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Ausgabe:

1895 Nr. 23

Spalte:

587-590

Autor/Hrsg.:

Weiss, Johs.

Titel/Untertitel:

Die Nachfolge Christi und die Predigt der Gegenwart 1895

Rezensent:

Baldensperger, Wilhelm

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587 Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 23. 588

Varianten nicht zum Ausdruck, z.B. Kön. II n, -Qxm
gegen Chron. II 2210 T3FIfVl. Andererfeits aber — und
das ifl lediglich Girdleftone's Schuld — ergeben (ich fo-
gar anfcheinende Verfchiedenheiten, wo der hebräifche
Text abfolut identifch ifl, z.B.Kön.II u4 and'fetchedgegen
and took der Chronik, ebenda v. 8 he that gegen who-
soever, v. 9 and gegen so, v. 10 captains Over hundreds
gegen captains of hundreds, und Girdleftone hat — kaum
glaublich, aber wahr — alle diefe /Varianten' durch Curfiv-
druck eigens als folche markirt.

In der Einleitung hat Girdleftone dargelegt, was er
aus feiner Arbeit gelernt hat. Man wird nicht viel erwarten
, aber noch weniger finden. Zwar dem Eindruck
hat er fich nicht entziehen können, dafs die alten Ab-
fchreiber vielfach fehr leichtfertig mit dem Texte umgegangen
find, und dafs daher auch da, wo keine Dubletten
vorliegen, Textkritik nöthig ift. Aber hinfichtlich des
,higher criticism' befindet er fich trotz feiner Arbeit, die
ihm eigentlich die Augen etwas hätte öffnen können,
noch im Stande völliger Unfchuld. Ueber die beiden
Berichte vom Sturz Athalja's urtheilt er: ,There are slight
variations throughout, but no absolute divergences' (S. 85
Anm.). Er glaubt, man habe keinen Grund, zu bezweifeln,
dafs die Reden Samuel's, die wir im A. T. haben, ,were
taken down by official scribes' (S. XX). Auch findet er
keine Nothwendigkeit, bei Anfetzung der Chronik über
das Zeitalter Nehemia's hinauszugehen, ,if indeed it need
come so low' (S. XVI). Etwas mehr als Unfchuld ift es
aber wohl noch, wenn er es wahrfcheinlich findet, dafs
Hofea den Ausdruck )T0i 3SD 4o aus Jef. 242 entlehnt
habe (S. 143).

Göttingen. Alfred Rahlfs.

Weiss, Prof. Jons., Die Nachfolge Christi und die Predigt
der Gegenwart. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht,
1895. (VII, 183 S. gr. 8.) M. 3. 60

Einer doppelten PJrwägung dürfte vorliegende Schrift
ihre Entftehung verdanken. Sie verräth ein tiefes Gefühl
für die Unzulänglichkeit der heutigen Predigt. Die mit
der urchriftlichen Anfchauung ftark contraftirende Richtung
des modernen Denkens, eine grofse Zerfplitterung
des Intereffes und der Arbeit in unferen Tagen, die
fchwerverftändliche Sprache des Chriftenthums, der Mangel
an den elementarften Bedingungen für die Religion
bei unfern Zeitgenoffen, die Herausbildung mannigfacher
idealer Bedürfnifse, und die Befriedigung derfelben auf
Kotten des religiöfen Organs, der Goethe- und Wagner-
cultus, der focialiftifche Chiliasmus u. f. w., alle diefe
Umftände, welche das Geiftesleben unferer Zeit charak-
terifiren, find ebenfo viele Hindernifse für eine erfolgreiche
Verkündigung des Evangeliums. Die höchft lefens-
werthe Ausführung des Verfaffers über die angegebenen
,Stimmungen und Gedankengänge der Gegenwart' (p.
104 fr.) ift vielleicht nicht dazu angethan, die Schaffensfreudigkeit
der Prediger zu erhöhen, aber wem es nicht
mehr gelingt, mit dem Hinweis auf den allmächtigen
Herrn der Kirche oder mit kleinen Mittelchen, wie fie
auf kirchlichen Verfammlungen angepriefen werden, fein
Gewiffen zu befchwichtigen und über den Gegenfatz
zwifchen dem hergebrachten Chriftenthum und der modernen
Welt zur Tagesordnung überzugehen, der wird fich
vielmehr freuen, dafs hier einmal diefer Gegenfatz nicht nur
in feiner vollen Schärfe empfunden und anerkannt fondern
auch einer ernften fächgemäfsen Unterfuchung unterzogen
wird, ohne dafs die klaffende Kluft voreilig mit den mor-
fchen Balken der alten Apologetik überbrückt würde. Wir
können es nur billigen, wenn der Kirche als dringende
Aufgabe empfohlen wird, nicht nur die zu hüten, die
noch im alten Glauben flehen, fondern verftändlich und
überzeugend auch für die Heutigen zu reden, die bereits
ihre Ideale haben. Die ,gläubige Gemeinde', in den

grofsen Städten wenigftens, ift nur eine Fiction. In Wahrheit
führt die Theorie von der blofsen Erbauungspredigt
in den meiden Fällen nur dahin, dafs Prediger und Gemeinde
fich für eine Stunde in einen fremdartigen Glauben
hineinpredigen und -fingen.

