Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1894 Nr. 25

Spalte:

628-629

Autor/Hrsg.:

Brockelmann, Carol.

Titel/Untertitel:

Lexicon Syriacum. Praefatus est Th. Nöldeke. Fasc. 1 - 5 1894

Rezensent:

Hoffmann, Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

631 Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 25. 632

umfaffenden Literaturkenntnifs der Verfaffer ausgerüftet
ift. Nachdem kurz (S. 1—6) feftgeftellt ift, dafs entgegen
der Gewohnheit, nach der man jede von den
Völkern erzählte gröfsere Ueberfchwemmung Sintfluth
nennt, gemäfs dem vorherrfchenden Sprachgebrauche der
Bibel nur die von der Genefis gefchilderte Ueberfchwemmung
mit deliige bezeichnet werden foll, da die Geologie
für die anderen ähnlichen Erfcheinungen ihre befonderen
Namen befitze, folgt fofort die Darfteilung der verfchie-
denen Auffaffungen, welche die Sintflutherzählung der
Bibel, der Chaldäer und der fonft in Betracht kommenden
Völker von denjenigen Vertretern der hiftorifchen Schule
erfährt, die darin einig find, dafs diefer Tradition ein
hiftorifch.es Ereignifs zu Grunde liege.

Drei Unterabtheilungen werden unterfchieden: ? ecole
universaliste, l'ecole mixte und l'ecole non-universaliste.

L'ecole universaliste, unter deren Vertretern befon-
ders Henri Luken, Hettinger, Reufch und Glaire zu
Worte kommen, hält dafür, dafs alle bei der Mehrzahl
der Völker lebendigen Erinnerungen auf diefelbe That-
fache, von der die Genefis handelt, zurückgehen, dafs,
wo bis jetzt bei einem Volke eine folche Erinnerung
nicht nachweisbar ift, eine genauere Kenntnifs diefe Lücke
ausfüllen werde, andernfalls aber anzunehmen fei, das
betreffende Volk habe aus irgend einem Grunde die
frühere Erinnerung verloren. Meinungsverfchiedenheit
herrfcht in diefer Schule nur darüber, ob der Sintfluth
wirklich geographifche oder blofs ethnographifche Uni-
verfalität zuzuerkennen fei, alfo ob die Tradition von
einer umverteilen Sintfluth die Refultante und Zufammen-
faffung aller localen Erinnerungen fei, oder ob die ver-
fchiedenen Ueberlieferungen als die Strahlen der einen
primitiven Tradition zu betrachten feien, die aus der
gemeinfamen Wiege der Menfchheit, wo die Sintfluth
fich ereignete, in alle Länder der Erde mitgebracht
wurde (S. 7—28).

L'ecole mixte, als deren Hauptvertreter Frangois
Lenormant erfcheint, neben welchem noch Jean d'Eftienne,
l'abbe Jaugey und l'abbe Motais genannt werden, verfährt
weniger aprioriftilch; fie unterfcheidet einmal traditi-
ons reellement diluviennes und traditions pseudo - diluvi-
ennes und dann unter den erfteren wiederum folche, die
originales ou aborigenes, und folche, die importees, em-
pruntees ou derivees find. Sie erklärt demgemäfs die
chinefifchen und amerikanifchen Ueberlieferungen für
pfeudodiluvianifch und ftellt aufserdem feft, dafs den
Negern jede Sintfluthtradition fehlt (S. 29—52).

L'ecole non-universaliste endlich braucht nur eine
ftrengere und gewiffenhaftere Durchführung der von der
ecole mixte begonnenen Unterfcheidung der Traditionen
vorzunehmen, um zu dem Ergebnifs zu gelangen, dafs
allein die chaldäifche Tradition reellement diluvicnne et
aborigene ift. Dabei ift das Verhältnifs der drei Erzählungen
(Izdubar-Epos, Berofus und Genefis) noch ftreitig,
infofern Berofus und Genefis als fpätere Formen der
Sintflutherzählung des Izdubar-Epos oder aber als Schwertern
derfelben, wenn vielleicht auch als jüngere, ange-
fehen werden. Eingehend werden alle Möglichkeiten
befprochen und erwogen (wie: Mitnahme der Erinnerung
bei der Auswanderung Abraham's aus Ur, Entlehnung
in fpäterer Zeit, Einheitlichkeit oder Zufammenfetzung
der chaldäifchen und der biblifchen Verfion) und die
Anflehten von HaleVy, M. Vernes, Reville, Chantepie
de la Sauffaye, Jeremias, Georges Smith, Renan, Dillmann
, Franz Delitzfch protocollirt. Ausführlich werden
fchliefslich die Anfchauungen dargelegt, welche die Vertreter
diefer Schule, fei es, dafs fie nur einen Ausfchnitt
der Frage (fo J. G. Müller und A. Reville), fei es, dafs
fie die gefammte Frage behandelten (fo Dieftel, Eduard
Süfs, Dillmann, Franz Delitzfch und Richard Andree),
entwickelt haben (S. 53—250). Das Facit, zu dem die
kritifche Betrachtung diefer Schule gelangt, zeigt, dafs
fich das Gebiet der traditions diluviennes nur auf die

vorderafiatifche Gruppe der Semiten einengt, dafs die
übrigen Erzählungen von einer Sintfluth nicht auf eine
tradition primordiale zurückgeführt werden können, und
dafs die nach Ausfcheidung der fpäteren Uebermalungen
noch zurückbleibende Uebereinftimmung im Detail kein
Beweis urfprünglicher Einheit ift (S. 251—281).

