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Ausgabe:

1896 Nr. 15

Spalte:

405-409

Autor/Hrsg.:

Eucken, Rudolf

Titel/Untertitel:

Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt 1896

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 15.

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Abfchnitt aus der üefchichtc der deutfchen proteftan-
tifchen Theologie. Es ift fehr lehrreich zu überfehen,
nicht nur wer fich dafür und wer dagegen erklärt hat,
fondern auch unter welche Kategorie, welche Richtung
Ritfehl gebracht wurde, und damit etwa zu vergleichen,
wie fich hier dasfelbc Schaufpiel der Verlegenheit wiederholt
, welches jedesmal bei der Aufnahme eines Meifters
aufgeführt wird, auf welchen keine der landläufigen Bezeichnungen
paffen will. Ich meine, eine befferes Zeugnifs
kann es nicht geben. Man wird über jede theologifche
Thefe, über jede Begriffsbeftimmung, jedes Urtheil, das
man aus Ritfchl's Schriften entnehmen kann, ftreiten
können. Nun, dafs man das nicht nur kann, dafs es ge-
fchehen mufste, das beweift eben, dafs man, wenn ich
fo fagen kann, dem Zauber des Gedankens nicht entgehen
kann. Und das Befte dabei ifl, dafs damit der
gröfste Feind der Wiffenfchaft auf theologifchem Gebiet
, nämlich die Gleichgiltigkeit geftört wird. Alfo
laffen wir es dabei: die Anregung ift eine aufscr-
ordentliche gewefen. Nun — wir leben fehr fchnell,
und es wird jetzt fehr fchnell vergeffen. Aber wenn
und wo wirklich Theologie getrieben wird — ohne
Auseinanderfetzung mit diefer Theologie wird es noch
lange nicht abgehen, und zwar nicht blofs weil fie den
Rang der Wiffenfchaft behauptet, fondern weil fie dem
Chriftenthum dient. Wenn freilich zuweilen die Hoffnung
gehegt wurde, es werde durch diefelbe ein wohlthätiger
Einffufs auf die Kirche, das kirchliche Leben ausgeübt
werden, fo mufste dies eine Täufchung fein. Nämlich
fofern dabei an ein unmittelbares, fofortiges Eingreifen
gedacht war. Die Theologie, ift ja freilich kirchliche
Macht, aber nicht die alleinige. Die Wege der Kirche
find zumal in Deutfchland durch ganz andere Kräfte und
Einflüffe mitbeftimmt, welche mit dem Glauben vielfach
nur dem Namen nach zu thun haben. Die Theologie
und ihr Schaffen wirkt gerade deswegen nur auf den
langfamen Wegen des Geiftes, weil fie es wirklich mit
dem Glauben zu thun hat; langfam, aber ficher, das wird
fich zuletzt auch an unterem Fall bewähren.

Ritfehl war ein vornehmer Mann, wenn man von
Vornehmheit des Geiftes fprechen darf. Auf das perfön-
liche Leben des Chriften angewendet, drückt das doch
wohl die innere Sicherheit und die ruhige Kraft des
Lebens in Gott aus. Die Gefchichte der letzten Zeiten
feines Lebens bis zur Vollendung ift ein Bild für wahre
Erbauung.

Tübingen. C. Weizfäcker.

Eucken, Prof. Rud., Der Kampf um einen geistigen Lebens'
inhalt. Neue Grundlegung einer Weltanfchauung. Leipzig
, Veit & Co., 1896. (VIII, 400 S. gr. 8.) M. 7. 50.

Das vorliegende Buch von Eucken ift eine zufammen-
faffende Darftellung der in feinen früheren Werken ,Die
Einheit des Geifteslebens in Bewufstfein und That der
Menfchheit', , Dir Lebensanfchauungen der grofsen
Denker' und ,Die Grundbegriffe der Gegenwart' entwickelten
philofophifchen Grundgedanken. Sein unter-
fcheidender Charakter ift die ganz einfache, allgemein-
verftändliche Haltung der Sprache und Gedankenfuhrung,
fowie eine ftark hervortretende praktifche Tendenz der
Einwirkung auf die Gegenwart und ein lebhafter perfön-
licher Affect fittlicher Begeifterung. Er fchildert die
fchweren Gebrechen und Gefahren der gegenwärtigen
geiftigen Zultände und zeigt den Weg der Rettung in
einer eingreifenden Umbildung des vorübergehend ver-
blafsten und zurückgedrängten oder fchal gewordenen
Idealismus, deffen Sache zugleich identifch ift mit der
der Religion und Ethik. Es ähnelt in diefer Hinficht
mannigfach dem im gleichen Intereffe gefchriebenen
Buchet ichte's: ,Ueber die Beftimmung des Menfchen',
an das Eucken auch felbft erinnert (p. 33). Auch der

j Nebentitel ,Neue Grundlegung einer Weltanfchauung'

{ ift ähnlich zu verftehen wie die Bezeichnungen, die Fichte
feiner Wiffenfchaftslehre gab als der Philofophie der Erneuerung
und Errettung.

