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Ausgabe:

1894 Nr. 2

Spalte:

51-53

Autor/Hrsg.:

Graue, Dietrich Georg H.

Titel/Untertitel:

Die selbständige Stellung der Sittlichkeit zur Religion 1894

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 2.

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aus denen man kaum genug lernen kann. Das Werk
ift trotz feiner methodologifchen Unklarheiten, die bei
der Neuheit des Problems kaum vermeidlich waren,
weit mehr als ,der vorläufigfte Verfuch, eine Theologie
Chrifti zu conftruiren', als den der Verf. fein Buch
bezeichnet (297).

Halle a. S. Carl Clemen.

Graue, D. G. H., Die selbständige Stellung der Sittlichkeit
zur Religion. [Aus: Jahrbb. f. proteftant. Theol.'] Braun-
fchweig, Schwetfchke & Sohn, 1892. (VI, 219 S. gr. 8.)
M. 5. —

Der Verfaffer führt folgende Hauptgedanken aus.
Sittlichkeit und Religion find hinfichtlich ihrer Wefens-
grundlage von einander verfchieden. Sittlichkeit ift die
vom Sittengefetz beherrfchte Gefinnung und Lebensführung
. Das Sittengefetz ift ein aus dem idealen Wefen
der geiftigen Perfönlichkeit des Menfchen fich ergebendes
Gefetz, welches feine Forderungen an den empirifchen
Menfchen richtet und ihn zur Achtung des Wefens des
Menfchen und dadurch zur rechten Menfchenliebe treibt.
Es ift ein Freiheitsgefetz, welches zwar mit dem Anfpruch
abfoluter Verbindlichkeit auftritt, aber nicht zwangsweife
wirkt, fondern nur ein Motiv zum Handeln wird für die
freie Perfönlichkeit des Menfchen. Es thut fich dem
Menfchen urfprünglich kund nicht durch das verftandes- |
mäfsige Denken, fondern durch ein gewiffes dunkles !
Gefühl, das fich als Trieb, als Begehren geltend macht, j
Diefes Gefühl ift aber nicht etwa ein Luft- oder Unluft- j
gefühl, fondern ein dem Staunen verwandtes Gefühl !
ehrfürchtiger Achtung. Der Menfch kann das fo in
feinem eigenen Wefen begründete Sittengefetz befolgen,
ohne fich dabei Gottes bewufst zu werden und mit Gott
in perfönlichen Verkehr zu treten. Infofern kann es eine
religionslofe Sittlichkeit geben. Und umgekehrt haben
nicht alle religiöfen Acte eine fittliche Zweckbeziehung.
Denn in der Religion tritt der Menfch in ein Verhältnifs j
nicht, wie bei der Sittlichkeit, zu feinem eigenen Wefens-
gefetz, fondern zu einer ihm überlegenen, und zwar per-
fönlich aufgefafsten Macht. Seine religiöfe Beziehung
auf Gott geftaltet fich nicht immer und unmittelbar auch
zu einer Beziehung auf die Welt. Oft wendet fich der
Menfch im religiöfen Bewufstfein gerade von dem weit- I
liehen Leben ab, um fich anbetend ganz in Gott zu
vertiefen. Der religiöfe Menfch wird nun zwar das ihn
unbedingt verpflichtende Sittengefetz als eine Gottesoffenbarung
in fich beurtheilen. Aber zwingend ift diefe
religiöfe Erklärung nicht; in den pfychologifchen That-
fachen der Gewiffenserfahrung ift nichts enthalten, was
den Gottesglauben als eine Denknothwendigkeit aufdrängt.

Aber wenn die Moral für ihre theoretifche Begründung
des religiöfen Glaubens entrathen kann, fo
doch nicht für ihre praktifche Bethätigung. Nur in
dem Glauben an eine fittliche Weltordnung, an einen 1
endlichen Sieg des moralifch Guten kann fich der Menfch
mit ganzer Kraft und Freudigkeit in den Dienft der
littlichen Pflicht ftellen. Diefer Glaube an eine fittliche
Weltordnung aber ift nicht aus dem fittlichen Bewufstfein
für fich allein abzuleiten, fondern mufs fich auf das
religiöfe Bewufstfein ftützen. Durch eine folche Zuhülfe-
nahme des religiöfen Glaubens braucht dem Sittengefetze |
keineswegs der für es wefentliche Charakter der Auto-
nomie genommen zu werden. Denn diefe rechte Theo-
nomie bedeutet keine Heteronomie. Das Wefen des
Menfchen ift vielmehr auf Uebereinftimmung mit dem j
Willen Gottes angelegt, fo dafs deshalb das aus dem 1
Wefen des Menfchen fliefsende Sittengefetz zugleich als I
Wille Gottes betrachtet werden kann. Ebenfo wird durch
die religiöfe Vorftellung von der göttlichen Gnaden-
wirkfamkeit nicht nothwendig die für die Sittlichkeit fo i
wefentliche Idee der freien menfehlichen Perfönlichkeit

