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Ausgabe:

1895 Nr. 20

Spalte:

522-523

Autor/Hrsg.:

Lezius, Friedr.

Titel/Untertitel:

Zur Charakteristik des religiösen Standpunktes des Erasmus 1895

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 20.

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ihr Refultat in der Hauptfache ift, Bedenken erweckt.
Selbft wenn ich mich auf den Standpunkt (teile, dafs die
unbeftimmte, ahnende und taftende, dem pfychologifchen
Erlebnifse niemals adäquate Sprache des Frommen, die
fich mit dem unfafsbaren Pathos des Dichters berührt,
in der wiffenfchaftlichen Reproduction hier und da fich
verhärten muffe zu fetten Begriffen, — fo fehe ich doch
nicht ein, weshalb man fich dann nicht wenigftens an
die von den Quellen felbft dargebotenen .Begriffe' halten
foll. Schäder behandelt fein Problem nicht nur als ein
biblifch-theologifches', fondern auch in modern theolo-
gifchen Formulirungen. Immer wieder heifst es bei
ihm, Paulus habe .in' (S. 44, 47, 48, 51) der .übergefchicht-
hchen' (S. 38, 55) ,Perfon' (S. 44, 48, 51) des ,gefchicht-
lichen' (S. 38) Jefus den Grund der Rechtfertigung ge-
fehen. Das find lauter moderne Ausdrücke, die nur zu
leicht das gefchichtliche Verftändnifs des Paulus trüben.
Selbft der erfte ift bei Schäder nur fcheinbar paulinifch.
Im Sinne des Apoftels könnte allerdings gefagt werden,
die Rechtfertigung finde ftatt ,in Chrifto'; iv XgcOTü},
d. h. innerhalb des als Pneuma die Gemeinde durchwaltenden
erhöhten Chriftus, werde man gerechtfertigt.
Dafs Schäder ein Verftändnifs für diefen Gedanken des
Paulus hat, zeigen feine m. E. vorzüglichen Sätze S. 30
oben. Aber er lehnt dort fogleich ausdrücklich ein Eingehen
auf den ,Geiftesftand' Chrifti ab, da es ihm nur
darauf ankomme, zu verliehen, inwiefern Paulus den bedingenden
Grund für die Schuldfreiheit des Sünders ,in
der^Perfon' des lebendigen Chriftus zu erkennen vermag.
Diefes ,in der Perfon Chrifti' ift aber etwas anderes, als
das paulinifche ,in Chrifto'. Eine Unklarheit liegt be-
fonders in der Verwendung des Begriffes ,Perfon'. Das
Alterthum hat denfelben fchwerlich gekannt; weder persona
, noch vaüinaaic und ngoocmov dürften dem ent-
fprechen, was wir in der Chriftologie heute ,Perfon'
nennen, wenn wir von der Bedeutung der Perfon Chrifti
reden. Der Begriff ift zudem auch heute noch nicht fo
klar herausgearbeitet, dafs man bei feiner Anwendung
auf ein einheitliches Verftändnifs rechnen dürfte. Am
meiften auszufetzen habe ich an der Verwendung der
Begriffe .gefchichtlicher Chriftus' und .übergefchichtlicher
Chriftus', von denen die Arbeit wiederhallt. Wer das unglückliche
,übergefcnichtlich'erfunden hat, weifs ich nicht;
mein methodologifches Gewiffen fleht wie fchwindelnd
vor den räthfelhaften Tiefen, die ihm aus diefem Begriffe
entgegengähnen, und ich habe nur den Eindruck, als
folle er das grofse ernfte Problem verfchleiern, von deffen
Löfung die wiffenfchaftliche Selbftbehauptung der Theologie
abhängt, die Frage, wie fich Glaube und Gefchichte
zu einander verhalten. Immerhin, wer fich in feiner Weltbetrachtung
mit Hülfe der Suprahiftorie glaubt zurechtfinden
zu können, der mag es thun. Aber man follte
fich das Glaubensleben eines Mannes der apoftolifchen
Zeit nicht danach zurechtlegen. Paulus hat, wie das
Alterthum überhaupt und das Mittelalter, nicht einmal
den Begriff ,gefchichtlich' gekannt, auch nicht die wiffenfchaftliche
Betrachtungsweife geahnt, die fich in dem-
felben ankündigt. Die Annahme, ein .hiftorifcher' Chriftus
habe in der Gedankenwelt des Apoftels eine Rolle ge-
fpielt, ift ein weitgehender Anachronismus. Es foll ja
nicht beftritten werden, dafs wir bei der Reproduction
der altchriftlichen Gedanken auch fpäter entftandene Begriffe
als Hülfsmittel gebrauchen dürfen. Selbft gegen
die Verwendung von ,gefchichtlich' wäre nicht immer
etwas zu erinnern; aber das Wort darf nicht in dem
methodologifch empfindlichen Sinne gebraucht werden,
den es durch die Entgegenftellung von ,übergefchichtlich'
erhält. In einem weiteren Sinne könnte man allenfalls
den irdifchen Chriftus vor feiner Erhöhung bei Paulus
den gefchichtlichen Chriftus nennen; in keinem Falle
aber darf — wenn wirklich die Meinung des Apoftels
getroffen werden foll — der Erhöhte dann als ,über-
gefchichtlich' charakterifirt werden. Das wäre ebenfo verkehrt
, als wollte man den ,präexiftenten' (ob felbft diefer
j Ausdruck dem Gedanken des Apoftels gerecht wird, bezweifele
ich) Chriftus des Paulus als ,prähiftorifchen' bezeichnen
. Der erhöhte Chriftus ift dem Apoftel genau
I diefelbe gefchichtliche, reale Gröfse in der Gegenwart,
die ihm der erniedrigte Chriftus in der Vergangenheit ift.
Für ihn fleht Chriftus gebietend in der Gefchichte, ihr
Wendepunkt in der Vergangenheit, ihr Angelpunkt in der
Gegenwart, ihr Zielpunkt in der Zukunft. Mit einem über-
gefchichtlichen Chriftus hätte er nichts anzufangen ge-
wufst, fo wenig wie mit einem übergefchichtlichen Gott.
Der erhöhte Chriftus des Paulus ift genau fo gefchicht-
lich, wie der Gott, der ihn über die Leiden diefer Zeit,
über Gegenwärtiges und Zukünftiges triumphiren liefs. —
Das Druckfehlerverzcichnifs beginnt mit einem Druck-
1 fehler, dem zweimal gefetzten Zeichen „, welches in die
! folgende Zeile gehört und durch die dort flehenden
I Wörter ,Seite' refp. ,Zeile' zu erfetzen ift; es enthält zwei
unbegründete Selbftanklagen: S. 27 Z. I v.u. fleht ,1 Kor.
15, 1 ff.' und ebenfo S. 64 Z. 2 v.u. (Anm.) ,Kähler', wenigftens
in meinem Exemplar. Die von Schäder freilich
nicht confequent (S. 9 dreimal G<'p§) befolgte Sitte, grie-
chifche Oxytona auch im Zufammenhange des deutfehen
Textes mit dem Gravis zu verfehen, ift verkehrt. S. 41,
j Z. 8 v. u. (Anm.) lies ftatt 61; S. 72, Z. 5 v. o. tri ftatt g ;
I S. 98 fleht zweimal auiv. Die Verweife auf die Literatur
I find mir nicht genau genug. ,Cremer f. o.' (S. 28 Z. 21
v. o.) und ,Cremer f. o.'(S. 60 Z. 15 v. o.) mufs wohl heifsen
,Cremer s. v.' Im Gebrauche von bekanntlich' follte
Schäder vorfichtiger fein; weshalb follen die Lefer fich
z. B. S. 7, 9 und 70 erröthend fagen müffen, dafs fie die
dort flehenden .bekanntlichen'Dinge nicht gewufst haben?

