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Ausgabe:

1895 Nr. 13

Spalte:

338-340

Autor/Hrsg.:

Berger, Arnold E.

Titel/Untertitel:

Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstellung. 1. Teil: 1483 - 1525 1895

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 13.

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und man fühlt es ihm ab, dafs er hier innerlich intereffirt
ift; denn ,die fubftanzielle Wahrheit unferer Religion
ergiebt fich von hier aus'. Aber ich fürchte, dafs die
kritifche und hiftorifche Methode das erzeugte Kind
nicht ohne Weiteres als das ihrige anerkennen wird. In
alle dem, was der Verf. ausführt, liegt eine Wahrheit,
felbft in dem, was er über das ,Autofoterifche' in der
Predigt Jefu fagt; aber er ift doch viel mehr Philofoph,
als er es felbft weifs: er fyftematifirt, reducirt, folgert,
wo dem Hiftoriker diefe Operationen verboten find. Die
Folge davon ift, dafs fich zwifchen feinem Jefus, dem
Lehrer, und dem Glauben der Jünger Jefu — von Paulus
gar nicht zu reden — eine ungeheuere Kluft aufthut.
Er conftatirt diefe Kluft felbft (p. 403 not: ,the true
,J?allu in Christian dodrine lay, not as a fanciful theo-
logian [Thierseil], and otliers after htm have maintained,
between the apostolic and the post-apostolic age, but between
Jesus himself and Iiis apstoles'); aber wie fie entftanden
und verftändlich zu machen ift, darauf giebt der Verf.
m. E. keine befriedigende Antwort. Wohl ftreift er hin
und wieder das Perfönliche in Jefus und fucht von hier
aus einiges Licht zu fchaffen, aber eingefpannt in das
Dogma vom ,common religions instind working under
the influenae of natural forces and amid historical con-
ditions', vermag er das Geheimnifs und das Wunder des
Perfönlichen überhaupt nicht anzuerkennen und als felb-
ftändigen Factor der Gefchichte gelten zu laffen. So
müffen denn die Apoftel und vor allem natürlich Paulus,
der .Heterofoteriker', die Kotten des .Chriftenthums' tragen.

So wenig ich glaube, dafs diefe natürliche Gefchichte
die wirkliche gewefen ift, fo fehr bewundere ich die Sach-
kenntnifs und Kraft, mit der der Verf. diefes Buch ge-
fchrieben hat. An keiner Schwierigkeit, die feiner An-
fchauung im Wege fteht, geht er vorüber, und vor allem
ift der Charakter einer unbestechlichen Aufrichtigkeit dem
Werke aufgeprägt. Wie er im Einzelnen den Gang der
Entwicklung zeichnet, kann ich hier nicht verfolgen; vielleicht
ahnt es der Lefer bereits, zumal wenn ich hinzufüge
, dafs er in feinen hiftorifch-kritifchen Anfchauungen
(Pfeudopaulinen, Apoftelgefch., Joh.-Ev.) vielfach mit
Baur, refp. auch mit Pfleiderer übereinftimmt. Bemerkenswerth
ift, dafs er in Bezug auf die Auferstehung
Jefu die Vifionshypothefe fo corrigirt, dafs nur Paulus eine
Vifion gehabt habe. In Petrus, den Elfen, den 50x3 Brüdern
fei lediglich ein innerer Umfchwung erfolgt, der fich erft
fpäter durch ihre Predigt von diefem Umfchwung und
durch den Bericht von der paulinifchen Vifion zu Vifionsberichten
entwickelt habe: vielleicht haben fie es zuletzt
felbft fo dargestellt. Diefe Anficht hebt einige Schwierigkeiten
der Vifionshypothefe, fchafft aber auch neue dafür.

Der Verf., der mit feinem Standpunkt fo männlich
und freimüthig hervorgetreten ift, hat ein Recht darauf,
feine Kritiker zu fragen, welchen Standpunkt fie dem
feinigen entgegenfetzen. Die blofse Antwort ,den hifto-
rifchen' braucht ihm nicht zu genügen. Ich bekenne mich
zu der Auffaffung der Gefchichte, die dem Verfaffer als
eine Spielart ältester Superftition, als Gefpenfterglaube,
erfcheinen mufs. Ich vermag in der Religionsgefchichte
mit dem pommon religions instind, working under the in-
fluence etc.1 nicht auszukommen, und folgerecht offenbart
fich mir in der Religion der Menfch felbft als ein übernatürliches
Wefen — übernatürlich, fofern der Geift nicht
in der Natur aufgeht. Ich glaube an die Verfchiedenheit
der Geister, wie fie Gott gefchaffen hat, an ihre ver-
fchiedene Kraft und ihren verfchiedenen Beruf in der
Gefchichte und an ihre unauflösliche, wirkliche und perfönliche
Beziehung zum lebendigen Gott — nicht um
einige biblifche Wundergefchichten zu rechtfertigen, fondern
weil nur diefe Ueberzeugung den Thatfachen der
Erfahrung und der Gefchichte gerecht wird, und weil
wir uns nur durch fie dem wirklichen Verftändnifs
des Sohnes Gottes und der Kinder Gottes nähern
und uns unfer eigenes Geheimnifs entfchleiern. Damit

