Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1895 Nr. 16

Spalte:

411-415

Autor/Hrsg.:

Lütgert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Reich Gottes nach den synoptischen Evangelien. Eine Untersuchung der neutestamentlichen Theologie 1895

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

4ii

Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 16.

412

Liitgert, Privatdoc. Lic. W., Das Reich Gottes nach den
synoptischen Evangelien. Eine Unterfuchung zur neu-
teftamentlichen Theologie. Gütersloh, Bertelsmann,
1895. (VIII, 179 S. gr. 8.) M. 2. 40; geb. M. 3. —

Seit einer Reihe von Jahren wird auf einem Gebiete
der biblifchen Theologie des neuen Teftaments aufser-
ordentlich rege gearbeitet. Während Unterfuchungen über
paulinifche Theologie etwas feltener werden, mehren fich
die Verfuche einer eindringenderen umfaffenden Darfteilung
der Predigt Jefu nach den Synoptikern. Ja es wird
nachgerade etwas Mode, über das Reich Gottes nach
den Synoptikern und ähnliche Themata zu fchreiben.
Eine um fo ftrengere Prüfung wird man daher mehr und
mehr den einzelnen Erfcheinungen auf diefem Gebiet zu
Theil werden laffen müffen.

Lütgert hat fich nun — und das ift bei einem Forfcher,
deffen Auctoritäten nach den Citaten in den Anmerkungen
im wefentlichen Cremer und Schlatter find, zu bemerken
nicht überflüffig — fchon mit der Formulirung feines
Themas auf einen Boden geftellt, auf dem eine Dis-
cuffion möglich und ergiebig fein kann. Er befchränkt
feine Unterfuchung durchaus auf die Synoptiker, und das
ift um fo bemerkenswerther, als er in derfelben nicht
nur den Reichgottesgedanken Jefu, fondern ungefähr eine
Gefammtdarftellung der Predigt und Perfon Jefu giebt. Hier
ift alfo von vorne herein die erfte Forderung der modernen
Leben-Jefu-Forfchung acceptirt. Und faft etwas zu ener-
gifch hat L. diefen Gefichtspunkt durchgeführt, bei einigen
Ausführungen feiner Schrift hätte eine Berückfichtigung
des Johannesevangeliums nichts fchaden können, z. B. bei
der Befprechung des Menfchenfohnproblems.

Um fo bedauernswerther ift es freilich, dafs L. fich
einer zweiten Forderung, der einer eingehenden fynop-
tifchen Kritik, gegenüber durchaus ablehnend verhält. L.
rechtfertigt fich (p. 4 f.) hinfichtlich diefer ablehnenden
Haltung. Die eigenen Gedanken der Synoptiker, welche
fich fänden, kämen nicht als Entftellungen und Trübungen
des Evangeliums in Betracht, ,denn es ist nicht das normale
Refultat der Meditation über einen Gedanken, dafs
er durch diefelbe entftellt und getrübt wird'. Aber folches
allgemeine Räfonnement hilft doch nun nicht über die
einfach vorliegende Thatfache von Differenzen zwifchen
den Synoptikern hinweg. Es ift z. B. nahezu unbegreiflich
, wie L. bei feiner Darfteilung des Menfchen-
fohn-Begriffes von einer kritifch fo wenig geficherten
Stelle wie Mtth. 16,13 ff ausgehen kann, ohne fich auch
nur mit einem Worte mit der Lukas- und Markusdar-
ftellung auseinanderzufetzen (p. 76), — dafs er aus der
dritten Bitte des Herrengebets einen Satz für feine Auf-
faffung des Gottesreiches gewinnt, ohne auch nur zu erwähnen
, dafs in der Ueberlieferung des Lukas fich diefe
Bitte nicht findet (128), dafs er Jefu Stellung zum Sabbat-
gefetz nach Mtth. 12,1 ff. fchildert, ohne fich mit Mark. 3,27
weiter zu befaffen (p. 30). Aehnliches gilt von der Befprechung
der Seligpreifungen (58.132), des Wortes Mtth. 5,17
(52 ff.), des Gleichnifses von den Gärtnern im Weinberg
(123), des Abendmahls (144).

In allen den erwähnten Punkten kann doch nur eine
Relation der Synoptiker das Richtige überliefert haben.
Warum fagt man das nicht offen? Es gewinnt oft bei
den Ausführungen L.'s den Anfchein, als kenne diefer
nur das Matthäusevangelium. Auch kann L. fich nicht
auf den Einwand zurückziehen, dafs es ihm nur daran
liege, die Anfchauungen der Gemeinde und nicht Jefu
felbft darzuftellen. Seine Arbeit erhebt überall den entgegengefetzten
Anfpruch.

