Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1896 Nr. 11

Spalte:

303-308

Autor/Hrsg.:

Thiele, Günther

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des Selbstbewusstseins und der Glaube an Gott, Freiheit, Unsterblichkeit 1896

Rezensent:

Ritschl, Otto

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

303

Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. Ii.

304

4) Der von Morin unternommene Nachweis, dafs
Nie. Dacus das Te Deum gedichtet habe, ift von Zahn
in guter Weife weiter geführt worden; er ift m. E. ausreichend
erbracht. Damit hängt auf's engfte zufammen,
dafs man diefem Nie. die beiden hymnologifchen Trac-
tate, die früher dem Nicetius von Trier zugefchrieben
wurden, beilegen darf. Nun habe ich fchon in meinem
Buche darauf aufmerkfam gemacht, wie es merkwürdig
fei, dafs Paulin nichts von denjenigen Schriften auch
nur indirect verrathe, die Gennadius kennen lehrt. Umgekehrt
weifs Genn. Nichts vom Te Deum und den
hymnologifchen Schriften. Wenn Paulin feinen Nie.
einmal als doctissimus bezeichnet, fo reichen zur Erklärung
diefes Prädicates füglich fchon diefe letzteren aus.
Da ift es wirklich eine naheliegende Idee, dafs man vielleicht
unterfcheiden müffe zwifchen dem Nie. Dacus und
dem Nie, der die Gennadius-Tractate verfafst habe, bez.
dafs Genn. eine Verwechslung begangen habe. ZurPerfonal-
gefchichte des Nie. Dac. haben Rümpel und Zahn Material
beigebracht, welches willkommen ift. Ich möchte noch
hinweifen auf die Epiftel des Germinius von Sirmium,
die als Fragm. AU des op. imperf. des Hilarius bekannt
ift. In der Adreffe findet fich (der Brief geht an Bifchöfe)
auch ein ^Nichae1". Ob nicht zu lefen wäre ,Niceael
Handfchriftlich tritt bei Genn. u. a. auch die Form Niceas
auf. Germinius könnte den Nie. Dacus meinen. Noch eine
Bemerkung. Zahn will bei Genn. als richtige Namensform
,Niceta' (aus »'txijTrjs wie patriarcha aus naioiccQyjiq etc.)
feltftellen. Aber nach Hümpel's Zufammenftellung S. 99
Anm. 2 fcheint mir der Freund des Paulinus am eheften
Nicetes geheifsen zu haben. Vielleicht nannte fich der
Verfaffer der Tractate, die Genn. gelefen, wirklich Niceta.

Zahn meint, es ,dürfe wohl hohe Zeit fein, die Dis-
cuffion über die Frage, ob der Schriftfteller Niceta des
Gennadius und der Niceta des Paulinus identifch oder
verfchieden feien, für immer zu fchliefsen'. Ich meine
im Obigen, wo ich keineswegs alles vorgebracht habe,
was ich zu fagen vermöchte, gezeigt zu haben, dafs es
überaus voreilig und für die Forfchung abträglich wäre,
wenn man Zahn's Meinung befolgen wollte.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Thiele, Prof. Dr. Günther, Die Philosophie des Selbst-
bewusstseins und der Glaube an Gott, Freiheit, Unsterblichkeit
. Syftematifche Grundlegung der Religionsphilo-
fophie. Berlin, Skopnik, 1895. (XIV, 510 S. gr. 8.)
M. 10. —; geb. M. 12. —

,Wahr ift, was der Wirklichkeit entfpricht' (S. 423).
,Zwar kann die Wirklichkeit felbft nicht wahrgenommen
werden . . . ., fondern wahr ift fchliefslich nur, was der
Gefetzmäfsigkeit des Denkens gemäfs ift'. Doch ,von
einem Thatfächlichen, das im Denken anerkannt werden
mufs, ift ftets auszugehen' (S. 424). Was aber ift that-
fächlich? Der Verf. fagt, jede echte Philofophie müfle
als Anfang und bleibenden Grund alles Erkennens die
Erfahrung anerkennen. Aber die Erfahrung ift nicht mit
dem Empfinden identifch. ,Bliebe es beim blofsen Empfinden
, fo gäbe es gar kein Erkennen. Denn Erkennt-
nifs und Wahrheit find nur im Urtheil, das Urtheil aber
ift mehr, als das blofse Haben von Empfindungen' (S. 15).
Demnach kommt die Erfahrung vielmehr zu Stande durch
das Zufammenwirken des Empfindens und der apriorifchen
Verftandesthätigkeit. Aber das Empfinden felbft giebt
auch nicht unmittelbar dasjenige wieder, wodurch es
angeregt ift. Vielmehr werden durch die Einwirkungen
anderer Subftanzen auf die Seele in diefer zunächft nur
Zuftandsänderungen hervorgebracht, die der Verf. als ein
praefenfitives Gefchehen bezeichnet und als den Realgrund
oder das logifche prius des Empfindens angefehen
wiffen will. Diefes aber ift feinerfeits eine ,urfprünglich
hervorbringende', »wahrhaft fchöpferifche Thätigkeit', und

