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Ausgabe:

1895 Nr. 3

Spalte:

90-91

Autor/Hrsg.:

Macdonald, James

Titel/Untertitel:

Religion and Myth 1895

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 3.

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Utopie, durch welche der von dem Verf. felbft fo ener-
gifch anerkannte Gemeinfchaftscharakter der Religion
wieder unwirkfam gemacht und das jeder lebendigen
Religion anhaftende gefchichtliche und pofitive Gepräge
in die abftracten Sphären eines angeblich ,menfchlich-
fittlichen Reingehaltes' aller Religion aufgehoben und
aufgelöft würde. Von diefem verhängnifsvollen Irrthum
des Rationalismus hat ein Schleiermacher die evangelifche
Kirche befreit, und das ift ein Gewinn, den fie unter
keiner Bedingung wieder preisgeben darf.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Krogh-Tonning, Dr. K., Die Gnadenlehre und die stille
Reformation. [Aus: ,Christiania Videnskabs-Selskabs
Forhandlinger'.l Chrifliania, [Dybwad], 1894. (86 S.
gr. 8.) M. 2.—

Zur Erklärung des befremdlichen Titels dient folgende
Bemerkung im Vorworte: ,Bei dem Ausdrucke „die
Rille Reformation" denken wir an die Reaction, welche
nach der grofsen Kirchenfpaltung des fechzehnten Jahrhunderts
fpeciell innerhalb der lutherifchen Kirche ftatt-
gefunden hat, ohne dafs man fich im Allgemeinen darüber
klar wurde, in wie hohem Grade vorreformatorifche Prin-
cipien dabei wieder aufgenommen wurden'. Der Verf.
will nachweifen, dafs wenn einerfeits die katholifche
Lehre von der Gnade im richtigen Sinne der katholifchen
Kirche felbft aufgefafst, andererfeits die evangelifche
Gnadenlehre nicht fo, wie fie urfprünglich von den Reformatoren
aufgeftellt, fondern fo, wie fie nachher in
Folge jener nachreformatorifchen Reaction geltend geworden
fei, in Betracht gezogen werde, fich eine Ueber-
einftimmung hinfichtlich diefesControverspunktes zwifchen
Katholiken und Proteftanten herausftelle.

Zu dem Zwecke führt er im erften Theile feiner
Schrift aus, dafs nur der Nominalismus der letzten anderthalb
Jahrhunderte vor der Reformation eine pelagiani-
firende Lehre vertreten habe, dafs dagegen die Scholaftik
in ihrer Gefammtheit und die römifche Kirche im Allgemeinen
des Pelagianismus oder Semipelagianismus
in der Gnadenlehre nicht bezichtigt werden könne. Er
giebt eine Reihe von Citaten aus Schriften der nächften
vorreformatorifchen Zeit als ,Zeugnifse aus evangelifchem
Geift und Leben', in denen der Glaube an die Gnade
Gottes und das Verdienft Chrifti unter Zurückftellung
jeder Berufung auf eigene menfchliche Verdienfte Aus-
druck findet. Er ftellt dann die Gnadenlehre der Tho-
miften und die der Jefuiten dar, die erflere im Anfchlufs
an Dummermuth, S. Thomas et doctrina praemottonis
physicae, Paris 1886, die letztere im Anfchlufs an Schneemann
, Controversiarum de divinaegratiae liberique arbttnt
concordia initia et progress/ts, Freiburg i. Br. 1881. Er
kommt zu dem Ergebnifs, dafs auch in der jefuitifchen
Gnadenlehre nichts Semipelagianifches fei, dafs vielmehr
,die liberalfte Richtung innerhalb der römifchen Kirche
Ausdrücke von der freien Gnade (ihrem unfehlbaren
Refultat) gebraucht, die man kaum innerhalb des Pro-
teftantismus wagen möchte' (S. 36). — Auf die Bekämpfung
des Auguftinismus im nachreformatorifchen Katholicismus,
auf die Conftitution ,Unigenitusl etc. nimmt er mit keinem
Worte Bezug.

