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Ausgabe:

1896 Nr. 1

Spalte:

15-17

Autor/Hrsg.:

Stosch, Georg

Titel/Untertitel:

Die Augenzeugen des Lebens Jesu. Ein Beitrag zur Evangelienfrage 1896

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 1.

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hätte: die nach dem übject des Glaubens. Diefe darf
nicht fo in den Hintergrund gefchoben werden, wie es
hier gefchehen ift.

Göttingen. E. Schürer.

Stosch, Paft. Gec, Die Augenzeugen des Lebens Jesu. Ein

Beitrag zur Evangelienfrage. Gütersloh, Bertelsmann,
1895. (VII, 299 S. 8.) M. 3. 60; geb. M. 4. 50

Das Verdienft des vorliegenden Buches liegt darin,
dafs es das gegenfeitige Verhältnifs der vier Evangelien
im einzelnen allgemeinverftändlich erörtert und fo auch
Laien ein felbftändiges Urtheil in diefer Frage ermöglicht.
Soweit ich fehe, fehlte es bisher an einer derartigen
Arbeit aus neuerer Zeit; denn Nippold's Entwicklungsgang
des Lebens Jefu giebt wenig mehr, als die evan-
gelifchen Berichte über dasfelbe von der Jordantaufe ab.
Das Stofch'fche Buch kommt alfo einem wirklichen Be-
dürfnifs entgegen, wenngleich es dafselbe vielleicht nicht
genügend befriedigt.

Doch zunächft ift daran zum andern noch anzuerkennen
, dafs es die Zweiquellentheorie befolgt, die fonft
gerade in den dem Verfaffer naheftehenden Kreifen noch
manchmal Widerfpruch findet. Freilich bleibt er fich in
feinem Urtheil über die Logien nicht ganz gleich, indem
er in ihnen bald nur Reden, bald auch Gefchichtsberichte
findet (72). Ferner dürfte das Lucasevangelium doch
nicht ganz unabhängig von Matthäus fein.

Endlich aber enthält das Buch eine ganze Reihe
feiner und richtiger Einzelbemerkungen, unter denen ich
befonders diejenigen über die hebräifche UrÜberlieferung
mancher Herrenworte hervorhebe. So wird auch derjenige
das Buch mit Intereffe und Vortheil lefen, der im
einzelnen und allgemeinen vielfach widerfprechen mufs.
Denn dazu ift allerdings Anlafs genug.

Zunächft nämlich leidet der Verf. an demfelben Vor-
urtheil, wie feine meiften Vorgänger, an dem Vorurtheil,
man könne in jedem einzelnen Fall mit Sicherheit angeben
, weshalb der erfte und dritte Evangelift vom
zweiten abgewichen fei. Er ftellt fich eben mit den
meiften andern jene Arbeit viel zu mechanifch fo vor,
dafs jeder das Marcusevangelium abgefchrieben und nur
aus befondern Gründen geändert hätte. Und doch fagt
er einmal felbft, damit der Wahrheit entfehieden näher
kommend: Der Verfaffer des Matthäusevangeliums mag
das Evangelium des Marcus mehrere Male aufmerkfam
gelefen und dann aus dem Gedächtnifs frei nacherzählt
haben (213).

Will man alfo gleichwohl jede Abweichung der
fpätern von dem früheren erklären, fo kommt man
naturgemäfs auf folche Künfteleien, wie fie fich bei St.
reichlich finden. ,An dem Johannesbilde des Lucas
fehlen jene Züge, die für einen vornehmen Abendländer
wie Theophilus etwas Fremdes und Abenteuerliches
haben würden. Wir lefen nichts von dem Kleid von
Kamelhaaren und von der der Wüfte entfprechenden
Speife des Täufers' (77). In Wahrheit ift die Notiz deshalb
weggeblieben, weil der Evangelift fofort von der
allgemeinen zur fpeciellen Schilderung der Predigt des
Täufers überging.

Liegen weiterhin directe Widerfprüche zwifchen den
einzelnen Evangeliften vor, fo werden fie von St. in der
fchon von anders woher bekannten Weife wegerklärt,
fo z. B. die verfchiedenen Angaben über die Zahl der
gadarenifchen Befeffenen und der Blinden in Jericho.
Dagegen ift dem Verf. eigenthümlich eine ganze Reihe
von Textverdrehungen, fo z. B. die Ueberfetzung von
S/inoQevoLiävov avrov and 'Ieosixco Mc. IO, 46 mit: als
der Herr Jericho zum Ausgangspunkt feiner Feftwallfahrt
nach Jerufalem machte (170), von SHf.xctd-ioev snuvm
avxüv Mt. 21, 7 mit: das Füllen, das ihn trug, folgte
der Efelin, ohne deren Vorangehen er das Füllen nicht

wohl hätte reiten können (177). Endlich der Widerfpruch
zwifchen der Chronologie der Leidensgefchichte bei
den Synoptikern und Johannes wird dadurch gehoben,
dafs Joh. 13, i umfehrieben wird: in jenen Tagen vor
Oftern, als der Verräther fchon hingegangen war, ihn zu
verrathen, offenbarte fich die Liebe des Herrn in unveränderter
Herrlichkeit für die Seinen (206 f.) und (priyeiv
in mlaya 18, 28 überfetzt wird: das Frühmahl am Rüft-
tag vor Oftern (248).

