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Ausgabe:

1895 Nr. 22

Spalte:

557-561

Autor/Hrsg.:

Tiefenthal, P. Fr.

Titel/Untertitel:

Daniel explicatus a T 1895

Rezensent:

Ryssel, Viktor

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557

Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 22. 558

Tiefenthal, Prof. Capitul. P. Fr., O. S. B., Daniel explicatus I die Weisfagungen Jef. c. 40ff. vom Propheten Jefaja her-

a T. Paderborn, F. Schöningh, 1895. (VI, 380 S. gr. 8.)

M. 9.

Man würde den vorliegenden Danielcommentar mit
wenigen Worten erledigen können, wenn er nicht als
typifches Beifpiel der modernen katholifchen Bibelauslegung
für uns proteftantifche Theologen eine fehr be-
herzigenswerthe Lehre enthielte. Denn da fich in diefem
Werke die unheilvollen Folgen der unproteftantifchen
Gebundenheit an vorgefafste Meinungen im grellften
Lichte zeigen, fo können wir an ihm lernen, wohin auch
wir mit gebundenen Händen treiben würden, wenn wir
uns durch ftarres Fefthalten an der mechanifchen Infpi-
rationslehre zu einem Verzichte auf das Recht der hifto-
rifchen Kritik gegenüber den Büchern des alten und
neuen Teftamentes nöthigen liefsen. Es ift ja begreiflich,
dafs man angeflchts gewiffer Ausfchreitungen der bibli-
fchen Kritik das Recht der Ueberlieferung wieder zu
gröfserer Geltung zu bringen beftrebt ift. Aber fobald
man, um die Hyperkritik auszurotten, die hiftorifche
Kritik felber preisgeben wollte, würde man auf jede freie
Forfchung zu Gunften eines über den literarifchen That-
fachen flehenden Principes auch dann Verzicht leiden

rühren (f. z. B. S. 296). Alle gegen diefe zeitliche An-
fetzung des B. Daniel Breitenden Gründe werden gewalt-
fam befeitigt. Es kann jetzt als allgemein zugeftanden
gelten, dafs der Verfaffer des B. Daniel keine genaue
Kenntnifs der politifchen Verhältnifse zur Zeit des Unterganges
des chaldäifchen Reiches mehr befafs, und auch
z. B. A. Köhler hat dies in feinem Lehrbuch der bibli-
fchen Gefchichte (II, 2, 537) unumwunden anerkannt, weil
,er Belfazar als letzten chaldäifchen Alleinherrfcher
dachte'. Da fomit Belfazar in der Ueberlieferung, welcher
jener folgte, bereits mit feinem Vater zu einer Perfon
zufammengefchmolzen war, fo zieht Köhler daraus den
Schlufs, dafs das Buch Daniel erft in verhältnifsmäfsig junger
Zeit entftanden fein könne, ebenfo wie er (S. 545 Anm.)
den Abfchnitt c. Ii, 23—39 als eine fpätere Einfchaltung
eines Zeitgenoffen der Erfüllung anfleht. Tiefenthal dagegen
fucht diefem durchfchlagenden Beweife wiederum
durch die früher übliche, jetzt aber angeflchts der ficheren
und genauen Angaben der Keilfchrifttexte nicht mehr
ftatthafte Ausflucht zu entgehen, dafs Belfazar identifch fei
mit Evilmerodach, wobei er die Anficht Fabre d'Envieu's,
dafs Belfazar nur bei feiner Thronbefteigung diefen Namen
mit dem Namen Evilmerodach vertaufcht habe, mit der

müffen, wenn die inneren Gründe dem vorurtheilslofen j Miene eines Vertreters der wiffenfchaftlichen Kritik als
Forfcher ein flcheres Refultat an die Hand geben, das 1 unbewiefene Vermuthung zurückweift. Und ähnlich ver-
fich mit der äufseren Bezeugung durch die Tradition I fährt er auch mit allen anderen Gegengründen gegen
fchlechterdings nicht vereinigen läfst. Mancher, der im die Abfaffung des B. Daniel in der Exilszeit, wie er

Eifer des Augenblicks nicht abgeneigt wäre, die Fertig
keit der zur herrfchenden Norm erhobenen Tradition
gegen die oft unficheren und fchwankenden Refultate der
Kntik einzutaufchen, würde doch wohl erfchrecken und
zur Selbftbefinnung gebracht werden, wenn er bei der
Leetüre von Tiefenthal's Danielcommentar fähe, wie der
Verfaffer, weil er von der Danielifchen Authentie und
der abfoluten hiftorifchen Glaubwürdigkeit nicht blofs
des Buches Daniel fondern ebenfo auch der apokryphen
Zufätze wie von einem feftftehenden Glaubensartikel von
vornherein überzeugt ift, nun auch diefe vor dem Lichte
der hiftorifchen Wahrheit nicht ftandhaltenden Behauptungen
mit einer bedauernswerthen Verblendung, die