Im zweiten Theile der Schrift ftellt der Verf. dann
dar, dafs zwar die Reformatoren urfprünglich eine rein
determiniftifche Gnadenlehre hatten. Für fie bedeutete
der rechtfertigende Glaube nur ein mechanifches Re-
ceptionsorgan, ,die leblofe und leere Hand, welche auto-
matifch die Fülle der Gnade annimmt' (S. 46). Aber
gegen diefe Auffaffung hat fich eben allmählich eine
Reaction durchgefetzt. ,Die Arbeit der Rillen Reformation
zur Behauptung eines Platzes in der Gnadenlehre für den
Menfchenwillen und feine Thätigkeit gegenüber der deter-
miniftifchen Einfeitigkeit der urfprünglichen Reformation

bildet eine Parallele zu der entfprechenden Arbeit des
Jefuitismus gegenüber der Einfeitigkeit jenes Thomismus,
welcher in determiniftifcher Richtung ging' (S. 40). Den
Charakter diefer Reaction bezeichnet der Verf. durch
folgende Sätze: ,a) Der IVlenfch ifl nicht abfolut paffiv,
fondern felbfithätig unter dem Einflufs der bekehrenden
Gnade, b) Die Rechtfertigung ift von dem Glauben bedingt
, nicht als einem blofs mechanifchen, automatifchen
Receptionsorgan, fondern als einem „lebendigen Glauben",
welcher potentiell die Liebe enthält, c) Die Wiedergeburt
geht der Rechtfertigung voraus, infofern fie als Mittheilung
des lebendigen Glaubens aufgefafst wird, d) Dafs
diefer lebendige Glaube als ein ethifch-religiöfes Ver-
hältnifs aufgefafst werden foll, geht nicht blofs daraus
hervor, dafs er potentiell die Liebe enthält, fondern auch
aus der Betrachtung, dafs der Glaube und die Lebensgemeinschaft
mit Gott durch eine „Todfünde" verloren
gehen' (S. 40). Da diefe Gedanken, die fchon in der
Reformationszeit auf proteftantifcher Seite ausgefprochen
wurden, in unferem Jahrhundert von vielen anerkannten
proteftantifchen Theologen vertreten find, fo befteht keine
eigentliche, fachliche Differenz mehr zwifchen katholifcher
und proteftantifcher Gnadenlehre. Es handelt fich nur
noch um einen Wortftreit.

Ich weifs nichts von dem Verf. diefer Abhandlung.
Aber ich vermuthe, dafs er, obgleich er eine ,Christcltg
Dogmatil verfafst hat, doch ein Dilettant in theologkis
ift. Daraus erkläre ich mir die Schiefheit feiner einzelnen
Urtheile und die eigenthümliche Befchränktheit feines
Blickes und feiner Kenntnifse. Wenn er fich dazu ent-
fchliefsen möchte, den dritten Band von Harnack's Dog-
mengefchichte zu ftudiren, fo würde er Vieles, was ihm
unbekannt ift, lernen und die Controverfe z.wifchen den
Römifchen und den Proteftanten über die Gnadenlehre
wohl in etwas anderer Beleuchtung fehen.

Jena. H. H. Wen dt.

Macdonald, Rev. James, Religion and Myth. London,
Nutt, 1893. (XIII, 240 S. gr. 8.) Geb. 7 s. 6 d.

, This volume is an effort to put iuto poptdar form a
number of facts connected ivith the rcligious obsen'ances
and social customs of African tribes1 (VII). Der gewählte
Titel bezeichnet alfo nicht den fpeciellen, fondern nur
den allgemeinen Inhalt des Buchs und auch diefen nicht
durchaus genau. Denn keineswegs alles, was der Verf.
vorbringt, läfst fich unter die Rubrik Religion fubfum-
miren, während vollends von Mythen überhaupt nur gelegentlich
die Rede ift.

Der Hauptwerth feines Buchs beruht auf den theils
aus fremden Werken theils der eigenen Erfahrung ge-
fammelten und hier zufammengeftellten Einzelzügen,
aber nicht auf der gleichzeitig vorgetragenen allgemeinen
Theorie über die Entwicklung der afrikanifchen Religionen
. Der Verf. wird kaum irgendwo Glauben finden,
wenn er behauptet, aus der Vorausfetzung von der Göttlichkeit
des Königs fei erft die Lehre von der Seele,
dann die Annahme befonderer Gottheiten und endlich
eines höchften Wefens entftanden. Auch die Parallelen,
die er zu den afrikanifchen Anfchauungen und Gebräuchen
aus dem Abendland, namentlich aus Schottland
beibringt, werden manchmal recht weit hergeholt und
noch dazu falfch gedeutet.

Vom unmittelbarften Intereffe für den Theologen
ift das letzte Capitel, Reforms überfchrieben. Der Verf.
gefteht ein, dafs die bisherige Miffionsmethode in Afrika
nicht viel Erfolge erzielt hat. ,Dafs manche eingeborene
Chriften unfere kirchlichen Formeln geläufig wiederholen
können, weifs ich wohl, und der Miffionar, der damit als
mit einem Beweis für das Verftändnifs der chriftlichen
Lehre fich zufrieden giebt, ift ein glücklicher Mann. Er
wird empört fein über eine folche Verleumdung der ein-
1 geborenen Chriften, als welche er das Gefagte ficher auf-