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Ausgabe:

1895 Nr. 7

Spalte:

194-195

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Otto

Titel/Untertitel:

Ueber Werthurtheile 1895

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 7. 194

denn das Syftem der Wahrheit ftützen? Auf die Schrift?
Nein, denn diefe Art Schriftauslegung ift nicht berechtigt,
wenn nicht vorher feftfteht, dafs es mit den Realitäten
des Glaubens die im Syftem der Gewifsheit dargelegte
Bewandtnifs hat Auf das Dogma? Nein, denn diefes ift
als kirchliches Dogma an und für fich in der evangeli-
fchen Theologie keine entfcheidende Inftanz, wie denn
Frank felbft es niemals dafür gegeben hat; fein Ein-
ftehen für dasfelbe hat wieder zur Vorausfetzung, dafs
es fchliefslich auf der Ausfage der gläubigen Gemeinde
über die Realitäten ihres Glaubens beruht. Er hat, wie
er vom Scheitel bis zur Zehe evangelifcher, lutherifcher
Theolog war, fehr richtig gefehen, dafs die evangelifche
Dogmatik nur auf den Glauben und feine Gewifsheit
begründet werden kann. Darum verliert das Syftem der
Wahrheit feine Begründung, wenn es felbft die Vorausfetzung
dafür ift, dafs es mit der Gewifsheit des Glaubens
die von Frank angenommene Bewandtnifs hat.
Oder denn, es bleibt zur Begründung nur die fpeculative
Conftruction der Gedanken als folche übrig. Aber die

Ritsehl, Otto, Ueber Werthurtheile. Freiburg i. B., J. C.
Mohr, 1895. (VII, 35 S. gr. 8,) M. —. 80

Nach einem gefchichtlichen Ueberblick über die Be-
rückfichtigung der Werthurtheile in der Theologie giebt
der Verfaffer eine pfychologifche Erklärung derfelben,
die darauf hinausläuft, dafs das urfprüngliche Erkennen
überhaupt in Werthurtheilen befteht. Auf diefem primitiven
Erkennen in Werthurtheilen erheben fich die Ge-
wohnheitsurtheile des gemeinen Wiffens. Von beiden
find zu unterfcheiden die eigentlich theoretifchen Urtheile
der Wiffenfchaft, die nur unter anhaltender Zucht des
Geiftes erworben und feftgehalten werden können. Diefe
Theorie der Werthurtheile ift zunächft ohne Berück-
fichtigung der religiöfen Erfcheinungen entworfen; fie
erweift fich aber als der rechte Schlüffel zu deren Ver-
ftändnifs, fintemal Glauben und Hoffen das eigentliche
Wefen aller Religion ift, alles religiöfe Erkennen daher
in Werthurtheilen verläuft. Dafs diefe Urtheile zugleich
wahr, alfo wirkliche Erkenntnifs find, fetzt der Fromme

hat er felbft nie als Beweis der Wahrheit,"fondern nur ! fo. gut vo™ ,s> wie der. Menfch dasfelbe von feinem
als Mittel der Vergegenwärtigung anders wie feftftehender P"",h.Ye.n Erkennen f nimmt Und da die Wifienfchaft

Realitäten angefehen wiffen wollen. Und fo wenig ihr
dialektifcher Werth unterfchätzt werden foll, fo genügt
fie doch nicht als Beweis. Dazu fehlt es ihr wieder an
Ableitung und Begründung. Auch ift fie dem Gegen-
ftand gegenüber zu unfrei. Wer andere Denkgewohnheiten
hat, kann fich dem Eindruck nicht entziehen, dafs
es fich oft nur darum handelt, die in der Ueberlieferung
gegebenen Stoffe fo zuzuftutzen, dafs fie fich dem Gedankenzug
des Syftems einfügen, und dafs, wenn dies
gelingt, das Erkenntnifsbedürfnifs befriedigt ift. Das mag
ja auch feine Berechtigung haben, folange die Vorausfetzung
gilt, dafs diefe überlieferten Ausdrucksformen
chriftlicher Erkenntnifs die Realitäten des Glaubens felber
find. Fällt aber diefe Vorausfetzung, dann hat das Verfahren
an und für fich felbft nicht die Kraft, die Reful-
tate zu tragen d. h. zu begründen. Und defshalb mufs
es heifsen, dafs das Syflem der Wahrheit, wenn es fich
nicht auf das Syftem der Gewifsheit ftützen kann, deffen
Vorausfetzung es vielmehr felber ift, den Boden unter
den Füfsen verliert.