auch die an fleh unwefentlichen Widerfprüche innerhalb
des Buches Daniel durch exegetifche Kunftgriffe aus der
Welt fchafft. — Weiter wirkt feine Anfleht über die Ab-
faffungszeit zufammen mit feiner Anficht über das Wefen
der Prophetie auch auf die Auffaffung der apokalyp-
tifchen Schilderungen von Vergangenheit und Zukunft
ein, indem beides auf eine von dem Daniel der Baby-
lonierzeit weit abliegende Zeit bezogen wird. So ift
nach ihm in 9, 25 der ,Gefalbte', der ,Fürft', nicht
etwa Cyrus, fondern Chriftus; die vierte Monarchie in
den Capiteln 2, 7 und 9 nicht das griechifche Reich
Alexander's des Grofsen, fondern das römifche Weltreich,
die zehn Hörner 7, 7 nicht zehn Könige, fondern zehn

hm die Unwahrhaftigkeit feiner Beweisführung gar nicht Reiche, wobei die Zehnzahl nur ganz allgemein die

zum Bewufstfein kommen läfst, als allein berechtigt zu j ,Univerfalität' bezeichnen foll, und ebenfo feien die

erweifen fucht. Es ift, als ob Kamphaufen, als er in 70 [Jahrjwochen 9, 24 wegen der fymbolifchen Bedeutung

feinem Vortrage über ,das Buch Daniel' (Leipzig 1893) der Zahl 7 .fymbolifch zu verftehen'. Dabei hat er eine

diefe Art katholifcher Exegefe fchilderte, bereits diefen | Vorliebe für Beziehungen auf die Gegenwart, die uns

neueften katholifchen Danielcommentar vor fleh gehabt j allerdings z. Th. recht fonderbar anmuthen. Als Sach-

hätte, fo fehr ift jedes feiner Worte dem Verfaffer auf j parallele ift es ja erträglich, wenn er den Wahnflnn

den Leib gefchnitten. In feinem Sinne halten auch wir Nebukadnezar's, der fich nach Fabre d'Envieu ,für den

es für unfere Pflicht, diefe unfreie und unwahre Art der Stiergott Kirub oder den chaldäifchen Herkules hielt',

Exegefe zu bekämpfen; möchte dabei zugleich auch dies den Wahn Ludwig's II. von Bayern, dafs er Lohengrin

erfichtlich fein, dafs .unfere Polemik nur dem falfchen fei( an die Seite Hellt; aber es widerftreitet unferem

Syftem, nicht der durch dasfelbe verblendeten Perfon gilt'
Die dogmatifche Gebundenheit des Verfaffers zeigt
fleh nun zunächft darin, dafs er die apokryphen .Stücke
zum Buche Daniel' in die Erklärung des kanonifchen
Buches hineinzieht. Da er ihren Inhalt entfprechend den
Forderungen des Tridentinums dem des altteftament-
lichen Buches gleichftellt, und alles als ftreng hiftorifche
Wahrheit anfleht, fo hat er die Stücke dort eingefügt,
wo das in ihnen über Daniel Berichtete feines Erachtens
zeitlich hingehört. Die Reihenfolge der erklärten Stücke
ift darum folgende: 1) Einleitung: c. I u. c. 13, I—64 (in
der Vulgata); — 2) Erfter Theil der Weisfagung c. 2—3,
23. 3, 24—90 (der Lobgefang der drei Jünglinge im Feuerofen
), c. 3, 91 — 100 (= MT V. 24—31). c. 4—6. c. 13,
65—14, 42 (in der Vulgata); — 3) Zweiter Theil der Weisfagung
c. 8—12. — Ferner ift der Verfaffer der Ueber-
zeugung, dafs die Abfaffung des Buches Daniel ,keines-

Empfinden, und zwar nicht blofs aus politifchen Gründen,
wenn er (S. 7) Daniel, der mehr als irgend ein anderer
zeige, dafs Gott immer für die Bedürfnifse feines Reiches
den paffenden Mann zu erwecken wiffe, mit — Windhorn!
vergleicht, den Gott fandte ,ad defendendam ecclesiam in
sie dicto Kulturkampf.

Aber auch das zweite der für die heutige katholifche
Exegefe charakteriftifchen Merkmale haftet dem Daniel-
commentareTiefenthal's an: die völlige Abhängigkeit der
Einzelauslegung von der Auslegung der proteftantifchen
Exegeten. Merkwürdiger Weife wirkt diefe Abhängigkeit
des Verf.'s von der durch ihn benutzten Vorlage, dem
Danielcommentare Keil's, in einem Punkte fogar be-
fchränkend auf feine dogmatifche Gebundenheit ein, und
zwar auf dem Gebiete der Textkritik, wo fich gerade
bei anderen neueren katholifchen Auslegern der katholifche
Standpunkt fehr energifch geltend macht. Es han-

falls einem Fälfcher des 2. Jahrhunderts zugefchrieben ] delt fleh da um die Ueberfchätzung der Vulgata als der
werden dürfe', vielmehr habe Daniel felber, der prophe- | ,authentifchen Ueberfetzung' gegenüber dem Urtexte,
tifche Mann am Babylonierhofe, alles aufgezeichnet, 1 welche z. B. bei Zfchokke in feinem Hiobcommentar
ebenfo wie er auch als felbftverftändlich annimmt, dafs ] (Wien 1875) fo weit geht, dafs er felbft augenfeheinliche