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Ausgabe:

1895 Nr. 16

Spalte:

415-418

Autor/Hrsg.:

Schlatter, Adolf

Titel/Untertitel:

Der Chronograph aus dem zehnten Jahre Antonins. Zur Überlieferungsgeschichte der altchristlichen Literatur von Adf. Harnack 1895

Rezensent:

Erbes, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 16.

416

wärtige ewige Leben ebenfo wie das gegenwärtige Reich
in Jefus', p. 129 ,es foll daran erinnert werden, dafs das
von Ifrael als Gabe Gottes erwartete Reich eben in der
Verwirklichung des Willens Gottes befteht'.

Es ift kaum nöthig, diefen Beifpielen, die fich noch
häufen liefsen, ein Wort hinzuzufügen. Der Reich-
Gottes-Begriff ift hier feiner ganzen concreten Beftimmt-
heit entleert und ein kautfchukartiges Etwas geworden,
mit dem fich jedes Prädicat bequem verbinden läfst, je
nach Belieben. Aber wie weit die hier geführte Sprache
fich von der des Evangeliums entfernt, das bedarf wohl
kaum eines Beweifes.

Von p. 149 an behandelt L. das zukünftige Reich.
Dafs auch hier die Stimmung des Evangeliums nicht
von weitem erreicht wird, kann nicht Wunder nehmen.
Ich citire nur einen Satz p. 152: ,So wenig das Reich
nur als künftig erwartet wird, fondern nur das Sichtbarwerden
desfelben in Macht, während es doch in feiner
ganzen Macht bereits gegenwärtig ift, fo wenig' etc.

Von dem Reichgottesgedanken aus wirft L. in feiner
Schrift feinen Blick auf faft alle anderen Grundbegriffe
des Evangeliums. Bei einer im Ganzen verfehlten Grundlage
würde eine weitere Discuffion über Einzelheiten
unfruchtbar fein. Es foll betont werden, dafs manche
feine und anregende Beobachtung gemacht ift. Aber
felbft wenn man alle Milde gegen einen erften Verfuch
hier walten läfst, fo können die Ausführungen über den
Menfchenfohn, in denen auf Grund der kritifch unficheren
Stelle Mtth. 16, 13 fr. bewiefen und das Bekenntnifs Jefu
vor dem Hohenpriefter zur Begriffsbeftimmung überhaupt
nicht verwandt wird, nur oberflächlich genannt
werden. In den Ausführungen über die Stellung Jefu
zum Gefetz p. 130 ift nicht einmal das Problem erkannt.
Im höchften Grade ungenügend find auch die Ausführungen
, welche Verf. über die asketifche Seite des
Evangeliums Jefu giebt. Zu Mtth. 19, 21 (p. 134) bemerkt
er: Wen das Geld an der Welt feft und von Jefu fern
hält, der mufs alles aufgeben, um Jefu folgen zu können'.
Es ift immer wieder diefelbe Methode, mit der durch ein
gefchicktes Wenn und Aber der furchtbare Ernft des
Evangeliums abgefchwächt und für den modernen Men-
fchen überzuckert wird. Wie ganz anders klingt das
Wort Jefu von der unbedingten Seelengefährlichkeit des
Reichthums. Und das gefchieht in einer Zeit, die gerade
für diefe Seite des Evangeliums mehr und mehr empfänglich
zu werden beginnt; Theologen follten das doch
zuerft fehen.

Es foll mit alledem keineswegs unbedingt über die
vorliegende Arbeit abgefprochen werden. Im Gegen-
theil: es liegt ihr vielfach ein fehr exactes Studium im
Einzelnen zu Grunde, manche fcharffinnige und feine
Beobachtung ift gemacht. Es liegt wenigftens der Verfuch
einer wirklich hiftorifchen Forfchung vor, wie fich
dies namentlich in der Befchränkung des Beweisverfahrens
auf die Synoptiker zeigt. Aber es mangelt allerdings die
Hauptfache: der lebendige Sinn für concretes gefchicht-
liches Leben, ich möchte fagen, die Leidenfchaft für das
was wirklich ift, — der Muth, auch unbequemen, nackten
und harten Thatfachen ohne Verhüllung und ohne Phrafe
in's Geficht zu fchauen, auch wenn das Refultat der
eignen Dogmatik zuwiderläuft.

Göttingen. W. Bouffet.

Schlatter, Adf., Der Chronograph aus dem zehnten Jahre
Antonins. Zur Ueberlieferungsgefchichte der altchrift-
lichen Literatur von Adf. Harnack. [Texte u. Unter-
fuchungen zur Gefchichte der altchriftlichen Literatur,
hrsg. von O. v. Gebhardt u. A. Harnack. 12. Bd. 1. Hft.]
Leipzig, Hinrichs, 1894. (V, 94 u. 32 S. gr. 8.) M. 4. —

,Der Chronograph aus dem 10. Jahre Antonins', alfo
aus dem J. 148 n. Chr., ift eine neue Entdeckung, und er

foll kein Geringerer fein, als jener alte Bilchof Judas von
Jerufalem, dazu Verwandter Jefu, fo hoch angefehen, fo
viel von den Alten gelefen und ausgefchrieben und mit
Ehrfurcht behandelt (S. 33), dafs man billig fich wundert,
wie ein Werk eines folchen Autors fo frühe und fo lange
mit Dunkel und Schweigen bedeckt werden konnte.