aufgehoben. Denn Gott kann Gemeinfchaft nur mit
freien Perfönlichkeiten, nicht mit willenlofen Werkzeugen
feiner Macht haben. Durch die göttliche Gnade foll die
fittliche Perfönlichkeit erft zu ihrer vollen Entfaltung
und Selbftthätigkeit kommen. Religiöfe Lohnfucht verunreinigt
die Sittlichkeit. Aber Liebe zu Gott ift ein
folches religiöfes Motiv, welches die rechte Sittlichkeit
nicht fchädigt, fondern fördert. Nur ift die religiöfe
Liebe zu Gott nicht als das einzige Motiv zum fittlichen
Verhalten zu betrachten. Wo fie vorhanden ift, giebt
fie dem menfehlichen Gemüthe eine bleibende Grund-
ftimmung; aber fie tritt doch nur zeitweilig direct in's
Bewufstfein. Die vollftändige Erkenntnifs der fittlichen
Pflichten im Einzelnen gewinnt man nicht unmittelbar
aus religiöfer Anfchauung und Ueberlieferung, fondern
unter Anwendung des Verftandes durch Berückfichtigung
der mannigfachen Beziehungen der Erfcheinungswelt in
der menfehlichen Gefellfchaft. Andererfeits ift es aber
auch verkehrt, eine ganz religionslofe, abfolute Autonomie
des fittlichen Handelns zu erftreben und zu meinen,
dafs durch folche Religionslofigkeit die Sittlichkeit be-
fonders geftärkt werden könnte. Wenn die Sittlichkeit
bis zu einem gewiffen Grade in der Verbindung mit
Atheismus möglich ift, fo gewinnt fie ihre höchfte Entfaltung
doch nur in der Verbindung mit Religiofität, und
zwar mit chriftlicher Religiofität. Dem atheiftifchen fittlichen
Menfchen fehlt mehr oder weniger die rechte
Demuth und die felbftlofe, neufcliaffende, auf die Menfch-
heit im Menfchen fich richtende Liebe. Erft die Erhebung
des frommen Gemüths und insbefondere die Erfahrung
von der Liebe Gottes, die uns in dem Evangelium von
Chrifto entgegentritt, hat wahrhafte und gründliche Reinigung
von Egoismus zur Folge.

In die Mitte diefes Gedankenganges hat der Verf.
einen Abfchnitt hineingeftellt, in dem er die Hauptmomente
der gefchichtlichen Entwicklung des Verhält-
nifses der Sittlichkeit zur Religion befpricht. So viel
Intereffantes auch diefe gefchichtliche Erörterung enthält,
fo habe ich fie doch an der Stelle, wo fie gegeben wird,
als ftörende Unterbrechung des übrigen Zufammenhanges
empfunden. Der Unterfchied zwifchen dem diefer gefchichtlichen
Epifode vorangehenden und dem ihr folgenden
Theile, den der Verf. fo formulirt, dafs er die
felbftändige Stellung der Sittlichkeit zur Religion dort
hinfichtlich ihrer wiffenfehaftlichen Begründung,
hier hinfichtlich ihrer praktifchen Bethätigung aufzeigen
wolle, ift in Wirklichkeit nicht fo grofs, dafs er
die Einfügung jener gefchichtlichen Erörterung rechtfertigt
. Thatfächlich bilden die Unterfuchung, wie fich
die Sittlichkeit hinfichtlich ihrer Wefensgrundlage, und
die Unterfuchung, wie fie fich hinfichtlich ihrer praktifchen
Bethätigung zur Religion verhält, die zufammengehörigen
Theile einer fyftematifchen Unterfuchung über das
Verhältnifs der Sittlichkeit zur Religion. Aus dem Rahmen
diefer fyftematifchen Unterfuchung fällt die gefchichtliche
Betrachtung heraus. Der Verf. gewinnt auch durch
diefe letztere nicht etwa folche neue Gefichtspunkte,
welche dann in dem folgenden zweiten Theile der fyftematifchen
Unterfuchung befonders verwerthet würden.

Gegen manches Einzelne könnte ich Einwendungen
geltend machen, insbefondere dagegen, wie der Verf.
am Anfang den Inhalt des Sittengefetzes aus dem Begriffe
des Gefetzes abzuleiten verfucht und wie er das
Verhältnifs des Gewiffens zum Sittengefetze und die Art
des bei der Gewiffensfunction betheiligten Gefühls näher
beftimmt. In den pfychologifchen Erörterungen feheinen
mir viele unklare und anfechtbare Punkte enthalten zu
fein. Aber ich möchte diefe Bedenken hier nicht weiter
ausführen, fondern lieber meiner Zuftimmung zu der
Tendenz der Unterfuchung im Ganzen Ausdruck geben.
Nach dem Titel erwartet man, dafs der Verf. fein be-
fonderes Intereffe darauf richtet, eben die Selbftändig-
keit der Sittlichkeit der Religion gegenüber nachzuweifen.