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Ausgabe:

1895 Nr. 20

Spalte:

523-525

Autor/Hrsg.:

Gottschick, Johannes

Titel/Untertitel:

Theologische Wissenschaft und Pfarramt. Vortrag auf der 4. Hauptversammlung des württ. ev. Pfarrvereins in Stuttgart am 17. April 1895 1895

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 20.

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zelheiten ift die kleine Schrift doch wohl geeignet, ein
anfchauliches Bild von des Erasmus religiöfer Stellung
zu "-eben und ift eine dankenswerthe Bereicherung der
Erasmus-Literatur.

Erasmus ift nach Lezius ,Moralift und Biblicift zugleich
' (S. 15); fein ,Moralismus war oberflächlich, aber
ehrlich und echt. Er hat es zuweilen mit der Sittlichkeit
und Ehrlichkeit nicht ganz genau genommen, aber er
hat es doch mit leidlichem Ernfte gewagt, feinen leichtfertigen
Zeitgenoffen Moral zu predigen'. Diefer ,Mora-
lismus befähigte ihn, die Nichtigkeit der veräufserlichten
römifchen Werkerei und der Superftition zu durchfchauen'
(S. 27). ,Sein Biblicismus machte ihn felbftändig, den
Decreten der Päpfte, der Lehre der Kirche, den Aufhellungen
der Scholaftiker gegenüber' (S. 46). So war er
,humaniftifcher Reformkatholik des fünfzehnten Jahrhunderts
', aber er war nicht fähig, ,ein Proteftant des
fechzehnten Jahrhunderts' zu werden. ,Er war dazu nicht
ernft genug' (S. 47). ,Seine Papftverehrung', feine ,fana-
tifche Friedensliebe', ,feine Angft vor dem, was er Tumult
nannte' wurden ihm verhängnifsvoll. Er hat in vieler
Hinficht fpäter ,feine beffere Vergangenheit verleugnet'
(S. 64); aber in der Hauptfache war er — und das gereicht
ihm zur Entfchuldigung — ,im Grunde feines
Wefens Katholik gewefen und geblieben', ,in der Rechtfertigungslehre
' (S. 70). Da er in diefer centralen Lehre
Luther nicht verftand, fo .vermochte er nicht, Proteftant
zu werden' und ,fo mufste er fchon in der Papftkirche
bleiben' (S. 71). Was dem Erasmus feine hohe, typifche
Bedeutung giebt: ,er hat die Stimmungen und Gedanken
einer Uebergangszeit beffer als die meiften feiner Zeitgenoffen
zum Ausdruck gebracht' (S. 72). In höchft
inftructiver Weife vergleicht Lezius S. 48 t. den Erasmus
mit Zwingli, um fo feine Eigenart in hellere Beleuchtung
zu ftellen. Auch Zwingli hat fein Reformationswerk als
humaniftifcher Katholik begonnen, aber angeregt von
Luther, ift er über diefen Standpunkt hinausgewachfen
und hat ,die volle Kraft feines Glaubens, alle hohen und
niederen Gaben feines Geiftes in den Dienft feiner heiligen
Sache geftellt und ift mit feiner Perfon voll für fie eingetreten
' (S. 49). ,Ganz anders Erasmus. Ihn drängte es
nicht, das für wahr und recht Erkannte mit Einfetzung
feiner Perfon zu vertreten. Er konnte wohl mit grofser
Kühnheit kritifiren, drohte es aber zum Handeln zu
kommen, fo fiel es ihm leicht, den Eingebungen feiner
naiven Selbftfucht zu folgen und feine beffere Erkenntnifs
zu verhehlen oder zu verleugnen. Um eine charaktervolle
Haltung zu behaupten, fehlte es ihm an Willens-
ftärke und am Muth der Ueberzeugung'. Das ift in
wenigen Worten eine treffende Charakteriftik des Huma-
niftenkönigs! —

Es ift fehr zu beklagen, dafs der verdiente Gelehrte,
der den Erasmus nach feiner Bedeutung für Erziehung und
Unterricht für de.Monumenta Germaniaepacdagogica bearbeitete
, Karl Hartfelder, fo früh, vor Vollendung feines
Werkes geftorben ift. Auch gerade die religiöfe Stellung
des Erasmus würde durch diefe bewährten Händen anvertraute
Veröffentlichung klarer geftellt fein. Möchte
ftch bald ein tüchtiger Kenner des Humanismus finden,
der das Erbe Karl Hartfelder's antritt und die Monu-
menta Germaniae paedagogica und die ganze gelehrte
Welt mit einem muftergültigen Werke über Erasmus
befchenkt!

Markoldendorf (Hann.). Ferdinand Cohrs.

