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Ausgabe:

1895 Nr. 15

Spalte:

401-403

Autor/Hrsg.:

Allier, Raoul

Titel/Untertitel:

La philosophie d‘Ernest Renan 1895

Rezensent:

Ehrhardt, Eugen

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401

Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 15.

402

Verfchiedenheit mit einem Punkt zufammen, den der
Herr Verfaffer — um ganz gerecht in feinem Urtheil über
Luthers Darlegung zu fein — hätte anführen müffen:
Luther und Zvvingli treten, von ganz verfchiedenen
Motiven geleitet, an die Behandlung der Fragen heran,
letzterer, um fie fyftematifch zu ergründen; erfterer aber,
in feiner Religiofität durch des Erasmus Buch verletzt
und beftrebt, die laxe römifche Anfchauung, die Erasmus
hier vertritt, mit den Waffen damaliger Wiffenfchaft zu
widerlegen. Es ift ganz natürlich, dafs er dabei auf die
Wege fcholaftifcher Beweisführung geräth; und es wäre
bei Luther's feuriger Natur ein Wunder, wenn er nicht
über das Ziel hinausfchöffe. Auch der eifrigfte Verehrer
des grofsen Reformators wird nicht leugnen, dafs Luther's
Schrift de servo arbitrio Elemente enthält, von denen
wir wünfchten, dafs er fie mit klarem Blick erkannt und
verworfen hätte; aber auf der andern Seite wird auch
niemand fich dem tief-religiöfen Ernft entziehen können,
der Luther's Schrift erfüllt.

Mit diefen verfchiedenen Motiven hängt nun die ver-
fchiedene Stellung zur prädeftinatianifchen Frage zufammen.
Luther will das Heil zur Gnade Gottes — ohne jede
Reflexion auf die Werke — in unmittelbarfte Beziehung
letzen und geräth dabei in fchrankenlofen Determinismus;
Zwingli will Gottes abfoluten Willen und des Menfchen
Freiheit ethifch vermitteln und findet auf fyftematifchem
Wege die Löfung, das Handeln der Menfchen durch
Gottes Willen bedingt fein zu laffen.

Aber ,alle diefe Speculationen Luther's und Zwingli's
fallen genau befehen in fleh felbft zufammen' (S. 126):
damit fällt der Herr Verfaffer das letzte entfeheidende
Urtheil und er hätte hinzufetzen können, philofophifche
Speculationen werden auf diefem Gebiet ftets in fich
felbft zufammenfallen. Dem religiös-ethifchen Bewufstfein
des Chriften ift die Frage gelöft, der fpeculativen Unter-
fuchung wird fie ftets eine crux bleihen. Auch der
phyliko-teleologifche Gottesbeweis, den der Herr Verfaffer
der Theologie (im engeren Sinne) erhalten möchte
(S. Iii, Anm.), wird fie dabei nicht weiter bringen. Es ift
doch allein der Vater unteres Herrn Jefu Chrifti, freilich
nicht der für wahr gehaltene, fondern der als Gott und
Vater im Glauben erfahrene, der uns in feinem Reiche
unfere fittliche Aufgabe ftellt und durch feinen Geift uns
treibt, diefe zu erfüllen. Aber weitere fyftematifche
Auseinanderfetzungen dürften über den Rahmen einer
Anzeige unteres Buches hinausgehen.

Wir glauben dem Herrn Verfaffer verfprechen zu
dürfen, dafs fein Wunfeh, mit dem er feine Vorbemerkung
fchliefst, in fo fern gewifs fich erfüllt, als feine Schrift
anregen wird; — dafs fie auch einigen möge, wird,
fürchten wir, ein frommer Wunfeh bleiben! —

Markoldendorf (Hann.). Ferdinand Cohrs.

Allier, Raoul, La philosophie d'Ernest Renan. Bibliotheque
de Philosophie contemporaine. Paris, Germer Bailliere
et O, Felix Alcan, 1895. (181 S. 12.) M. 2. —

Renan ift in Deutfchland vorzugsweife als Hiftoriker
bekannt. Zwar ift neuerdings in verfchiedenen kirchlichen
Zeitfchriften auch von feinem Einflufs auf das
geiftige Leben Frankreichs im Allgemeinen die Rede
gewelen, allein derfelbe hat doch vielleicht noch nicht
die gebührende Beachtung erfahren. Namentlich aber
find diejenigen Schriften Renan's deutfeherfeits noch
wenig berücklichtigt worden, in denen er in fpeeififeh
philofophifchen Fragen fein Votum abgiebt. Und doch
verdienen die philofophifchen Beftrebungen Renan's und
überhaupt diejenigen Theile feiner Werke, in denen er
feine Lebensanficht und Weltanfchauung niedergelegt hat,
eine eingehendere Berückfichtigung auch aufserhalb der
Grenzen feines Vaterlandes denn erftens werfen fie ein
helles Licht auf die Eigenart eines Mannes, von dem

