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Ausgabe:

1895 Nr. 1

Spalte:

18-19

Autor/Hrsg.:

Traub, F.

Titel/Untertitel:

Die sittliche Weltordnung. Eine systematische Untersuchung 1895

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 1.

18

legung1 der R.'fchen Ethik dienen follten. Die Anficht,
,dafs das gotterfüllte Ich als Mikrokosmos Gott, das
Weltall und alle Weltproceffe aus fich herausfpinnen
könne, wenn nur correct dialektifch fortgefchritten werde'
(Thikötter, Jugenderinner. eines deutfch. Theologen, 1894,
S. 195), war nichts anderes als ein fchöner Traum, der
mit der Herrfchaft der Hegel'fchen Philofophie fchwinden
mufste. ,Aus Definitionen und ex terminis kann man keine
Exiftenz herausklauben, vor der Definition mufs dieExiftenz
auf anderem Wege gefichert fein'. Ganz anders als mit
den Hegel'fchen Elementen des Syftems verhält es fich
jedoch zuvörderft mit dem, was Rothe aus Schleiermacher
's Syftem der Sittenlehre entlehnt hat. Letzteres
hinterliefs der Autor felbft lediglich in einer ziemlich un-
geniefsbaren Geftalt (vgl. die Ausgabe von Alex. Schweizer,
Schl.'s Werke, Abth. III, Bd. 5). Rothe hat das Berte
davon fich angeeignet und mit geringen Veränderungen
reproducirt unter einer neuen Terminologie und mit einer
Klarheit in der Entfaltung und Verknüpfung der Hauptgedanken
, die der pofthumen Urgeftalt felbft gefehlt
hatte. Wo Schi, von dem dinglichen Sein, redet Rothe
von der materiellen Natur. Was Schi. ,organifiren' genannt
hatte, nennt R. ,bilden'. Was Schi. ,fymbolifiren'
nennt, nennt R. .erkennen'. Ebenfo flammt z. B. der
Rothe'fche Gegenfatz des Handelns unter dem umverteilen
und unter dem individuellen Charakter von Schi,
her. Rothe's Ethik hat alfo das Verdienft, viele werthvolle
, aber etwas entlegene Ideen Schl.'s confervirt, verdeutlicht
und verbreitet zu haben. Schon deshalb behält
fein Werk feinen Werth. Aber es fehlt viel daran,
dafs letzterem damit fchon genug zuerkannt ift. Es
bleibt dabei, dafs Rothe's Syftem im Wefentlichen eine
Fufion Hegel's und Schleiermacher's ift. Aber er hat
beide doch auch berichtigt, z. B. durch Befeitigung des
Determinismus, und wer wollte leugnen, dafs fich bei
ihm denn doch auch eine Fülle von eigenen Concep-
tionen findet, brauchbare, feine und fcharf gefafste,
namentlich in der Tugend- und Pflichtenlehre. In den
zahlreichen nach Rothe's Tode erfchienenen Bearbeitungen
der theologifchen Moral findet man nun freilich
manche feiner Gedanken entlehnt oder benutzt, aber,
wären wir lediglich auf diefe angewiefen, fo ginge uns
manches Kleinod verloren. Da man jedoch dem jetzigen
Gefchlecht durchfchnittlich nicht zumuthen kann, fich
durch das fünfbändige Gefammtwerk durchzuarbeiten, fo
erfcheint der vorliegende authentifche Auszug als eine
willkommene Gabe. Als hinreichend motivirt kann die
Herausgabe freilich nur dann gelten, wenn überhaupt
" thatfächlich noch Intereffe für Rothe vorhanden ift, wenn
er noch nicht überhaupt fchon vergeffen ift. Daran aber
fehlt viel. In der älteren Generation giebt es noch Viele, die
entweder Rothe's dankbare Zuhörer gewefen find oder
doch die Zeit mit durchlebt haben, wo fein Name in
theologifchen Kreifen in Aller Munde war, und diefe j
hören nicht auf, das jüngere Gefchlecht gelegentlich auf
ihn hinzuweifen. Als er ftarb, hatte freilich eine toto
coelo von der feinigen und der feiner mafsgebenden Zeit-
genoffen verfchiedene Theologie die äufsere Herrfchaft
erlangt, die Theologie des Traditionalismus und der
Repriftination. Aber letztere hat heute ihre Blüthezeit
hinter fich. Wie dem auch fei, bis auf den heutigen Tag
giebt es noch manche junge Theologen, die mit Ehrerbietung
und Lernbegierde zurückgreifen auf diefen vornehmen
, eigenartigen, felbftändigen, fcharffinnigen und
tieffinnigen und dabei eleganten Denker, der bei aller
Gebundenheit durch das Evangelium das Panier der freien
Theologie hochhielt, ohne fich dem ordinären Liberalismus
in die Arme zu werfen, und auch da, wo man ihm
nicht folgen kann, anregend wirkt.