Der Fortfehritt der Wiffenfchaft engt fomit die
Tradition über die Sintfluth auf das Izdubar-Epos, Berofus
und die Genefis ein; aber diefes Minimum gilt für ftark
genug, um darauf die Wirklichkeit des erzählten Ereig-
nifses zu ftützen. Nur bleibt die Frage noch offen, ob
das Ereignifs ein univerfelles oder ein locales war, und
immer ift der Vorbehalt zu machen, dafs noch zu
unterfuchen fei, ob nicht die ecole mythique diefer ecole
historique gegenüber am Ende Recht habe (S. 283—311).

Damit ift eigentlich diefer erfte Theil zu Ende geführt
; aber der Verfaffer fpendet in einem Anhang
(S. 313—374) noch einige werthvolle Zugaben. Zuerft
folgt eine Lifte der angeblichen archäologifchen Beweife
der Sintfluth, von denen nur zwei erwähnt werden follen,
um fofort den Werth aller erkennen zu laffen, nämlich
die altarabifche Redensart, die einen Menfchen, der auf
fich warten läfst, einen Raben Noah's nennt, und dann die
Refte der Arche auf dem Ararat, von denen zwar Parrot
im Jahre 1830 nichts bemerkt hat, die aber Jofeph Nuri
am 25. April 1892 gegen 2 Uhr Nachmittags gefehen
haben will. Ferner wird von dem vermeintlichen geo-
logifchen Beweis gefprochen. Dabei wird als Refultat
der Geologie feftgeftellt, dafs le deluge biblique n'a pas
laisse de traces materielles, dagegen aber darauf hinge -
wiefen, dafs die bekannte Theorie von Süfs, welcher
eine inondation sismique limitee ä la depression mesopota-
mienne annimmt, die Möglichkeit offen läfst, dafs die
chaldäifch-biblifche Tradition auf ein wirkliches Ereignifs
zurückgehe. Weiter wird eine mit reichen Beifpielen
ausgeftattete Aufzählung der Naturerfcheinungen geboten,
welche der Entftehung von Sintflutherzählungen zum
Ausgangspunkt dienen könnten (Regen; la rupture des
barrages rocheux, ebouleux, alluviaux ou glaciaires,formes
en travers d'une riviere ou contenant un lac; les ouragans et
les cycloncs u. les tremblements de terre). Schliefslich werden
noch zwei auf der Stufe der univerfaliftifchen Schule Zurückgebliebene
{retardataires) einer wohlverdienten Kritik
unterzogen, nämlich Holzammer (vierte Ausgabe von
Schufter's Handbuch zur biblifchen Gefchichte 1886) und
belonders der Spanier Gonzalez-Arintero (El diluvio
universal demostradopor la geologia y la prehistoria, 1891).

Muthen Einen zuerft die vier am Ende beigegebenen
Tabellen fremdartig an, fo erfcheinen fie nach der Leetüre
des Buches als überfichtliche Zufammenftellungen
der Anfchauungen der drei Schulen. Ueberhaupt ift das
Buch, wenn auch hie und da in der compilation der
travaux anterieurs (IX) eher des Guten zu viel gethan
wird, nirgends unintereffant, und es ift auch zuzugeltehen,
dafs der Verfaffer fich Mühe gegeben hat, mit den Problemen
der altteftamentlichen Kritik fich bekannt zu
machen. Schade aber ift es, dafs er fich durch Halevy,
deffen Exegefe auch auf S. 308 mit Unrecht gefolgt wird,
hat bewegen laffen, felbft noch Zweifel an der Zufammenfetzung
der Erzählung der Genefis über die Sintfluth
zu hegen, und dafs er immer noch den Anfchein erweckt
, als könnte die Wiffenfchaft die Quellen jenes
Berichtes als vormofaifch anerkennen. Dem vorurtneils-
freien Verfaffer wird es leicht fein, an Hand der von
ihm angeführten Bücher (wie die Ueberfetzung der Genefis
von Kautzfeh u. Socin und Holzinger's Einleitung in den
Hexateuch) fich von der Zufammenfetzung, fowie von
der fpäteren Herkunft jener Capitel felber zu überzeugen
, was für die zu erwartende Darftellung der tradition
diluvicnne nur von Werth fein wird. In den literari-
fchen Nachweifen dürften Abkürzungen, wie M. R. (S. 317)
u. Del Par. (S. 56), vermieden werden; erfteres ift nicht
für Jedermann fofort verftändlich, auch wenn früher