Mit Recht ftellt L. dann in der folgenden Unterfuchung
den Satz auf, dafs man zu unterfcheiden habe
zwifchen dem Reichsgedanken, den Jefus vorausfetzt und
aufnimmt, und dem Reichsgedanken, den er begründet.
Ich halte es ferner für einen glücklichen Gedanken, wenn
er die erftere Frage nicht nur mit Hülfe der fpätjüdifchen |

Quellen zu beantworten fucht, fondern gerade auch aus
den Synoptikern Material zur Beantwortung der Frage
entnimmt, was man zu Jefu Zeit unter ,Reich Gottes'
im Volke verftand.

p. 26 fafst der Verfaffer feine Refultate über den
Jefu Predigt zu Grunde liegenden Reichgottesbegriff zu-
fammen. Zunächft wird der Reichgottesbegriff formell
und dann inhaltlich beftimmt. Bedenken erweckt fchon
die erfte Beftimmung, dafs das Reich Gottes ftets als
eine Gabe Gottes gedacht fei. Das Richtige an diefem
Satz ift ja, dafs das Kommen des Reiches Gottes von
Gott, vom Himmel her erwartet wird, und dafs von einer
Arbeit, von einem Bauen am Reich Gottes in dem uns
geläufigen Sinn nirgends geredet wird. Aber wenn man
fich gewöhnt, fo ohne weiteres von dem Reich als einer
Gabe Gottes zu reden, fo verwifcht man dadurch leicht
den Eindruck, dafs Reich Gottes immer nur eine Sache
der Gemeinfchaft und nicht des Einzelnen ift, alfo nicht
ein Gut, eine Gabe, welche dem Einzelnen gefchenkt
wird. Viel wefentlicher wäre es gewefen, wenn L. hervorgehoben
hätte, dafs in fo gut wie allen Wendungen
das ,Reich Gottes' die urfprüngliche Bedeutung eines
wirklichen Reiches1) nicht verloren hat. Man könnte auf
die eine Stelle2) Mark. 10, 15, Luk. 18, 17 (,wer das Reich
Gottes nicht annimmt') hinweifen, aber gerade aus diefem
Grunde ift bei diefem Herrenwort die Matthäusfaffung
(18,3) zu bevorzugen. Es ift ein verhängnifsvoller Mangel,
dafs L. fich faft nirgends in feiner Arbeit an diefen con-
creten Begriff des Reiches erinnert, wie fich dies bald
herausftellen wird. So kann L. z. B. gleich p. 26 die
Behauptung aufftellen, Reich Gottes bedeute ,keine Gemeinfchaft
', fondern eine Gabe Gottes.

Eine weitere Verwirrung in der Begriffsbeftimmung
des Reichs Gottes wird nun dadurch angerichtet, dafs
für den Begriff Reich Gottes der andere — ja auch der
ßaaileia Ü-eov entfprechende — Herrfchaft Gottes 3) eingefetzt
und nach Belieben mit den Ausdrücken ge-
wechfelt wird. Aber in dem Begriff Herrfchaft Gottes
ift nun der unftreitig urfprüngliche Begriff des Reiches
in charakteriftifcher Weife verengt, ohne dafs das Recht
dazu nachgewiefen wird. Die Folgen fieht man bei der
p. 38 folgenden Definition des Reiches: ,Das Reich ift
in der Erwartung Ifraels diejenige Weltgeftalt, in der
Gott feinen Willen verwirklicht hat, in der die Menfchen
empfangen, was Gott ihnen zugedacht hat, und thun, was
er gebietet'. Bei diefer Definition des Reiches find eben
faft alle Momente des urfprünglichen Begriffes bis auf
den einen der Pierrfchaft Gottes eliminirt. So nüchtern
und abftract aber, wie fich hier der moderne Dogmatiker
die Reichshoffnung Ifraels vorftellt, war diefe nun ficher-
lich nicht. Gewifs die Ehre und Herrfchaft feines Gottes
lag dem frommen Ifraeliten vor allem am Herzen, aber
Gottes Herrfchaft und Ehre fallen für ihn — wenigftens
wieder feit der Maccabäerzeit — mit Ifraels Weltherrfchaft
und der Vernichtung oder Unterwerfung der Heiden
zufammen. Und im IV. Efra-Buch beklagt der Verfaffer
wahrlich nicht in erfter Linie, dafs Gott in der Welt
feinen Zweck verfehlt habe (p. 36). Wie kann man das
Buch lefen, ohne gewahr zu werden, dafs es ringendes
tiefes Herzweh um Ifrael und banges Fragen nach dem
anfcheinend zwecklofen Gefchick des Menfchen ift, was
des Apokalyptikers Seele zu höchft bewegt. Auch ift
die Reichgotteshoffnung Ifraels viel leidenfchaftlicher und

1) Man bemerke die zahlreich vorkommenden Wendungen: in das
Reich Gottes kommen, im Reich Gottes fein, das Reich Gottes in Belitz
nehmen.

2) Recenfent hat felbft in feiner ,Predigt Jefu' die Anficht ausge-
fprochen, dafs der Begriff Reich Gottes hie und da feine urfprüngliche
formale Bedeutung verloren habe, ift aber nach erneutem Unterfuchen
im Grofsen und Ganzen hiervon zurückgekommen.

3) Auch ich habe an einem Punkt meiner Darfteilung durch die
Vertaufchung der Begriffe Reich und Herrfchaft die Gedanken Jefu zu
verdeutlichen gefucht, gebe aber angefichts der Verwirrung, die dadurch
angerichtet werden kann, diefen Verfuch auf.