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Ausgabe:

1895 Nr. 24

Spalte:

623-626

Autor/Hrsg.:

Köstlin, Heinr. Adf.

Titel/Untertitel:

Die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen 1895

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 24.

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dafs alle und jede gefchichtliche Grundlegung in dem
Buche fehlt, und das allein genügt zum Beweife, dafs
das Buch einer dahin gefchwundenen Zeit angehört.

Der Inhalt des Dargebotenen ift von fehr verfchie-
denem Werth. Wir halten es nicht für berechtigt, dafs die
liturgifchen Reden (,Cafual'-Reden) von der Verhandlung
ganz ausgefchloffen werden; einer Vertiefung bedürftig
wird wohl das über die Meditation S. 49 f. und über die
methodologifche Eintheilung der Predigtarten S. 56 f. 131 f.
Gefagte fein; die Vertheidigung der allegorifchen Schriftauslegung
S. 171 f. entbehrt fehr der wiffenfchaftlichen
Begründung, abgefehen davon, dafs eine Verwechfelung
zwifchen allegorifcher und fymbolifcher Auslegung,
vielmehr Anwendung, zu Grunde zu liegen fcheint. Zu
beanftanden dürfte auch die Behauptung des Verfaffers
fein, dafs das Fehlen aller f. g. körperlichen Beredtfam-
keit (Action) in der Predigt das Normale fei; die treffliche
Schrift von C. F. Th. Schufter: Der gute Vortrag,
eine Kunft und eine Tugend 1881 (2. Aufl. 1892) dürfte
uns doch eines Befferen belehren, befonders auch dadurch,
dafs aus den Evangelien die Action des Herrn bei feinen
Reden nachgewiefen wird. Andererfeits notiren wir als
werthvoll die Darlegung S. 21 f. über das AlteTeftament als
Predigtftoff, die Hervorhebung des Gefetzes der Steigerung
in der Predigt S. 92 f., die Ausführung über den Tranfi-
tus S. 214 f., und vor allem, um mit dem Vorwort zu
reden, die harmonifche Vereinigung von lebendigem
Chriftenglauben und allgemeiner wiffenfchaftlicher und
literarifcher Bildung, die überall fich kundthut.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Köstlin, D. Dr. Heinr. Adf, Die Lehre von der Seelsorge

nach evangelifchen Grundfätzen. (Sammlung von
Lehrbüchern der prakt. Theologie, hrsg. von H.Hering,
V. Bd.) Berlin, Reuther & Reichard, 1895. (XI, 407
S. gr. 8.) M. 7. —

Das Werk ift dem evangelifchen Predigerfeminar zu
Friedberg ,in treuer Anhänglichkeit' gewidmet. Das
Predigerfeminar ift feine Geburtsftätte. Dort hatte der
Herr Verfaffer eine Reihe von Jahren hindurch die Aufgabe
, den Candidaten über die Lehre von der Seelforge
Vortrag zu halten. Im praktifchen Pfarramt hat der
Herr Verfaffer viele Jahre Seelforge geübt und feine
Anfchauungen erprobt, in Friedberg hat er fie docirt,
und die reife Frucht der praktifchen und der theore-
tifchen Behandlung wird uns in feinem Werk dargeboten.
Das Werk ift gefchrieben im Geift eines ebenfo reichen
wie tiefen evangelifchen Glaubenslebens, es verbindet
Ernft und Eindringlichkeit, welche die Nothwendigkeit
und den hohen Werth der Seelforge in innigem und
warmem Wort unabläffig hervorzuheben weifs, mit grofser
Zartheit, die überall die Grenzen menfchlichen Dienftes
und göttlichen Thuns innehält. Für den Lefer — vielleicht
nicht in demfelben Mafse für den Lerner — ift es fehr
wohlthuend, dafs trotz der reichen Belehrung, die das
Werk durchgehends bietet, der docirende Ton und das
Klapperwerk der nummerirten Einzelaufführung der Gedanken
vermieden ift; manche Abfchnitte — ich hebe
befonders den zweiten Abfchnitt von den Organen der
Seelforge: das Wort Gottes, die Gemeinde, die feelfor-
gerliche Perfönlichkeit hervor — lefen fich wie ein Erbauungsbuch
in höherem Stil; für andere Ausführungen,
z. B. die über die Seelforge an den Geifteskranken
(S. 314 f.) und an den Gefangenen (S. 334 f.) werden
dem Herrn Verfaffer zahlreiche Lefer um der eingehenden
Behandlung und der reichen Belehrung willen vor-
zugsweife dankbar fein. Das tiefe Gemüthsleben, in das
die Gedanken eingetaucht find, giebt dem Stil eine eigen-
thümliche Weichheit und Frifche, und die allerdings oft
recht langen Perioden und die wohl allzu reichliche Verwendung
der Amplification ftören nicht in dem geiftigen

