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Ausgabe:

1895 Nr. 14

Spalte:

360

Autor/Hrsg.:

Durrieu, Paul

Titel/Untertitel:

L‘origine du manuscrit célèbre dit le Psautier d‘Utrecht 1895

Rezensent:

Gebhardt, Oscar

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 14.

360

herz, zu welchem B. gut 2 Sam. 17,10 vergleicht, fo geht
auch der Adlerflug dem geflügelten Löwen Babel verloren
; das Bild von dem früher fo ftolzen Thiere, das
nicht mehr fliegen kann, fondern mühfam gehen mufs,
nachdem man es auf die Füfse gehellt hat, zieht dann
in V. 5 das Bild des fchief flehenden Bären nach fleh, deffen
Haltung andeutet, dafs er das Gleichgewicht nicht behaupten
kann. Bei keinem Buch des A.T.'s ift's wohl
übler angebracht, als beim Buche Daniel, wenn der Textkritiker
vorfchnell dem Exegeten zu Hülfe kommt.
Gewifs liegen uns einige dunkeln Stellen vor, die wohl
für immer ziemlich dunkel bleiben werden. Durch die
beachtenswerthe Vergleichung des MT mit den alten
Verflonen, welche B. S. XXXIV—XXXVII für Cap. 9,
24—27 anfleht, wird mir nur das Ergebnifs beftätigt, das
ich beim Studium des Buches ftets gewonnen habe, die
Mahnung, die ich in die Worte faffen möchte: Je mehr
fich in einer wichtigen Stelle des Buches Daniel die
Schwierigkeiten für das Verftändnifs häufen, defto weniger
darf man derfelben dadurch Herr zu werden fuchen,
dafs man fleh auf blofses Aendern des wohl in folchen
Fällen befonders forgfältig überlieferten Grundtextes verlegt
. Uebrigens fleht B. nicht allein mit feiner grofsen
Aenderungsluft, die ihn Cap. IO, 20—II, 2 nicht nur zur
Umftellung eines halben Verfes, fondern auch zur völlig
unnöthigen Tilgung von zwei Halbverfen verleitet hat;
leidet doch der in vieler Hinficht fo vorzügliche Com-
mentar von Bevan (London 1892), der in den die alte
Gefchichte betreffenden Fragen keineswegs unzulänglich
ift, an derfelben willkürlichen Behandlung des Grundtextes.

Schwerer wiegt m. E. der andere Mangel unferes
gelehrten Hamburger Hauptpaftors, die fo oft vermifste
deutliche Unterfcheidung der Tradition von der gefchicht-
lichen Wahrheit, gegen welche das Buch Daniel aufser-
ordentlich häufig verftöfst. Nur als unbewufste Nachwirkung
der wohl früher gehegten oithodoxen Auffaffung
finde ich's pfychologifch begreiflich, dafs B. (S. XXVI)
den Verf. erfl zu Anfang des Jahres 164 v. Chr. fchreiben
läfst und doch an manchen Stellen nicht vor den wun-
derlichften Künfleleien zurückfehrecken mag, um fich der
offenen Anerkennung von Gefchichtswidrigkeiten zu entziehen
. Meine fchon 1867 in Bunfen's Bibelwerk ausge-
fprochene Anficht, der Verf. habe fich bei Berechnung
der Jahrwochen geirrt, erfcheint B. als eine Verzweiflungsauskunft
. Uebrigens widerräth der Schlufs von Cap. 9
die Loslöfung der Wiederherftellung des Tempeldienftes
von der Endkataftrophe fo entfehieden, dafs ich jetzt
mit Kuenen und Wellhaufen der gewöhnlichen Anficht,
wonach Cap. 8, 14 für den Verf. noch in der Zukunft
liegt, den Vorzug gebe und die Abfaffung des Buches
in's Jahr 165 v. Chr. fetze. Natürlich mufs B. viele Zu-
geftändnifse machen und meint S. XIX ausdrücklich, es
liege nichts daran, unfer Buch gegen den Vorwurf unge-
fchichtlicher Ungenauigkeit zu fchützen. Das ift gewifs
fehr richtig, da der Verf. keinen gefchichtlichen Zweck
verfolgt; um fo unbegreiflicher ift aber der apologetifche
Eifer, den B. z. B. Cap. 4, 5 und 6, 8 entwickelt. Die
Namenserklärung in 4, 5 foll nicht unrichtig fein, da
bei vor balätsu usur zu ergänzen fei; wird hier etwas
in unftatthafter Weife hinzugedacht, fo verfährt B. umgekehrt
in Cap. 6, 8. 13 fo, als ob die tendenziöfe Weg-
laffung von durch LXX zu Recht beftände. Dem,