man wohl fagen darf, dafs er fich einen Platz in der
Weltliteratur erobert hat — ob einen dauernden, wird
freilich erft die Zukunft darthun —, ferner aber beleuchten
fie auch in bemerkenswerther Weife die philofophifche
Lage der Gegenwart, namentlich in Rücklicht auf die
Beeinfluffung der Philofophie durch den mächtigen Auf-
fchwung der hiltorifchen Wiffenfchaften. Deshalb hat die
theologifche Leferwelt insbefondere Urfache, eine Schrift
mit Theilnahme zu begrüfsen, die ihr über die philofophifche
Bedeutung Renan's in bündiger, aber völlig
genügender Weife Auffchlufs giebt, und zwar aus der
Feder eines Mannes, der philofophifche Fachbildung mit
entfehieden chriftlicher Ueberzeugung verbindet. Ohne
irgendwie direct als Vertheidiger des Chriftenthums aufzutreten
, läfst Allier diefe Ueberzeugung doch überall
völlig klar durchblicken, und zwar in einer Form, die
geeignet ift, feinen nicht chriftlich intereflirten Lefern die
chriftlichen Grundanfchauungen ohne jeden Schein der
Aufdringlichkeit zu empfehlen.

Der erfte Abfchnitt, betitelt: IJinflucnce de St.Sulpice,
legt in überzeugender Weife dar, wie der Unterricht und
die Erziehung, die Renan im Priefterfeminar genoffen,
auf fein Denken einen entfeheidenden Einflufs ausgeübt
haben. Der Begriff der Autorität wurde ihm fo tief eingeprägt
, dafs er fich nie eine fefte Ueberzeugung zu
denken vermocht hat, die nicht auf Autorität beruhte.
Dafs unfer Gewiffen bei der Bildung unferer Weltanfchauung
das entfeheidende Wort zu reden hat, ift ihm
von feinen, übrigens achtungswerthen Lehrern nicht beigebracht
worden. Darum war auch die Krifis, die er
durchmachte, und die ihn dem geiftlichen Beruf entzog,
um ihn in diejenige Bahn zu lenken, in der er eine fo
grofse Berühmtheit erlangt hat, einfeitig intellectueller
Art. Die Autorität, vor der er fich bisher gebeugt hatte,
konnte, nach dem Urtheil feines Verftandes, vor den
Thatfachen der Gefchichte nicht mehr beftehen, und fo
wandte er fich denn von ihr ab, um durch die einfeitige
Betrachtung des ewigen Wechfels in der Entwickelung
der Menfchheitsgefcluchte fich überzeugen zu laffen, dafs
Alles relativ, dafs wenigftens nur das Relative uns zugänglich
fei.

Der zweite Abfchnitt: La Philosophie, fucht in fcharf-
finniger Weife nachzuweifen — und diefer Nachweis hat
nicht nur für Renan's Philofophie Bedeutung, fondern
für eine heutzutage in weiten Kreifen verbreitete Meinung
über die Philofophie überhaupt — dafs Renan's
philofophifche Anfchauungen durchaus durch feine hiltorifchen
Einfichten beherrfcht find. Die Gefchichte, und
zwar ausfchliefslich als Vorführung des Wechfelnden
im Wcltlauf betrachtet, hat ihn frei gemacht vom Banne
der kirchlichen Autorität, ihr folgt er blindlings, auch
wo es gilt, Urtheile zu fällen, die jenfeits ihres Bereiches
liegen. Als Hiftoriker ftudirt er Kant, Comte, Hegel
und andere Philofophen, und lieft, ohne ihre kritifchen
und fpeculativen Grundanfchauungen zu beachten, nichts
Anderes aus ihnen heraus, als wovon er fchon vorher
überzeugt war, dafs es nämlich nichts Gewiffes giebt, dafs
ein jeder fich fein Weltbild nach Belieben geftalten 'kann.
Dasjenige, das Renan felbft entworfen, wird vom Verfaffer
in dem Capitel: ,Vues mitaphysiques' dargeftellt. Evo-
lutioniftifchen Pantheismus könnte man am eheften das
luftige Gebäude nennen, das Renan mit forglofer Hand
aufführt, und zu dem er die Materialien, ohne fie zu
prüfen, bald da bald dort entlehnt.

Die drei folgenden Abfchnitte behandeln R.'s Moral,
feine Politik, feine Religionsphilofophie. R.'s iittlichen Anfchauungen
fehlte es anfänglich nicht an Erhabenheit,
allein allmählich überliefs er fich auch auf diefem Gebiete
der aus der Gefchichte gefchöpften Betrachtung, dafs
das einzig Bleibende und Allgemeine der Wechfel fei,
und (teilte es Jedermann frei, feine Erlöfung, fein höchftes
Gut, zu finden wo er mag, in der Kunft, wenn er dazu
fähig ift, im Alkoholgenufs, wenn er nicht anders kann.