Schlimmer noch ift es, dafs der Verf. diejenigen
Schwierigkeiten, die er nicht löfen kann, einfach ver-
' fchweigt. Er rechtfertigt ausführlich die Erwähnung von
! Abilene Lc. 3, 1, aber er erwähnt mit keinem Sterbens-
j wörtchen die Bedenken gegen die Gefchichtlichkeit diefes
1 Lyfanias. Ebenfo wird der Bericht des Johannesevan-
I geliums über die Gefangennahme Jefu ohne weiteres
j mit dem der Synoptiker zufammengeftellt, ohne dafs
J gefragt würde, wie das möglich fei. Die Erzählung des
i Matthäus von der Tränkung Jefu mit Galle paffirt un-
; beanftandet, und noch weniger erfährt man bei den Auf-
erftehungsgefchichten von irgend welcher Schwierigkeit,
Sollten auch fie dem Verf. wirklich unbekannt geblieben
j fein? Denn wenn er fie heben zu können glaubte, fo
mufste er das doch ebenfo angeben, wie er andere,
geringfügigere Bedenken zu befchwichtigen gefucht hat.

Doch gewiffe Unterfchiede zwifchen den einzelnen
Evangelien laffen fich weder mit jenen Mitteln erklären,
noch überhaupt verfchweigen: dann nimmt St. ohne
weiteres an, dafs auch die berichteteten Ereignifse oder
Reden zu unterfcheiden feien. So hat Jefus fowohl zu
den Pharifäern und Sadducäern, als zu dem Volk ge-
I fagt: ihr Otterngezüchte u. f. w.j fo hat er im wefent-
lichen diefelbe Rede erft an das Volk, (Mt. 5 ff.), dann
an die Jünger gehalten (Lc. 6, 20 ff.); fo hat er die Worte
| bei Ausfendung der Zwölf gegenüber den Siebzig wiederholt
; fo hat er die Seinen erft in der Bergpredigt, dann
noch einmal auf Bitten eines der Siebzig beten gelehrt;
fo hat er zweimal über Jerufalem geklagt, eine doppelte
eschatologifche Rede gehalten u. f. w. Merkwürdig nur,
dafs fich Lucas in einzelnen Fällen gleichwohl an die
Faffung der Worte Jefu in den Logien oder bei Marcus
angefchloffen hat, obwohl fie dort in anderm Zufammen-
j hange ftanden; denn wie konnte er das, wenn er der
! Hiftoriker war, als den ihn St. fortwährend rühmt?

Und damit find wir bei dem Hauptmangel feines
Buchs angekommen. Er beginnt es mit den Worten:
,Wenn uns jemand die heiligen Evangelien zu nehmen
vermöchte, wenn er uns glaubhaft beweifen könnte, dafs
es ein Wahn ift, den Berichten eines Marcus oder
Matthäus oder Lucas oder Johannes rückhaltlos zu vertrauen
, wenn wir nicht mehr gewifs fein dürften, ob die
Reden Chrifti fo gehalten find, wie fie uns die Evangeliften
wiedergeben, wenn wir zu zweifeln anfingen, ob Chriltus
das alles gethan und erlitten und errungen, was uns feine
heiligen Zeugen erzählen, fo wäre es uns, als habe man
uns die Sonne vom Himmel genommen, als habe man
uns das Licht ausgelöfcht, das unfere Zeit und unfere
Ewigkeit erleuchtet'. Es fällt mir felbftverftändlich nicht
ein, die Wahrhaftigkeit diefer Worte zu bezweifeln, ebenfo
wenig wie wenn ein Katholik mir fagen würde; wenn
mir jemand den Glauben an die Unfehlbarkeit des Papftes
raubte, fo würde ich denken, der Himmel fei eingefturzt;
wohl aber beftreite ich ihre Wahrheit, wie St. die der
eben fingirten Worte eines Katholiken beftreiten würde.
Vermag er feine Thefe doch nicht einmal hiftorifch zu
rechtfertigen. Zwar fagt er, dem nächftliegenden Einwand
zu begegnen: ,Das Evangelium, das St. Paulus
I bezeugt, ift das Evangelium der Evangelien. Wüfsten
wir das nicht aus feinen eigenen Worten, fo wüfsten wir
es aus dem Zeugnifs der alten Kirche'. Aber diefes
gründet fich erft auf jene und fie find anders zu erklären
. Vor allem indefs läfst fich nicht einmal das
Marcusevangelium fo früh anfetzen, wie St. will, nämlich