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Ausgabe:

1895

Spalte:

234-235

Autor/Hrsg.:

Delehaye, Hippolyte

Titel/Untertitel:

Les Stylites 1895

Rezensent:

Meyer, Philipp

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häufig ins Auge gefafst worden; von verfchiedenen Seiten
fprach man aus, dafs der verlorene Erlafs Kallift's wohl
aus De ptidicitia auszufcheiden wäre; und da Preu-
fchen in feiner, diefer Frage gewidmeten Giefsener theo-
logifchen Differtation (1890) auf eine wörtliche Recon-
ftruction des Erlaffes ausdrücklich verzichtet hatte, fchien
die Situation zu einer neuen und gründlichen Behandlung
der Frage einzuladen.

Rolfifs ift von der Vorausfetzung ausgegangen, dafs
es nur einer eindringenden Leetüre von De pudicitia
bedürfe, um die verlorene Verfügung Kallift's wiederzugewinnen
. Irgend welche Vorfragen über den vorliegenden
Text von De pudieitia oder die fchriftftelle-
rifche Art Tertullian's erörtert er nicht. Solche Bedenken,
wie er fie auf der erften Seite des Vorwortes äufsert,
find Rolffs wohl erft hinterher gekommen; wenigftens
zeigt feine Schrift keine Spur dävon, dafs er fie während
feiner Arbeit aufkommen liefs. Er behandelt I den ,Inhalt
der Schrift De pudieitia', II ,Die Verfügung des
Kallift', III ,Den Beweis für die Vergebbarkeit der Un-
zuchtfünden' (in diefer Verfügung), IV ,Den Zufammen-
hang der Schrift für die Vergebbarkeit der Unzucht-
fünden mit der Verfügung Kallift's' (beides fei identifch);
und feine Arbeit wird gekrönt durch V ,Die Reconftruc-
tion der Verfügung Kallift's'. Einige vorfichtige Bemerkungen
über VI ,Die Sprache', VII ,üie Bezeugung' (weder
Hippolytus, noch Origenes oder Cyprian haben die
Schrift gekannt, obwohl die erften beiden ebenfalls gegen
Kallift's Bufspraxis polemifiren!), endlich VIII ,Den Charakter
der conftruirten Schrift' (fie war vielleicht eine
Art von Flugblatt, jedenfalls nur an die römifche Gemeinde
, nicht an die ganze Kirche gerichtet), machen
den Schlufs.

Kallift's Edict läfst fich nach Rolffs zufammenfetzen
aus etwa zwei Dutzend Stellen von De pudieitia, an
denen natürlich manche kleine Aenderungen vorgenommen
werden müffen; und wie Steine durch Mörtel, fo
müffen diefe Tertullianifchen Sätze durch regelmäfsig
eingefchobene Flickfätze mit einander verbunden werden.
Dafs dabei nicht ein wohlgeformtes Edict, fondern eine
Art Allerleirauh herauskommt, ift felbftverftändlich. Da
aber ein bibliicher Beweis für die Vergebbarkeit der
Sünde fich nicht an eine fefte Dispofition zu halten
braucht, fo ift der Mangel einer folchen bei dem Rolffs'-
fchen Edicte nicht auffällig. Im Ganzen wie im Einzelnen
ift diefe Reconftruction als ein fehr fcharffinniger
und forgiamer Verfuch zu bezeichnen; und Rolffs' fym-
pathifcher Stil fordert ftets dazu auf, mit ihm in die
Debatte einzutreten, ob diefer oder jener Satz Tertullian's
wohl bei Kallift geftanden haben könne; welche Form
und welchen Sinn wohl der eine oder andere Ausdruck
in dem Bufsftreit gehabt habe. Meift wurde Rolffs dabei
Recht zu geben fein; wer fich einmal mit ihm auf
gleichen Boden ftellt, wer feine Vorausfetzungen über
den Text und den Stil Tertullian's theilt, wird ihm auch
die Wahrfcheinlichkeit feiner Reconftruction zugeben.
Aber gerade die Vorfragen, die Rolffs übergeht, ent-
fcheiden hier.

De piidiatia ift bekanntlich in keiner Handfchrift
mehr vorhanden; wir find auf alte Ausgaben angewiefen,
von denen die wichtigfte die des Martinus Mesnart (Pans
1545; gewöhnlich als die des Gangneius bezeichnet) fein
dürfte. Und für Correcturen aller Art ift viel Raum, wie
noch kürzlich Kroymann's Quaestiones Tertulltancae
criticae (Oeniponte 1893) gezeigt haben. Da durfte Rolffs
nicht fo viel mit kleinen Beobachtungen und minutiofen
Details operiren, wie er thut. Den Text Tertullian's in
der Wiener Ausgabe felbft hätte er in Frage ftellen follen,
ehe er auf Grund diefes Textes fo viele Fragen aufwarf.
Cap. 13 (p. 243, 7) giebt Tertullian 2 Kor. 2, 6 txavav
im znioiTO) 1) tftitiiiia wieder mit sat/s est talis in-
crepatio. Rolffs fchliefst hauptfächlich hieraus, dafs Tertullian
das Citat aus der Schrift Kallift's entnahm (S. 83 ff.),