ift freilich nicht nur die natürliche Gefchichte der
christlichen Religion', fondern auch die natürliche Gefchichte
der Menfchheit' gefprengt; aber nicht erft Jefus
Chriftus fprengt fie, fondern bereits jeder Menfch', der
fich im Bunde mit Gott über die Natur erhebt oder auch
nur nach Gott fucht. Gerade die Gefchichte, wie fie der
Verf. hat entwickeln müffen, um feinen Principien gerecht
zu werden, ift mir ein Beweis, dafs es auf diefem Wege
nicht geht, weil die Dürftigkeit und Schwäche der in
Kraft gefetzten Elemente nur ein fadenfeheiniges und halt-
lofes Gewebe zu Stande bringen. Die Gefchichte, die
man ohne ,modern criticism' und mit ganz naivem Sinn
aus dem Neuen Teftamente abzulefen vermag, fcheint mir
ungleich wahrer zu fein, als die Gefchichte, welche der
Verfaffer bietet, in der die Religion neben der Moral
immer nur als ,mythifche Form' auftritt. Dennoch wünfehe
ich feinem Werke unter unferen Theologen zahlreiche
Lefer und würde mich freuen, wenn Jemand es insDeutfche
überfetzte; denn wir befitzen in unferer deutfehen theo-
logifchen Literatur kein Werk, welches in der Confequenz
der Gedankenentwicklung diefem gleich kommt und welches
fo geeignet ift, die Haltbarkeit des entgegensiehenden
Standpunkts zu erproben.

Berlin. A. Harnack.

Berger, Privatdoz. Arnold E., Martin Luther in kulturgeschichtlicher
Darstellung. 1. Tl.: 1483—1525. [Geiftes-
helden, hrsg. von A. Bettelheim, 16. u. 17. Bd.] Berlin,
E. Hofmann & Co., 1895. (XXII, 506 S. 8.) M. 4. 80

Eine neue Lutherbiographie nach den Arbeiten von
Köftlin und Kolde mufs ihr Erfcheinen rechtfertigen.
Das hat der Verfaffer der vorliegenden, als 16. u. 17. Band
der Sammlung ,Geifteshelden' erfchienenen Biographie
felbft empfunden und ausgefprochen. Einen doppelten
Mangel erkennt er an den vorhandenen Darftellungen.
Einmal, meint er, gelinge es dem proteftantifchen Theologen
, felbft bei dem redlichften Bemühen, objectiv
hiftorifch zu verfahren, nicht, ,alle apologetischen und
polemifchen Gefichtspunkte fchlechthin auszufchliefsen'.
Sodann fieht er bei den theologifchen Biographen ,fich
vor einen Luther gestellt, der mit den Problemen der
Zeitcultur keine Fühlung hat und defshalb in feinen ungeheueren
Wirkungen völlig räthfelhaft bleibt. In den Dar-
1 Heilungen der Reformationsgefchichte fieht er fich einem
j grofsen Zeitbilde gegenüber, -in dem ihm Luther's Gestalt
hinter feinem Werk und deffen Folgen zu ver-
fchwinden droht' — er vermifst alfo in den bisherigen
Darftellungen die rechte Würdigung deffen, warum gerade
diefe Perfönlichkeit unter diefen Zeitverhältnifsen
das Reformationswerk vollbracht hat. Der Verfaffer stellt
fich nun die Aufgabe, ,Luther nicht nur als das religiöfe
Genie, fondern zugleich als Culturhelden, als den Schöpfer
des Protestantismus, zur Anfchauung zu bringen'. Sind
die Ausheilungen des Verfaffers an den bisherigen Lutherbiographien
berechtigt und bringt der Verfaffer mit feiner
Darfteilung etwas fchlechthin Neues? —

Was die erfte Ausflellung betrifft, fo wird mich als
Theologen der Vorwurf treffen, dafs auch ich hier nur
mit theologifchem Auge zu fehen vermöge. Dennoch
mufs ich es ausfprechen, dafs es bei einer mit Hingabe
gefchriebenen Lebensdarstellung unferes Reformators
meiner Anficht nach unmöglich ift, Mängel der vorrefor-
matorifchen Kirche, wie fie nach unferem Dafürhalten
doch heute in der römifchen Kirche vielfach noch weiter-
beftehen, nicht zu kritifiren. Aber tendenziös, felbft
unbewufst tendenziös, dürfte doch folche Kritik gerade
bei den oben genannten Biographien fich nicht finden:
fie liegt eben in den Verhältnifsen und ift die berechtigte
Kritik der Gefchichte! — Auch der Herr Verfaffer wird
fchwerlich von allen Seiten die Anerkennung finden,
dafs er rein objectiv verfahren fei; und gerade, dafs fein