Herborn. A. Deifsmann.

Lezius, Privatdoz. Lic. Friedr., Zur Charakteristik des religiösen
Standpunktes des Erasmus. Gütersloh, Bertelsmann
, 1895. (72 S. 8) M. 1.—

,Es wird noch lange dauern, bis Erasmus einen Biographen
findet, der feiner Aufgabe gewachfen ift, und
bis eine eingehende theologifche Würdigung des Mannes

j verfucht wird' (S. 4) fagt mit vollem Recht der Herr
Verfaffer der vorliegenden, eine Antrittsvorlefung in erweiterter
Geftalt uns darbietenden Brofchüre. So bekannt,

| ja berühmt der Name des Erasmus ift, es fehlt uns noch an
einer muftergültigen, umfaffenden Biographie — die 1870

| von Stichart erfchienene würdigt Lezius nur als .ziemlich
reichhaltige Materialienfammlung' (S. 4, Anm. 1) —,
und die einander widerfprechenden Beurtheilungen des
grofsen Humaniften, der bald als charakterlos (Stichart),
bald als charakterfeft (Maurenbrecher, Gefchichte der
katholifchen Reformation), bald gar als fittlich über

! Luther und Zwingli Hellend (Drummond, Erasmus, Iiis

J lifc and character) dargeftellt wird, laffen uns auch nicht
hoffen, dafs diefe offenbare Lücke in der biographifchen

I Literatur fo bald wird ausgefüllt werden.

Der Herr Verfaffer hat jedenfalls die wichtigfte und

| intereffantefte Frage für feine Specialunterfuchung gewählt
, die Frage: wie ift die religiöfe Stellung des Mannes

j zu beurtheilen? Von vorne herein fchliefst Lezius, weil
er nicht mehr als eine ,Skizze' geben will und auf Voll-

| ftändigkeit keinen Anfpruch macht, bedeutfame Momente
aus, z. B. des Erasmus Stellung zur Wiedertaufe und
zur Täuferfrage überhaupt. Aber abgefehen von einigen
befremdenden Urtheilen (bef. S. 14, wo Erasmus eine
.religiöfe Perfönlichkeit', ein .aufrichtig frommer Mann',
,in feiner Art' freilich, genannt wird) und einigen Wiederholungen
(S. 39 und 46 wird von des Erasmus Behandlung
der römifchen Sacramente fall das Gleiche berichtet;
S. 45 wird ganz unnöthig wiederholt, dafs, wie S. 44 eben
erwähnt war, Erasmus die reale Gegenwart des Leibes
Chrifti im Abendmahl öffentlich nicht geleugnet habe)—

I abgefehen von folchen nicht ins Gewicht fallenden Ein-