Dennoch fcheint mir das Verdient! der Theologie
Frank's gerade in diefem Verfuch zu liegen, den er im

derReligionincommenfurabelift, wird diefe Vorausfetzung
niemals direct widerlegt werden können. Freilich ift fie
auch nicht zu erweifen; fie erweifen wollen ift überhaupt
ein principieller Fehler; Allgemeingültigkeit der religiöfen
Urtheile wäre nur fo zu erreichen, dafs eine be-
ftimmte Religion im Kampf der Geifter den Sieg davon
trüge. Diefe Allgemeingültigkeit anteeipirt der Chrift
für feine Religion, ein Urtheil, das felber auf Glauben
beruht, alfo nicht aus deffen Kreis hinausführt, was überhaupt
nicht möglich ift. Eine doppelte Wahrheit, die
des chriftlichen Glaubens und die der Wiffenfchaft,
braucht man defshalb nicht anzunehmen. Vielmehr
ordnet der Chrift die Refultate der Wiffenfchaft als
zweckmäfsige Mittel feinem fittlichen Handeln ein und
gelangt fo zu einer einheitlichen Weltanschauung.

Sehr viele und fehr wichtige Fragen werden in diefen
Ausführungen theils befprochen, theils geftreift. Die
Kürze, in der es gefchieht, erklärt fich daraus, dafs die
kleine Schrift der Abdruck eines Vortrags ift. Auf
alles hier befprochene einzugehen, ift aber ohne Ueber-
fchreitung des zugemeffenen Raums nicht möglich. Ich
befchränke mich daher auf ein paar Bemerkungen über

Syftem der Gewifsheit macht, das theologifche Syftem, j den Hauptpunkt. Der liegt nach der ,Vorbemerkung'
unter Abweifung aller andern Stützen, auf dem Glauben j O. Ritfchl's darin, dafs er die Anficht feines Vaters, wo

und feiner Gewifsheit aufzubauen. Es ift doch nichts
Geringes, dafs ein Theolog wie er dem ihm offenbar

nach die religiöfen Urtheile Werthurtheile find, gegen
die abweichende, namentlich auch von mir vertretene

nahe liegenden Reiz fpeculativer Gedankenbildung wider- Auffaffung, fie feien theoretifche Urtheile, die auf Werth

ltanden und überdies im Widerfpruch mit den alten
Lehrern, denen er fich fonft verwandt fühlte und mit
Vorliebe anfchlofs, unentwegt den Grundfatz verfochten
hat, es fei in der Kirche der Reformation der noth-
wendige Weg der Theologie, auf den Glauben und feine

urtheilen beruhen, vertreten und neu begründen will.

Allererft möchte ich aber hervorheben, dafs ich die
erwähnte Differenz zwifchen Ritfehl und mir nie als eine
principielle oder überhaupt fachliche gemeint und empfunden
habe. M. W. habe ich auch nie etwas anderes

im perfönlichen Leben des Chriften wurzelnde Gewifsheit über R.'s bezügliche Ausführungen gefaxt als dafs die
zurückzugreifen. Darin hat ihn auch kein Widerfpruch Ausdrucksweife mifsverftändlich fei. So falle ich es auch

irre gemacht, der in den Kreifen ihm fonft nahe flehender | heute noch. Denn worauf es mir bei meiner Bezeich-

tührte, war er an die orthodoxe Dogmatik gebunden
und ift deshalb in dem oben gefchilderten Widerfpruch
ftecken geblieben. Fraglich erfcheint es mir daher auch,
ob diejenigen Theologen, die von ihm die entfcheidende
Anregung erhalten haben, ihm auf feinen Wegen werden
folgen können, ob die Vertretung und Durchführung
jenes Grundfatzes fich auf die Dauer mit dem Fefthalten

giebt, das hat auch R. nie in Abrede ftellen wollen.
Aber dann wird das thatfächlich Gegebene richtiger bezeichnet
, wenn man fagt, die Glaubensfätze feien prak-
tifch begründete theoretifche Sätze, als wenn man fie
für Werthurtheile erklärt. Auch fordert nach meiner
Auffaffung die richtige wiffenfehaftliche Methode, die
einzelnen Momente des einheitlichen pfychifchen Lebens,

der orthodoxen Dogmatik wird vereinigen laffen. Auf hier alfo Werthurtheile und Seinsurtheile. fcharf und
jeden Fall wird feine Lebensarbeit keine vergebliche > principiell zu unterfcheiden und fich das Wirkliche wieder
gewefen fein. Was er im Syftem der Gewifsheit gewollt daraus ,zufammenzufetzen'. Läfst man fich hierin durch
und verfucht hat, fichert ihm einen Ehrenplatz unter den die Beobachtung ftören, dafs das in der Reflexion Ge-
evangelifchen Theologen des 19. Jahrhunderts. fchiedene im Leben immer in und mit einander da ift, fo

Berlin Kaftan. hält man eben die Höhenlage der abftracten wiffen-