und zwar ift ihm das ,ficher' (S. 119); bei drei weiteren
Schriftcitaten ift es nur wahrscheinlich. Wie kann man
auf das von irgendjemand zu tali hinzugefügte j folches
Gewicht legen. Denn dafs Tertullian tali fchrieb, ift
wahrfcheinlich, da er Cap. 14 (p. 246, 16) diefelbe Stelle
mit sufficiat ejusmodt ho mini vicrcpatio wiedergiebt.
— Selbft der Hauptfatz des Edicts, mit dem Rolffs natur-
gemäfs feine Auseinanderfetzung beginnt: Ego et moechi-
ae etfornicationis delicta paenitentia funetis dimitto (Cap. 1,
p. 220, sf.) fteht nicht feft; Mesnart druckt: Ego et moe-
ehiae et fornicationis funes dimitto. Die erfte Lesart
fcheint ja mit unzweifelhafter Deutlichkeit aus der Verfügung
Kallift's entnommen zu fein; die zweite Formu-
lirung gehört aberebenfo deutlich Tertullian an. Welches
ift die urfprüngliche? Ift aber auch diefer Satz text-
kritifchen Bedenken ausgefetzt, dann fteht es mit dem
,Indulgenz-Edicte'von Rolffs fchlecht. Ich habe vergebens
nach einem Punkte gefucht, an dem man einfetzen
könnte, um auf's Neue zu reconftruiren.

Der mehr als lebhafte Stil Tertullian's mit feinen
vielen Anfpielungen und Beziehungen eignet fich überhaupt
recht wenig zu folchen Reconftructionsverfuchen;
einem Schriftfteller mit fo glühender Phantafie, fo fprühen-
dem Efprit kann man nicht jede Wendung nachrechnen.
Je mehr man ihn lieft, defto vorfichtiger wird man werden.
Kallift mufs ja feine Verfügung irgendwie publicirt haben;
irgend einen Kern wird das ,peremptorifche Edict' haber.
Aber dafs Kallift fich an die Form der kaiferlichen Erlaffe
in feiner Verfügung angefchloffen habe, ift mir
wenig wahrfcheinlich; das kann fehr gut ein Witz Tertullian
's fein. Auch das ift zuzugeben: Tertullian fcheint
eine gegnerifche Schrift zu benützen, die er widerlegt;
befonders die forgfam componirten Bibelftellen machen
immer wieder den Eindruck. Aber wie grofs feine Treue
in der Wiedergabe der widerlegten Schrift ift, wird fich
weder im Allgemeinen noch im Einzelnen conftatiren
laffen.

Der Reconftructionsverfuch ift leicht angreifbar; aber
die Arbeit macht trotzdem dem Verfaffer Ehre. Niemand
wird bemerken, dafs es eine Erftlingsfchrift ift. Im Druck
finden fich einige kleine Verfehen, die aber nicht fchaden,
und wenig ftören. Wilamowitz' Name ift durch zwei
Druckfehler entftellt (S. VI).

Göttingen. Hans Achelis.

Delehaye, Hippolyte, S.J., Bollandiste, LesStylites. Extrait
du compte rendu du 3= congres scientifique international
des catholiques, tenu ä Bruxelles du 3 au
8 septembre 1894. Bruxelles, impr. Polleunis & Ceu-
terick, 1895. (44 S. gr. 8.)

Ich will nicht verfehlen, auf diefen ausgezeichneten
Vortrag aufmerkfam zu machen, den der Verfaffer auf
dem dritten internationalen wiffenfehaftlichen Congrefs
der Katholiken, der vom 3. bis 8. Sept. 1894 in Brüffel
tagte, gehalten hat und nun durch den Druck veröffentlicht
. Die kleine Schrift enthält, geftützt auf ein Gewaltiges
Quellenmaterial, eine gedrängte Ueberficht über die
merkwürdigfte Erfcheinung des orientalifchen Mönchthums
, die Säulenheiligen. Seine Stellung zu der Sache
und die Abficht feiner Schrift drückt der Verf. aus,
indem er vorausfehickt: Qu'on ne sc figure pas, quenous
entreprentons une apoiogie du stylitisme. Nous ne eher-
chons nullement a le presentcr comme une des expressions
/es plus autorisces de l'ascetisme, et Fexpose qui va suivre
ne donnern a personne la tentation, de monter sur une
eolonne. — Nous essaierons de foumir /es Clements neces-
saircs pour apprccier sainement un phenomene si etonnant,
dtsons le mot, si choquant a nos yeux cT Occidentaux. Er
befpricht dann zuerft die Entftehung diefer Art von
Mönchthum und führt fie, namentlich nach Theodoret,
auf Symeon den Aelteren zurück. In dem zweiten Ab-