Kiel. F. Nitzfeh.

Traub, F., Die sittliche Weltordnung. Eine fyftematifche
Unterfuchung. Freiburg i/B„ J. C. B. Mohr, 1892. (III,
96 S. gr. 8.) M. 1. 80

Die Anzeige des fchon vor zwei Jahren erfchienenen
Büchleins hat fich leider in Folge von zufälligen Um-
ftänden verfpätet, zu meinem aufrichtigen Bedauern,
denn es ift der Mühe werth, auf diefe überaus klare, auf
dem Grunde Kantifcher Erkenntnifstheorie fich erbauende
Darfteilung empfehlend hinzuweifen. Die von der ,Haager
Gefellfchaft zur Vertheidigung der chriftlichen Religion'
geftellte Frage: ,Was hat man zu verliehen unter fitt-
licher Weltordnung? Auf welchen Gründen ruht ihre
Anerkennung und in welcher Beziehung fleht diefe Anerkennung
zu dem religiöfen Glauben?' hatte der Verf.
principiell und mit voller philofophifcher Schärfe auf-
gefafst und zu beantworten gefucht. Die Arbeit hatte
den Preis nicht erhalten, weil die Directoren bei aller
Anerkennung ihrer Tüchtigkeit ihren principiellen Standpunkt
nicht billigten. Verf. hat fie nun felbftändig veröffentlicht
.

Nicht die Welt an fich — fo führt er aus —, nicht
das Weltganze, fondern nur die Welt der Erfcheinungen
erfchliefst fich dem theoretifchen Denken (S. 1—26).
Das praktifche Denken allein, das vom Sittengefetz
ausgeht, führt über die Welt und die Erfcheinungen hinaus.
Das Sittengefetz läfst fich nicht deduciren. Jede Deduction
nimmt ihm feinen eigenthümlichen Werth. Seine Expofition
ift zugleich feine Rechtfertigung und in diefer
ift ein Vierfaches enthalten: Die Allgemeinheit des Ge-
fetzes, die Autonomie des Menfchen, der Endzweck
feiner Perfönlichkeit und ein Reich des Zweckes in der
Menfchheit (S. 26—50). ,Die Frage nun, ob die wirkliche
Welt eine folche ift, dafs fie der Realifirung diefes Endzwecks
dient', ift die Frage nach der fittlichenWelt-
ordnung. Die fittliche Weltordnung, wenn es eine
folche giebt, hat mit der widerftrebenden Macht der
Naturnotwendigkeit und des Böfen zu rechnen, und
fchliefst darum die Anerkennung eines allmächtigen und
heiligen Gottes und mit ihm die Idee der Unfterblich-
keit, wie der Vergeltung und Vergebung in fich(S. 50—65).
Giebt es eine folche fittliche Weltordnung? Ihre Geltung'
kann nur der religiöfe Glaube anerkennen. Nicht das
Sittengefetz, wenn auch mit der Annahme der Gottesidee
als Hülfsbegriff, genügt, um fie feftzuftellen, denn
diefes demüthigt ebenfo, wie es erhebt. Der Inhalt des
religiöfen Glaubens aber, alfo auch die fittliche Weltordnung
ift Wahrheit nur für folche, ,die das Bedürfnifs
empfinden, das der chriftliche Glauben befriedigt. Das
ift aber das Bedürfnifs des vom Sittengefetz ergriffenen
Menfchen, der Realität des fittlichen Endzwecks gewifs
zu werden'. Worauf ruht nun für diefen folche Gewifs-
heit? Einmal auf dem unbedingten fittlichen Gefetz, dann
aber auf der Offenbarung in Chrifto. Das ift keine theo-
retifche, fondern eine praktifche Gewifsheit. Nicht aber
als ob ein Widerfpruch zwifchen diefen beiden und damit
eine fich zwiefpältige Weltanfchauung gegeben wäre.
Vielmehr in der Ueberzeugung, dafs auch die Naturordnung
nur Mittel für den fittlichen Endzweck ift, ift
die Einheit der Weltanfchauung gewahrt (S. 65—94).

Wir fehen, es find wefentlich Kantifche Gedanken,
nach der religiöfen Seite erweitert und vertieft, die der
Verf. ausführt. Aber reichen diefe Gedanken, deren unvergängliche
Bedeutung uns hier wieder entgegentritt,
aus, die Frage zu löfen, die einheitliche Weltanfchauung
zu fichern? Wenn es darauf ankommt, die ,wirkliche
Welt' mit der praktifchen Erkenntnifs in Einklang zu
bringen, foll ich doch darauf verzichten, in diefer Welt,
foweit ich fie theoretifch erkenne, im ,Ding an fich',
eine Realität anzunehmen? Und wie ift es im Jenfeits?
Wird das auch eine Welt der Erfcheinung fein, oder ift
dann der Unterfchied aufgehoben? Alle diefe Fragen,
ich weifs nicht, ob ich fie theoretifch oder praktifch