Genufs. Endlich foll auch der Vorzug des Werkes ausdrücklich
hervorgehoben fein, dafs es in allen feinen Theilen
biblifch orientirt ift; der Herr Verfaffer ift augenfcheinlich
ein dankbarer Schüler von J. T. Beck, deffen Weife
der biblifchen Begründung und Gedankenentwicklung
auch hier unverkennbar ift. Faft zu fehr fcheint mir
der Herr Verfaffer den Spuren Beck's in feiner biblifchen
Seelenlehre (S. 267 f.) zu folgen; es ift mir zweifelhaft
ob ohne Zwang fich eine einheitliche biblifche oder neu-
teftamentliche Seelenlehre herftellen läfst, noch zweifelhafter
allerdings, ob der populären Pfychologie zur Zeit
Jefu und feiner Apoftel — denn nur durch Verwendung
des populären pfychologifchen Sprachgebrauchs konnten
fie fich ihren Zeitgenoffen Verftändlich machen — irgend
ein normativer Werth beizumeffen ift.

Der Herr Verfaffer entwickelt nicht die Lehre von
der kirchlichen fpeciellen Seelforge; er fafst feine Aufgabe
weiter; die Lehre von der Seelforge überhaupt legt
er dar, wie fie innerhalb der chriftlichen (evangelifchen)
Gemeinde möglich ift, aber fich keineswegs auf die
Thätigkeit der amtlichen Organe der Gemeinde befchränkt.
Den Gedanken Sulze's von der Seelforgegemeinde führt
er durch, aber weniger als einen in unfern gegenwärtigen
Verhältniffen ohne weiteres realifirbaren Gedanken, denn
als das Ziel, dem die Gemeinde entgegenzuführen ift;
deshalb fpricht er auch durchgehends von Seelforger-
gemeinde, weil das Ziel eine Gemeinde ift, die aus lauter
Seelforgern befteht. Allein die weitere Faffung der
Aufgabe fcheint mir nicht durchgeführt zu fein. Es wird
erwähnt, dafs nach evangelifcher Änfchauung jeder Chrift
cum grano salis fein eigner Seelforger fei, dafs die Eltern
an den Kindern, die Lehrer an den Schülern, jeder Chrift
an anderen Seelforge zu üben haben, aber als ,feelforger-
liche Perfönlichkeit' wird doch nur der Träger des geift-
lichen Amtes befchrieben, und die Aufgaben der Seelforge
(S. 221 bis zum Schlufs) find lediglich die feel-
forgerlichen Aufgaben des geiftlichen Amtes. Unter der
Rubrik ,die öffentliche Seelforge' wird ferner wohl die
feelforgerliche Aufgabe der Predigt, aber nicht die des
Gefangbuches, der Liturgie mit ihren Gebeten, ihrer
Schriftverlefung und ihrem Bekenntnifs genannt; es wird
die Seelforge im Unterricht von dem Kindergottesdienft
bis zum Predigerfeminar erwähnt, aber behandelt wird
nur der Unterricht an den Katechumenen. So wird das
Thema wohl zu weite Grenzen haben, die in einem Werke
von mäfsigem Umfange gar nicht auszufüllen find. Und
dennoch fcheint die Ausführung in einiger Beziehung
fich zu fehr befchränkt zu haben. Es ift ja fehr dankens-
werth, dafs'über die feelforgerliche Behandlung der Geifteskranken
fo fachkundige Unterweifung gegeben wird;
allein dafs alle übrigen Kranken nicht befondere Berück-
fichtigung finden, auch nicht die am meiften vorkommenden
, die der pfychologifchen Räthfel fo viele bieten und
der Seelforge oft recht fchwierige Aufgaben ftellen,
fcheint nicht ganz gerechtfertigt zu fein. Endlich ift mir
auch der Begriff der Seelforge, mit dem der Herr Verfaffer
operirt, nicht völlig klar geworden. S. 2 wird die
Verantwortlichkeit der Seele für ihr Gefchick als
Vorausfetzung der Seelforge gefordert; allein die Seelforge
an völlig Unmündigen und an Geifteskranken, bei
denen doch von einer Selbftverantwortlichkeit nicht die
Rede fein kann, wird gleichwohl überall als Pflicht hin-
geftellt. Nach S. 119 find die einzelnen Gemeindeglieder
Gegenftand der fpeciellen Seelforge nur nach dem Mafs
ihres Abftandes von der Heiligkeit der Kirche: nach S. 293
(unten) find es alle, die nicht mit ihrem Willen, fondern
durch die Macht der Umftände von der Theilnahme an
der gemeinfamen Erbauung abgefchnitten find. Nach
S. 293 (oben) foll die Bedürftigkeit der Einzelnen und
ihr Verlangen nach der Zudienung des Wortes fie
zum Gegenftand der Privat-Seelforge machen; nachS.296
(oben) wird die Seelforgepflicht der Kirchendiener auch
an den Kranken betont, die ihrer nicht begehren.