In Wahrheit tritt doch für den Lefer zunächft der
Zufammenhang mit dem bisherigen Befitz fehr deutlich
hervor. Die Wurzeln des Buches liegen in der Gefammt-
anfehauung der claffifchen deutfchen Philofophie, deren
Väter Leibniz, Herder und vor allem Goethe gewefen
find, die durch die Einwirkung der kantifchen Philofophie
einen technifch durchgeführten Idealismus zur Grundlage
erhalten und die ihren Abfchlufs in dem Syftem Hegel's

I fowie in der Ethik Schleiermacher's empfangen hat. Ins-
befondere der Zufammenhang mit Hegel ift trotz des tiefgreifenden
Unterfchiedes faft auf jeder Seite erkennbar.
Sprache und Gedankenmaterial diefes Meifters haben die
ftärkfte Wirkung ausgeübt, auch da, wo diefe Wirkung
die des Gegenfatzes ift. Der Grundgedanke des Buches
ift demgemäfs der Glaube der deutfchen Philofophie an
die teleologifche Einheit des Kosmos, der als ein fich
entwickelndes und durch Widerfprüche hindurchgehendes
, aber im letzten Grunde einheitliches Lebensganzes
anzufehen ift, in welchem Ganzen Geift und Vernunft
irgendwie die Quelle aller Wirklichkeit, auch der
natürlichen und finnlichen ift, und innerhalb deffen an
einer beftimmten Stelle das menfehliche Gefchlecht und

j die menfehliche Gefchichte als ein kleiner befonderer,
in fich gefchloffener Entwickelungskreis hervortritt. Diefer
letztere kleine Kreis ift der allein unferer Erfahrung und
unferer Zweckfetzung tiefer erkennbare Wirklichkeitskreis.
Die in ihm durch Bewufstfein und That der Menfchheit
fich verwirklichende Einheit eines menfehlich-geiftigen
Lebens fchafft und erwirbt die geiftigen Güter des
Menfchenthums, die fich eben dabei als ideale, an und für
fich gültige und nothwendige Güter der Vernunft an der
inneren Erfahrung erweifen. Zu folchem Schaffen ift die
Menfchheit befähigt durch ihren inneren Wefenszufammen-
hang mit der abfoluten Quelle aller Vernunft, mit Gott,
der fich eben an diefer inneren Erfahrung von der abfoluten
Notwendigkeit jener geiftigen Güter bekundet,

j und durch die Aufeinanderbeziehung der geiftigen und
finnlichen Welt, die durch die Thatfache der Entftehung
einer folchen Geifteswelt bewiefen ift und in der letzten
göttlichen Einheit der Wirklichkeit ihren nur dem Glauben
zugänglichen Grund hat.

Diefer Glaube unferer grofsen Literaturepoche und
feine wiffenfehaftliche Durchführung ift gewifs das koft-
barfte Gut unferer Bildung und das einzige Fundament
für eine wiffenfehaftliche Darlegung von Religion und
Moral, wo man die einfache Begründung der beiden
letzteren auf undiscutirbare übernatürliche Offenbarungen
aufgegeben hat. Aber ebenfo Recht hat Eucken, wenn
er auf die mangelhafte, vorfchnelle Ausbildung hinweift,
die diefer Glaube in der damaligen Durchführung gefunden
hat, und auf die Kritik, die Erfahrungen und
Forfchungen unteres Jahrhunderts, der Empirismus und
Skepticismus, der Peffimismus, die neukantifche Bewegung,
der moderne Individualismus fin du stiele und die Ver-
ftärkung der religiöfen Bewegungen anihm vollzogen haben.
Jene Syfteme waren alle durch und durch optimiftifch,
determiniftifch, intellectualiftifch oder äfthetifch, mehr oder
minder pantheiftifch. Sie laffen durch eine immanente
Nothwendigkeit die Entwickelung fich ficher und lückenlos
vollziehen, die Natur aus dem Geift und den Geift aus
der Natur hervorgehen. Kämpfe, Brüche und Kata-
ftrophen find nur Schein. Wie die unperfönliche Nothwendigkeit
der Logik oder der äfthetifchen Harmonie
fetzt fich die Idee der Wirklichkeit im Makrokosmus und
Mikrokosmus durch. In der empirifchen Welt vollzieht
fich, ihr immanent und mit ihr in eine Fläche fallend,
von felbft und frei fchwebend der Procefs der idealen!

1 Leider hat Eucken diefe Mängel faft ausfchliefslich an

j dem Hegel'fchen Syftem als dem wiffenfehaftlich grofs-