Gottschick, Prof. D., Theologische Wissenschaft und Pfarramt
. Vortrag auf der IV. Hauptverfammlung des
württ. ev. Pfarrvereins in Stuttgart am 17. April 1895.
[Aus: ,Kirchl. Anzeiger f. Württemberg'.] Ludwigsburg,
(J. Aigner), 1895. (40 S. gr. 8.) M. -. 50

Der in jeder Beziehung zeitgemäfse Vortrag Gott-
fchick's will den Nachweis führen, dafs theologifche

Wiffenfchaft und Pfarramt beide weder der Idee nach
noch wie fie concrete Gröfsen der gegenwärtigen Wirklichkeit
find, in einem principiellen Gegenfatz flehen,
fondern dafs fie vielmehr auch heute noch, wie in den
Tagen Luther's, Bengel's, Schleiermacher's, zu der engften
fachlichen wie perfönlichen Verbindung berufen und fähig
find. Um diefen Satz zu begründen, fafst der Verf. zu-
erft das Verhältnifs von Theologie und Kirche ins Auge.
Wenn auch die durch die gefchichtliche Offenbarungs-
that Gottes in Chrifto ins Dafein gerufene Kirche ihrem
Wefen und Wirken nach von der Wiffenfchaft unabhängig
ift, fo ift ihr doch die Theologie fowohl zur Verbreitung
als zur Erhaltung des Evangeliums unentbehrlich
. Die Stätte aber, an welcher vor allem die Ergeb-
nifse der theologifchen Wiffenfchaft praktifch fruchtbar gemacht
und ihr kirchlicher Werth erprobt werden mufs,
ift die Thätigkeit des Pfarramts. Die Erfordernifse pfarramtlicher
Verkündigung des Evangeliums, nämlich das
fachlich ausreichende Verftändnifs des Evangeliums, die
felbftändige geiftige Herrfchaft über die Lehrftoffe, die
Fähigkeit, alle zu verliehen und allen alles zu werden,
diefe Erfordernifse wachfen nur aus dem lebendigen Zu-
fammenhang mit der theologifchen Wiffenfchaft, und zwar
mit einer folchen, welche auf die Bedürfnifse der Gegenwart
Rückficht nimmt, alfo einer irgendwie modernen.
Es erhebt fich nun aber die heute fo viele Gemüther
bewegende Frage: Darf im Pfarramt von einer Theologie
Gebrauch gemacht werden, die, wenn fie auch der Religion
der Bekenntnifse entfprechen mag, doch — wie es
von jeder modernen Theologie nur in verfchiedenem
Mafse gilt — mit der den Bekenntnifsen zu Grunde
liegenden Theologie fich nicht deckt? Zur Behandlung
diefer Frage wendet fich G. nun an das durch das Evangelium
zugleich befreite und verpflichtete Gewiffen; dagegen
erwartet er kein Heil von menfchlichen durch Mehr-
heitsbefchlüffe hergeftellten Rechtsordnungen.— Den geift-
und pietätvollen Ausführungen desVerf.'s, der mit tapferer
Offenheit ein hohes Mafs pädagogifcher Weisheit zu
verbinden weifs, wird kein Lefer ohne Anregung und
Förderung folgen; vor allem werden die angehenden
Geiftlichen dem Führer dankbar fein, der ihnen die Kraft,
den Muth und die Freudigkeit im Amte durch feine
klaren und warmen Worte ftärkt und mehrt. Nur ein
Bedenken darf ich hier nicht unausgefprochen laffen: es
betrifft das Verhältnifs des Liturgen zu den nach feiner
Ueberzeugung inadaequaten liturgifchen Formeln. Ift hier
nicht eine Nothlage vorhanden, deren Gefahren G. vielleicht
unterfchätzt? Ift es dogmatifcher Rigorismus, wenn
ich, die Frage verallgemeinernd, die Befürchtung aus-
fpreche, dafs gerade auf dem Wege der Liturgie, durch
Gebete und Lieder, durch liturgifche Formeln und Bekenntnifse
Vorftellungen fortgepflanzt und vielleicht mitunter
neu erzeugt werden, die der Pfarrer in feiner fon-
ftigen Thätigkeit, in Predigt, Unterricht und Seelforge,
durch treue Anwendung echt evangelifcher Mafsftäbe
zu entwurzeln fich beftrebt? Wenn G. urtheilt, dafs auf
diefem Gebiete die Theologen fich durch viele Laien be-
fchämen laffen dürften, fo wird man wohl antworten
muffen, dafs viele Laien durch Gewohnheit und Gedanken-
lofigkeit vor Anfechtungen und Conflicten gefchützt
find, deren Wucht einem gewiffenhaften Pfarrer fchwer
auf die Seele fällt. — Uebrigens wird der Lefer eine ge-
wifs willkommene Ergänzung und Begründung einzelner
Theile des gedankenreichen Vortrags in Gottfchick's
früheren Schriften finden. Zu den Bemerkungen über
das kirchliche Recht und den kirchlichen Werth einer
Theologie, S. I4fg., vgl. ,Die Kirchlichkeit der f. g. kirchlichen
Theologie', Freiburg i. B. 1890, S. 1—10 u. passim;
zu den Winken über die Schrift- und Gefchichtsforfchung
S. 31 fg. vgl.,Die Bedeutung der hiftorifch-kritifchen Schrift-
forfchung für die evangelifche Kirche', 1893. Hoffentlich
ift die beifällige Aufnahme, die dem Vortrag von Seiten
des Württ. ev. Pfarrvereins zu Theil wurde, ein glück-