8.) M. 16. -

Ein Werk über Gregor VII. kann trotz allem, was j
über diefen Papft fchon gefchrieben worden ift, auf die
Theilnahme weiterer Kreife rechnen. Um fo mehr, wenn
es von einem als felbftändig und fcharffinnig anerkannten
Forfcher flammt. Die vorliegende Biographie verleugnet
die Originalität ihres Verfaffers nirgends. Schon in der
Anlage weicht fie von dem Herkömmlichen ab. Denn
Martens unternimmt es nicht, Gregor auf dem Hintergründe
feiner Zeit zu zeichnen. Er ifolirt feinen Helden,
feine einzige Abficht ift, deffen Erlebnifse und Handlungen,
Anfchauungen und Ausfprüche dem Leier zu vergegenwärtigen
. Ich will mit ihm nicht darüber rechten. Der
Gefchichtfchreiber ift befugt, den Plan feines Werkes
fo zu geftalten, wie er es als das Geeignetfte erkennt.
Und warum follte es ihm nicht ebenfogut möglich fein,
einen grofsen Mann mit plaftifcher Anfchaulichkeit zu
fchildern, ohne dafs zugleich fein Zeitalter dargeftellt
wird, wie es dem Maler möglich ift, das leben-
digfte Portrait auf eintönigem neutralen Hintergrund zu
malen? Lenbachs Bilder verlieren nicht dadurch, dafs
er die Menfchen ifolirt. Nur darnach ift man berechtigt
zu fragen, ob das Bild treu ift.

Wie fchildert alfo Martens die Perfönlichkeit Gregors? j
Band II S. 217 lieft man ein zufammenfaffendes Gefammt-
urtheil: ,Gregor war ein Kind feiner Zeit, nicht frei von
Fehlern und Schwächen, ein Politiker von geringen
äufseren Erfolgen. Von Herzen ein gläubiger Chrift,
liefs er fich bei feinen kirchlichen Handlungen und Unter- !
nehmungen mehrfach von altteftamentlichen Vorftellungen
leiten. Er war eine kriegerifche Natur, perfönlich muth-
voll, feiten inconfequent'. Das ift als zufammenfaffendes
Urtheil über eine fo markante Perfönlichkeit, wie Gregor,
recht wenig; denn diefe Charakteriftik pafst nicht auf
Gregor allein: fie pafst auf hunderte und taufende; denn
wer ift nicht ein Kind feiner Zeit und wer ift frei von Fehlern
und Schwächen? Doch es fehlt nicht an fchärfer gezogenen
Linien, als fie diefe allgemein gehaltenen Sätze darbieten.
Bd. II S. 198 hören wir: ,Hildebrand, von dem Schöpfer mit
hohen Anlagen ausgerüftet, war ftets darauf bedacht, feine
Zeit zu benutzen, und erwarb fich ein vielfeitiges Wiffen'.
Ebenda wird feine achtunggebietende Kenntnifs des Alten
und Neuen Teftaments hervorgehoben. Wenn man nach
den Nachweifungen Jaffes die Stellen der Briefe Gregor's
zufammenzählt, an denen er biblifche Ausfprüche anführt
oder auf fie anfpielt, fo kommt man in der That
auf eine ziemlich hohe Ziffer, ungefähr dreihundert.
Das fcheint die achtungswerthe Kenntnifs des Alten
und Neuen Teftaments hinreichend zu beweifen; indefs
bei näherem Zufehen geftaltet fich die Sache einiger-
mafsen anders. Gregor kannte den Pfalter; eine Menge
Stellen aus ihm hatte er im Gedächtnifs. Auch die
evangelifchen Ausfprüche waren ihm vertraut: es finden
fich Beziehungen auf mehr als dreifsig Stellen des
Matthäusevangeliums: fie werden faft durchweg nur an
einer Stelle angeführt; eine Ausnahme macht begreiflicherweife
die fechsmal erwähnte Stelle Matth. 16, 18 f.
Allein fchon wenn man auf die Benutzung des Römerbriefs
achtet, erheben fich Bedenken gegen Gregors
Bibelkenntnifs. Zwar citirt er fünfzehn Stellen aus diefem
Brief. Allein weitaus die gröfsere Hälfte derfelben ift
aus Abfchnitten genommen, die im Gottesdicnft regel-
mäfsig verlefen wurden. Man kann der Vorftellung
nicht ausweichen, dafs Gregor feine Kenntnifs des
Römerbriefs hauptfächlich den kirchlichen Lectionen
und nicht dem Bibelftudium verdankt. Wenden wir uns