Nicht durch Auffindung neuer Nachrichten, lediglich
durch fein Combinationstalent hat Schlatter diefe Entdeckung
gemacht, wenn es kein Phantafiegebilde ift. Er
geht aus von Clemens Alex., der Strom. 1, 21 bei Be-
fprechung der 70 Jahrwochen Daniels anfcheinend einer
älteren Quelle folgend erklärt, dafs der jüdifche Ge-
fchichtfchreiber Jofephus fage, von Mofes bis David
feien 575, von da bis zum 2. Jahre Vefpafians 1179, weiter
bis zum 10. Jahre Antonins 77 Jahre, fodafs von Mofes
bis zum 10. Jahre Antonins 1933 Jahre feien. Eben diefelbe
Jahreszahl kehrt wieder bei Epiphanius, der Haer.
66, 20 ein Verzeichnifs der jerufalemifchen Bifchöfe giebt,
das mit dem von Eufeb gelieferten identifch ift, jedoch
auffällig abweicht in mehreren Datirungen und bei jenem
kritifchen Jahre gar einen doppelten Einfchnitt macht.
Einmal reicht hier als letzter der Bifchöfe aus der Be-
fchneidung Judas bis zum 11. Jahre Antonins, fodann
heifst es fünf Namen weiter: ,Alle diefe [fünf heiden-
chriftlichen?] bis zum 10. Jahre des Antoninus Pius'.
Wefentlich hieraus fchliefst alfo Schlatter auf einen
Chronographen, der bis 148 ging, foweit die Bifchöfe von
Jerufalem aufzählte und die 70 Jahrwochen bis dahin berechnete
. Dafs derfelbe Judas geheifsen, als folcher jener
Bifchof und dazu ein Verwandter Jefu gewefen, fucht
der Verfaffer auf eine Art zu erweifen, die einen an das
Mücken-Seihen und Kameele-Verfchlucken gemahnt.

Jenen Judas, der nach Eufeb, KG. VI, 7 über die 70
Jahrwochen fchreibend die Rechnung auf das 10. Jahr
des Septimius Severus ftellte und unter dem Eindruck
der Verfolgungshitze damals den Antichrift für nahe hielt
— in das 10. Jahr des Antoninus hinaufzufetzen, können
doch die von Schlatter zufammengefuchten Gründe nimmer
bewegen. Es ift eine ebenfo unbillige Forderung, Judas
müffe ganz im Unterfchied von feinen Zeitgenoffen Clemens
, Tertullian, Hippolytus die 70 Jahrwochen im Zu-
fammenhang bis auf die Gegenwart gerechnet haben, als
es eine ungerechtfertigte Behauptung ift, was noch bis
150 angegangen, fei bis 202 nicht mehr möglich gewefen.
So gut z. B. die Hebraei nach Hieronymus vom Beginn
des Exils bis zu Barkochba 490 Jahre herausrechneten,
konnte einer noch 70 Jahre fpäter diefelbe Zahl vom
Ende des Exils an herausrechnen. Nöthigenfalls konnten
nach andern Muftern 10 X 70 = 700 Jahre das Gefuchte
ergeben.

Intereffanter ift der Verfuch, ein entfprechendes Buch
eines Verwandten Jefu zu gewinnen. Julius Afrikanus
berichtet nämlich bei Eufeb, KG. 1, 7, II, Verwandte Jefu
hätten erzählt, dafs die Vorfahren des Herodes aus Askalon
flammten, und diefer, den Mangel hoher Abkunft zu
tilgen, alle Stammbäume, alfo auch die auf David zurückgehenden
der Verwandten Jefu, zu vernichten befohlen
habe. Indem alfo Schlatter fich die Ausdrücke für feine
Zwecke anfleht, fragt er S. 35: was heifst bei Julius stV
ovv rpavrj-vtatvzsg ei-fr' ItnXiog s/.didaöxnvieg, nuvzwg di
alziO-evnvTsg'i Das rpavrpiLÜv ,mufs heifsen: eine Offenbarung
ausfprechen', erklärt er dem Sprachgebrauch
trotzend, und fummirt alsbald S. 36: ,das Buch ift dasjenige
eines Propheten, der zugleich Ausführliches über
die jüdifche Gefchichte des erften Jahrhunderts gab, eines
Hiftorikers, der zugleich ((•avr}Tiäi, ,hiftorifch und pro-
phetifch zugleich', als Buch eines Verwandten Jefu ,unmöglich
anonym', u. f. w. In Wirklichkeit ift Julius Afrikanus
verftändig genug, zu fühlen, dafs jener Verwandten
Erzählung ihre eigene Abftammung ins Licht fetzt. Aber,
meint er, mögen fie dabei pro domo reden oder einfach
hiftorifch erzählen, fie find jedenfalls wahrhaftig und
fabeln nicht aus eigenem Intereffe. Diefe Erzählung