,es ift nicht entfernt daran zu denken, dafs das Empfundene
irgendwie von aufsen in das Empfinden hinein komme'
(S. 179). Andererfeits ift die Kategorienthätigkeit des
Denkens, durch welche die Empfindungen geordnet und
verarbeitet werden, eine a priori fynthetifche Function
und demnach, wie das Empfinden felbft, eine gleichfalls
fchöpferifche Thätigkeit. Nach der Anficht des Verf.'s
bilden nun die Begriffe Wiffen (,im weiteren Sinne',
d. h. das allen feelifchen Zuftänden als folchen, alfo auch
dem Wollen und Fühlen gemeinfame ,eigenthümliche
feelifche Licht'), Vorftellen (d. h. das Setzen des Ge-
wufsten), Meinen (d. h. das Beziehen der Vorftellungen
auf beftimmte aufserhalb des Subjects gelegene Objecte),
Urtheilen (d. h. das Behaupten oder Anerkennen von
dem Subject unabhängig beftehenderObjecte), Schliefsen
(d. h. das Entdecken eines Neuen auf Grund des bereits
Bekannten) eine Stufenreihe von Denkoperationen, deren
erfte, das ,Wiffen' in dem Seelenleben als folchem allein
unmittelbar gegeben ift, während die vier anderen Kategorien
find und zu dem früheren je etwas neues ,fchöpfe-
rifch' hinzubringen. Und zwar, ,wie das Urtheilen über
den einzelnen Kategorien, fo fleht das Schliefsen über
den einzelnen Urtheilen' als ,das bewegende und leitende
Princip aller Kategorienthätigkeit'. Das Schliefsen ift
die eigentlich und felbftthätig erkennende und im höchften
Sinne fchöpferifche Thätigkeit des menfehlichen Geiftes.
Und das Erkennen, das durch das Schliefsen zu Stande
kommt, ift ,gewiffermafsen ein Nachfchaffen (der Welt,
wie aller Wirklichkeit) im Denken, um dadurch das
objectiv Beftehende nach feiner Vernünftigkeit und inneren
Nothwendigkeit zu begreifen, fich felbft, die fubjective
Vernunft im Object wiederzufinden' (S. 191 f.).

Dem Schliefsen, welches unter den ,pfychologifchen
Kategorien' zur wahren objectiven Wirklichkeit felbft
hinführt, entfpricht auf dem Gebiete der ,naturphilo-
fophifchen Begriffe' oder der ,Kategorien der gegenftänd-
lichen Welt' im Allgemeinen der Satz des Grundes.
Diefer beruht auf der Unterfcheidung von Wefen und
Erfcheinung, die felbft auch fchon Kategorie ift, und
findet als a priori fynthetifches Urtheil feinen Ausdruck
in dem allgemeinen Princip: Jedes Verbundenfein eines
Mannigfaltigen hat einen Grund' (S. 92). Aus diefem
Satze ergiebt fich zunächft die Kategorie der Subftanz,
die weiterhin durch die Kategorien der Caufalität und
der Wechfelwirkung vertieft wird. Dennoch bleibt dem
Verf. der Subflanzbegriff der wichtigfte. Er entwickelt
ihn zunächft zu dem Begriff der abfoluten Subftanz.
Dem durch den Satz des Grundes geforderten regressus
in infinitum ift nämlich ,mit dem Begriffe des Unbedingten,
der causa sui, der abfoluten Subftanz ein Damm' ent-
gegenzufetzen (S. 95). Demgemäfs wird die Triftigkeit
des kosmologifchen Beweifes für das Dafein Gottes gegen
Kant aufrecht erhalten. Und zwar kommt ,die Behauptung
eines allerrealften Wefens' nicht etwa durch die
verfteckte Anwendung des ontologifchen Arguments, wie
Kant meint, ,fondern lediglich dadurch in den kosmologifchen
Beweis, dafs diefer vom empirifch Gegebenen
ausgeht' (S. 102). ,Das Suchen nach dem objectiven
Grunde unferes beftimmten Empfindungslebens' kommt
eben nur zur Ruhe ,im Begriffe der abfoluten Subftanz'
(S. 121). Diefer Begriff bietet auch erft für das Verftänd-
nifs des ,Gegebenen' eine gefieberte Grundlage, indem
nur, wenn er vorausgefetzt wird, die von der abfoluten
Subftanz abhängigen und aus ihr feit Ewigkeit hervorgegangenen
endlichen Subftanzen als (zeitlich) unent-
ftanden und unvergänglich, beharrlich und unveränderlich
gedacht werden können. Als unveränderlich und
beharrlich find fie ferner auch einfach, und zufolge diefer
Einfachheit beftehen fie innerhalb des Endlichen durch
fich felbft und befitzen eine felbftändige Fixiftenz. Von
den materiellen Subftanzen endlich unterfcheidet fich die
Seelenfubftanz dadurch, dafs .die Seele auf Grund der
äufseren Einwirkungen, durch ihre Denkkraft diefelben