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Ausgabe:

1895

Spalte:

426-427

Autor/Hrsg.:

Lenz, J.

Titel/Untertitel:

Aus dem inneren Leben. Ein Jahrgang Predigten 1895

Rezensent:

Wächtler, August

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 16.

426

die Rede durchweg, wie Tag und Ort es gebot, auf der
Höhe vornehmer, rein wiffenfchaftlicher Sachlichkeit.
,Nicht die Löfung fchwebender Zeit- und Streitfragen,
fondern das Problem felbft will ich Ihnen vorlegen, —
fagt der Redner. — Wie ift die Parität entftanden? In
welcher Mannigfaltigkeit der Erfcheinungsformen hat fie
fich eingeführt und ausgewirkt? Was ift hiernach der
Kernpunkt der gegenwärtigen Frage?' Diefer Ankündigung
entfprechend ift der Inhalt der Rede vorzugsweife
gefchichtlicher Natur. Nach einer kurzen Epifode gefetz-
licher Gleichberechtigung zwifchen Heidenthum und
Chriftenthum tritt die Zeit der Alleinherrfchaft des ka-
tholifchen Chriftenthums als Staatsreligion ein. Sie geht
durch das ganze Mittelalter. Der Gedanke eines gleichberechtigten
Nebeneinanderbeftehens wahrer und falfcher
Religion in demfelben Staatsgebiete ift für das herrfchende
Bewufstfein diefer Zeit eine Unmöglichkeit. Die Reformation
hat die perfönliche Gewiffensfreiheit hoch an die
Spitze geftellt, aber für die Freiheit der Gemeindebildung
und die Gleichberechtigung verfchiedener Bekenntnifse
neben einander nichts erreicht. Die überkommene An-
fchauung von dem religiöfen Beruf der Obrigkeit, von
Kirche und Staat nach unterer heutigen Ausdrucksweife,
bleibt im 16. Jahrhundert unverändert diefelbe. ,Es fehlt
die Grundvorausfetzung einer dualiftifchen Vorftellung
von Kirche und Staat als unterfchiedener und unter-
fcheidbarer Verbände. Die Reformation tritt in einen
Vorftellungskreis ein, welcher nur die ungetheilte Einheit
der chriftlich organifirten menfchlichen Gefellfchaft
kennt'. Der Religionsfriede von 1555 war nur ein Com-
promifs zwifchen den beiden im Reich vorhandenen
Religionsparteien; er brachte unter allem Rechtsvorbehalt
die gegenfeitige Sicherung des thatfächlichen Befitz-
ftandes, nicht die grundfätzliche Anerkennung der Rechtsgleichheit
. Der Weftfälifche Friede brachte endlich die
förmliche und gefetzliche Begründung der Parität, aber
nur für die Vertragfchliefsenden, d. h. die Reichsftände.
Seitdem bildete die Parität ein hochgehaltenes Stück der
Reichsverfaffung, doch meift nur mechanifch und engherzig
gehandhabt. Zum flaatsgeftaltenden Princip wurde
der Gedanke der Parität in den Territorialflaaten, zu-
vörderfl dem brandenburg-preufsifchen, deffen gefammte
Lage darauf hinwies, nach der Auflöfung des alten Reichs
in den faft fämmtlich confeffionell gemifchten Rheinbund-
ftaaten. Beftimmend wirkten überall die Gedanken des
aus dem Humanismus entfprungenen Naturrechts.

Das Ganze giebt in knappen Zügen ein treffendes, in
hohem Mafse belehrendes Bild des Gefchichtsverlaufs.
Das Aufkommen der Parität in den deutfchen Staaten,
dies geht aus den gefchildertcn Thatfachen unwider-
fprechlich hervor, ift nicht ein unmittelbarer Erfolg der
Reformation gewefen. Ob es indeffen richtig ift zu fagen,
wie von dem Verf. gefchieht (S. 7. 9): ,die Parität war
nicht ihre (der Reformation) innere Confequenz', ,Parität
und Reformation haben keinen inneren Zufammenhang',
möchte doch fehr zu bezweifeln fein. Die inneren Con-
fequenzen aus dem Princip der Reformation reichen bekanntlich
viel weiter als das, was im 16. Jahrhundert zu
Stande gekommen ift. Das kirchlich-politifche Syftem,
welches die Theologen des Reformationsjahrhunderts vorgefunden
und im Ganzen fich angeeignet haben (fie find
nach Kahl's richtigem Ausdruck in diefen Vorftellungskreis
.eingetreten'), kann nicht als der echte Ausdruck
des reformatorifchen Grundgedankens auf diefem Gebiete
gelten. Es ift in der Hauptfache das mittelalterlich ka-
tholifche; es läfst den unbeftreitbar aus dem eigenften
Wefen der Reformation geborenen und von ihm untrennbaren
Gedanken der Gewiffensfreiheit nicht zu feinem
Recht kommen. So ift es ficher kein Zufall, dafs bis
zum Aufklärungszeitalter die wiffenfehaftlichen Träger der
Paritäts- und Toleranzgedanken, von Spinoza abgefehen,
durchweg Proteftanten find, und dafs die thatfächliche
Begründung der Parität auf proteftantifche Staaten und

auf Herrfcher von fo durch und durch proteftantifchem
Charakter hinweift wie der grofse Kurfürft.