zum Alten Teftament! Jaffe citirt, wenn ich recht gezählt
habe, zu 31 Stellen des Regiftrum Sprüche aus den
grofsen Propheten. Aber diefe Ziffer führt irre; man
mufs hinzunehmen, dafs thatfächlich nur 7 Stellen aus
Jefajas, 3 aus Jeremias und 4 aus Ezechiel von Gregor
gebraucht werden. Von diefen vierzehn Stellen citirt er
Jer. 48, 10 nicht weniger als neunmal, Jef. 58, 1 fechsmal
, Ezech. 3, 18 dreimal. Erwägt man ferner, dafs in
einer von Gregor nachweislich gekannten Schrift, der
Cura pastoralis des erften Gregor, die Hälfte der von
ihm benutzten Prophetenftellen vorkommt, fo wird die
Annahme nicht unwahrfcheinlich fein, dafs Gregor die
Schriften der drei grofsen Propheten nicht kannte, dafs
er nur eine Anzahl von Citaten aus ihnen fich angeeignet
hatte. Ebenfo ift es in Bezug auf die hiftorifchen
Bücher des Alten Teftaments. Das Buch, das in Jaffes
Anmerkungen am häufigften vorkommt, ift I. Sam. Es
wird 24 mal angeführt; thatfächlich jedoch benutzt
Gregor nur 4 Stellen, von ihnen i Sam. 15, 23 neun-
zehnmahl, Auf Grund deffen ift die Annahme einer
achtungswerthen Bibelkenntnifs Gregors unhaltbar: er
kannte den Pfalter und die kirchlichen Lectionen; aber
die Bibel als folche hat er nicht ftudirt. Kaum anders ift
es mit feiner aufserbiblifchen Belefenheit. Wenn Martens
fagt: Aus der Zahl der Kirchenväter war ihm Gregor d.
Gr. vorzugsweife werth, fo erweckt diefer Satz eine irrige
Vorftellung. Denn abgefehen von Gregor d. Gr., der an
ungefähr zwanzig Stellen benutzt ift, läfst fich aus dem
Regiftrum nur nachweifen, dafs Gregor Stellen aus Am-
brofius und Pfeudoambrofius, Auguftin und Chryfoftomus
kannte: es werden im Ganzen fieben Stelen benutzt.
Häufiger ftöfst man auf den Gebrauch kirchenrechtlicher
Quellen; endlich läfst fich die Kenntnifs von Virgil und
Horaz belegen. Das ift aber offenbar zu wenig, um die
Behauptung von dem vielfeitigen Wiffen des Papftes zu
beweifen. Wohl, die Möglichkeit liegt vor, dafs er mehr
kannte, als er citirte. Aber ob es fo war, wiffen wir
nicht. Nach dem Befund der Quellen ift es unrichtig,
Gregor als einen Mann von vielfeitigem Wiffen zu cha-
rakterifiren. Man hat vielmehr zu fagen: Gregor fchrieb
nicht als Gelehrter; er war kein Gelehrter. Und pafst
die letztere Behauptung nicht viel beffer zu dem, was
wir fonft von feiner Perfönlichkeit wiffen, als die erftere?
Gregor war in keiner Hinficht vielfeitig; feine Gröfse
beruht auf feiner Einfeitigkeit.

Wichtiger ift die Frage nach dem ethifchen Charakter
Gregors. Martens erinnert, dafs er mit einer Reihe
vorzüglicher Eigenfchaften gefchmückt war: Sittenreinheit
, Einfachheit der Lebensweife, tiefer Ernft fittlichen
Strebens, heldenmüthige Unerfchrockenheit (II S. 2CO ff.).
Aber eingedenk feines Wortes, dafs der Hiftoriker fich
nie durch apologetifche Zwecke leiten laffen dürfe (I S.
IX), erkennt er auch Fehler an: er findet einzelne
Aeufserungen Gregor's abftofsend (II S. 199 f.), feine
Nachficht gegen die deutfehen Oppofitionsfürften auffallend
(S. 208), er urtheilt, dafs es ihm nicht überall
gelungen fei, feinen Feinden gegenüber Mafs zu halten
(S. 208). Zugegeben, dafs alle diefe Urtheile richtig find,
bezweifele ich doch, dafs die Eigenart Gregors durch
fie ausgefprochen wird. Es gefchieht auch nicht dadurch,
dafs Martens, im Bewufstfein, etwas Neues zu fagen,
hervorhebt, Gregor fei eine kriegerifche Natur gewefen
(II S. 213). Ich weifs nicht, ob es bisher irgendjemand
gegeben hat, der den Papft, deffen ganzer Pontificat eine
ununterbrochene Reihe von Kämpfen war, für eine friedliche
Natur hielt, bezweifele es jedoch. Aber wie immer,
Martens' Satz ift ficherlich richtig: Gregor war ein Mann
des Kampfes. Die Frage ift nur: wie er feine Kämpfe
führte. Martens fagt: Es mufs conftatirt werden, dafs
Gregor im allgemeinen gegen Freunde und Anhänger zu
nachfichtig war, dagegen feine Feinde und Gegner oft
mit grofser Härte und Schroffheit behandelte (II S. 207),
urtheilt aber dann, dafs Gregor fich gewifs ernftlich be-