was Gunkel (a. a. O. S. 326 f.) gegen B. bemerkt hat, kann
ich im Ganzen nur beiftimmen; obgleich ich mit B. die
Erklärung des Menfchenfohnes vom Meffias fefthalte,
wenn auch in anderer Weife als B., der nicht mit Rud.
Smend (ZATW 1885, S. 248) an die bereits vorausgefetzte
Präexiflenz des Meffias im Himmel zu denken fcheint.
Die von B. fo ängftlich betonte Tradition (S. XLVIII),
auf die der Inhalt des Buches Daniel zurückgehen foll,
ift fchwerlich in dem Sinne gemeint, in welchem Gunkel
(a. a. O. S. 334) von Tradition redet. Jedenfalls läfst fich
leicht erkennen, dafs das Zurückgehen auf uralte Tradition

und völlige Ungefchichtlichkeit fich nicht auszufchliefsen
brauchen; hat doch der babylonifche Gott Marduk in
dem haggadifchen Zufatz vom Drachen zu Babel fich
in einen jüdifchen Propheten und fpäter in der chrift-
lichen Legende in den Ritter St. Georg verwandelt.
Nicht das geringfle Mafs von freier Behandlung des
überlieferten Stoffes wird von B. dem Verfaffer zuge-
ftanden; wird z. B. S. XVI ohne Nennung Bleek's der
von diefem Gelehrten gegen die Exiflenz eines exilifchen
Daniel geltend gemachte Grund als nahe liegend bezeichnet
, fo fleht man doch S. XXVII, wie weit B. davon
entfernt ift, fich denfelben anzueignen.

Ich fchliefse diefe Anzeige nicht, ohne abermals mit
Nachdruck zu erklären, dafs alle Ausflellungen, die ich
im Intereffe der Sache gemacht habe, meiner aufrichtig
gemeinten Empfehlung von B.'s Commentar zum fchwie-
rigen Danielbuche keinen Abbruch thun follen.

Bonn. Adolf Kamphaufen.

Durrieu, Paul, L'origine du manuscrit celebre dit le Psautier
d'Utrecht (Extrait des Melanges Julien Havet, pp. 639
—657). Paris, Ernest Leroux, 1895. (21 S. u. 2 Taf. gr. 8.)

Dafs der Utrechter Pfalter nicht, wie noch Haenel
annahm, dem VI., fondern früheftens dem VIII. Jahrh.
angehört, konnte nach den Unterfuchungen von Delisle,
Bond, Thompfon und Springer für erwiefen gelten. Aber
der durch die Autorität Weftwood's geftützte angel-
fächfifche Urfprung der Hf. hat noch heute zahlreiche
Vertreter. Dem gegenüber liefert der Verfaffer der vorliegenden
Abhandlung in überzeugender Weife den Nachweis
, dafs die paläographifchen Eigenthümlichkeiten fo-
wohl als die Illuftrationen des Pfalters die Entftehung in
Frankreich vorausfetzen, und zwar in der Diöcefe Reims.
Entfcheidend ift hierfür die bisher unbeachtet gebliebene
Verwandtfchaft mit den unter den Erzbifchöfen Ebbo
(816—845) und Hincmar (845—882) hergeflellten Bibel-
handfehnften, insbefondere die Aehnlichkeit mit dem
Evangeliar Ebbo's in Epernay. Auf zwei Tafeln werden
Abbildungen diefes Evangeliars und des Pfalters neben
einander geftellt, welche die in der That frappante Aehnlichkeit
veranfehaulichen (vgl. befonders auf der zweiten
Tafel die Nummern 6 und 7). Danach kann es nun einem
Zweifel nicht mehr unterliegen, dafs der fo viel umftrit-
tene Utrechter Pfalter etwa um die Mitte des IX. Jahrh.
in der Diöcefe Reims hergeftellt worden ift.

Leipzig. O. v. Gebhardt.

Menegoz, Prof. Eugene, La notion biblique du miracle.

Paris, Fischbacher, 1894. (32 S. gr. 8.) 1 fr.

Diefe am 5. November 1894 vor der theologifchen
Facultät zu Paris gehaltene Eröffnungsvorlefung hat nicht
nur unter den Geiftlichen, fondern auch in weiteren Laienkreifen
ein gewiffes Auffehen erregt. Die im Schofse des
Proteftantismus franzöfifcher Zunge nach kurzen Zwifchen-
räumen immer wieder auftauchende Frage hat der Verf.
mit tapferer Entfchiedenheit und mit unleugbarer Pietät
behandelt. Zunächft will er durch eine ftattliche Zahl
von Belegen aus dem alten und neuen Teftamente feft-
ftellen, dafs nach der Anfchauung fämmtlicher biblifchen
Schriftfteller das Wunder im ftreng fupranaturalen Sinn
als eigentliches miraculum, als eine dem natürlichen
Verlauf der Dinge widerfprechende, auf göttliche Ur-
fächlichkeit unmittelbar zurückführende Erfcheinung zu
faffen ift. Hierauf formulirt er das Problem, das fich
unferem chriftlichen Bewufstfein ftellt und eine klare
Beantwortung fordert, dahin, ob jene biblifche Faffung
des Wunders für uns bindend und normativ fein kann.
Bevor M. die fo geftellte Frage principiell zu löfen
unternimmt, führt er eine Reihe von apologetifchen Ver-
fuchen auf, welche den biblifchen Begriff des miracn-