Doch noch eine andere Empfindung dürfte den Ver-
j faffer bei feinem Verfuch geleitet haben, wenn er diefelbe
auch nicht ausfpricht. Die Entwicklung der Wiffenfchaft
von den Anfängen des Chriftenthums war in den letzten
; jähren fo geftaltet, dafs es der fyftematifchen und prak-
tifchen Theologie immer fchwerer wird, ihre Directiven
daraus zu entnehmen. J. Weifs gehört zu Denen, die
in der Verfolgung rein hiftorifcher Gefichtspunkte fich
weit von den kirchlichen Bahnen entfernt hatten. Er
wird es alfo vor Allem als feine Pflicht erachtet haben,
für eine Wiederherftellung der Beziehungen Sorge zu
tragen. So erklärt es fich, dafs, während diefes fein
neueftes Werk dem Problem der zeitgemäfsen Predigt
gewidmet ift und die dogmatifche Wichtigkeit der Formel
von der Nachfolge Chrifti zu erweifen fucht, doch die
gröfsere Hälfte der Abhandlung in einer hiftorifchen Erörterung
über den Sinn der Jüngerfchaft Jefu in den
I neuteftamentlichen Urkunden befteht. Nicht nur in den
Synoptikern, fondern auch in dem vierten Evangelium
glaubt der Verfaffer neben einer jüngeren, fchon mehr
j dogmatifch beeinflufsten Strömung, eine ältere, urfprüng-
lichere Idee aufweifen zu können. Jefus war von einer
Menge umgeben, in welcher alle Stufen des Intereffes,
des Vertrauens fich vorfanden. Das Wefen diefer weiteren
jüngerfchaft lag nur darin, dafs man Jefu folgte. Die
1 tiefergehenden, myftifchen Ausfagen des vierten Evan-
} geliums werden auf die Glaubenserfahrungen der fpäteren
Gemeinde zurückgeführt, und im Gegenfatz dazu das
j gröfsere Gewicht auf diejenigen Ausfprüche gelegt, wonach
der Glaube der Jünger vor Allem im fittlichen
j Handeln, in der Ausübung des Willens Gottes nach dem
Beifpiel des Meifters zum Ausdruck kommt. Doch foll
auch ein perfönliches Verhältnifs zu Jefus gelehrt werden,
| aber die Erklärung dafür liege darin, dafs Jefus in einem
[ einzigartigen Liebesverhältnifs zum Vater flehe und
Andere hinzuzuführen fich berufen fühle.

Offenbar hat der Gedanke an die praktifchen Zwecke,
welche der zweite Theil verfolgt, derExegefe des Verfaffers
in der erften Hälfte eine ftarke fubjective Färbung verliehen.
Gab feine frühere Abhandlung über den Reich-Gottesgedanken
Jefu Anlafs zu der Bemerkung, dafs feine Zeich-
j nung des Ürchriftenthums eine übertrieben jüdifche fei, fo
flöfst diefe Conftruction die Beforgnifs ein, eine einfeitig
modern gerichtete zu fein. Es mufs fchon auffallen, dafs bei
j Feftftellung des Wefens der Jüngerfchaft in den Synoptikern
die Meffiasfrage erft an fünfter und letzter Stelle
berührt wird, was übrigens für den Verfaffer felbft nicht
ohne ein gewiffes Bedenken (vgl. p. 29) abgeht. Mufste
nicht gerade im Hinblick auf die dogmatifche Erörterung
vor Allem gefragt werden, nicht fowohl was die Jünger
als das Wefentliche in ihrer Stellung anfahen, als worauf
1 das Verhältnifs in Jefu Augen fich gründete? Doch es kann
| die hiftorifch allein völlig zutreffende Meffiasbezeichnung
nur unter Aufbietung mannigfacher umfchreibenden Formeln
und mit gar zu deutlicher Abficht ferngehalten
werden: vgl. p. 21 f. Wie mühfam erfcheinen die exege-
tifchen Kunftftücke wodurch das meffianifche Moment auch
bei einer Stelle wie Luc. 14, 26 umgangen wird. Die fub-
ordinatianifch klingenden Äeufserungen des vierten Ewan-
I geliums werden fchwerlich in ihrer Ifolirung eine richtige
Deutung finden können. Dem ganzen Geifte diefes Werkes
gemäfs, hat das Ablenken Jefu von fich felbft auf den Vater
i nur den Zweck, fein Ich um fo inniger mit dem Vater zu verbinden
, und feine Verficherung, nichts Eigenes zu bringen,
[ dient vor Allem dazu, das Eigene als das des Vaters zu
kennzeichnen. Doch während der Verfaffer aus feiner
Betrachtung des Johannesevangeliums für feine dogmatifche
Darlegung einigen Nutzen zieht, fo darf man billig