Heute ift der Gedanke der Parität für alle Staaten,
welche auf den Rang von Culturftaaten Anfpruch machen,
ein Axiom. Deffen fachgemäfse Durchführung läfst freilich
noch ein ungelöftes fchweres Problem übrig. Sehr
zutreffend weifen darauf einige Sätze im Schlufstheil der
Rede hin. ,ln der Schule der Erfahrung hat die naturrechtliche
Vorausfetzung von der abftracten Gleichheit
der Religionsgefellfchaften fich als irrthümlich erwiefen
und den Dienft für eine befriedigende Löfung der Paritätsfrage
verfagt. Das Naturrecht hatte, nicht nach theoretischer
Formulirung feiner Urheber, wohl aber in den
praktifchen Folgerungen der Epigonen das paritätifche
Problem felbft falfch geftellt: jedem das Gleiche, ftatt:
jedem das Seine. Nur Gleiches ift gleich zu behandeln.
Andernfalls entfteht nothwendig Imparität. Will der
Staat allen und fich felbft gerecht werden, fo ift dies
nur fo zu erreichen, dafs er in feiner Auffichts- und
Schutzgefetzgebung die einzelnen Religionsgefellfchaften
nach ihrem Wefen, ihrer Gefchichte, ihrer pofiti ven Rechtsordnung
fpeeififeh differentiirt. Damit ift der Kernpunkt
des paritätifchen Problems, wie es heute fich darftellt,
aufgedeckt'. Mit einer ungelöften Frage fchliefst die Rede;
es ift fchon ein Verdienft, die Frage klar und beftimmt
geftellt zu haben.

Darmftadt. K. Köhler.

Lenz, Paft. Diak. J., Aus dem inneren Leben. Ein Jahrgang
Predigten. Reval, Kluge, 1893. (IV, 505 S. gr. 8.) M.7. —

Hier wird uns eine Predigtfammlung geboten, die
nicht nur um ihres Urfprungsortes willen unfere Theil-
nähme erweckt, fondern diefe um ihres Inhalts willen in
vollem Mafse verdient. Der Inhalt rechtfertigt auch den
etwas unbeftimmten Titel, infofern alle diefe Predigten
befonders auf das innere Leben eingehen und auf deffen
Weckung und Pflege hinftreben. Vielleicht ift dies bezeichnend
für die Lage der evang. Gemeinde und für die
Haltung der evang. Predigt in den ruffifchen Oftfee-
provinzen, zumal das Buch ohne den Genehmigungsvermerk
der Cenfur, in Deutfchland gedruckt, ausgeht,
aber es zeugt auch von einem gefunden und kräftigen
Glaubensleben. Die Texte der 68 Predigten find theils
altkirchliche Perikopen, theils frei gewählte Abfchnitte,
die fich überall fehr paffend in den Gang des Kirchenjahres
einfügen. Die Predigten find alle von entfehiedener
evang. Ueberzeugung durchdrungen, kraftvoll und felb-
ftändig eindringend in die Glaubenswahrheiten der heil.
Schrift und voll Verftändnifs für alle Gebiete des inneren
Lebens und für deffen Anfechtungen und Hemmungen
in unferer Zeit. Die Sprache ift mufterhaft, natürlich,
verftändlich und anfprechend; nicht in dem unglücklichen
Schriftdeutfeh mit kunftvollen Perioden, fondern in kurzen,
knappen Sätzen, klar, treffend und fchlagend, aber auch
warm und herzlich legt der Prediger feine Gedanken dar.
Wir haben feiten ein Predigtbuch gelefen, das um diefer
Vorzüge willen gleiches Lob verdiente. Wo folche Predigten
gehalten werden, da wird auch eine Gemeinde
fein, die die Mahnung beherzigt, mit der die Reformations-
feftpredigt fchliefst: ,Bewahre Dir den lauteren Schatz
des lauteren Evangeliums. Das Evangelium ift unferer
irdifchen und ewigen Wohlfahrt Grundlage, ift unfers
Glaubens Kraft, unferer Liebe Quell, unferer Hoffnung
Anker. So halte es denn feft mit deinem ganzen Herzen.
Erhalte es dir, pflege es in den Häufern, in den Familien.
Lafs die Bibel nicht verftauben und das evangelifche
Lied nicht verdummen. Vererbe die Schätze der Reformation
deinen Kindern. Es ift das einzige Erbe, daran
nicht Roft noch Motten freffen.' Möge diefe Gemeinde
auch erfahren, was ihr in der Predigt über Rom. 8, 26
— wir wiffen nicht, was wir beten follen — bezeugt
wird: ,In Stunden des heifseften Leidens denkt man oft: