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Ausgabe:

1894 Nr. 18

Spalte:

469-471

Autor/Hrsg.:

Landwehr, Hugo

Titel/Untertitel:

Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Grossen Kurfürsten 1894

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 18.

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doch nicht verwehren, dafs wir feinem ,fittlich-religiöfen
Idealismus' und feinem erbitterten Kampf gegen die
Anhänger einfeitiger Verftandesbildung, gegen die Feinde
der Religion und des Chriftenthums, gegen den der Ideale
baren Realismus unfere aufrichtige Sympathie entgegenbringen
. Auch die fpeculative Gedankenentwicklung
unferes Buchs zeichnet fich vor anderen fpeculativen
Syftemen dadurch aus, dafs der Verf. fich bewufst ift,
nicht eine logifche Deduction, fondern eine Gemüths-
philofophie und im Grund eine religiöfe Weltanfchauung
darzubieten, und dafs er feine Anknüpfung an das
Chriftenthum nicht verbirgt. So kann es nicht ausbleiben,
dafs wir auch in diefer Speculation neben Schelling'fchen
und anderen Philofophemen manche echt chriftliche Glaubensgedanken
in origineller Auffaffung wiederfinden.
Aber doch muffen wir in dem ganzen Unternehmen, die
inneren Verhältnifse in Gott fpeculativ darzulegen und
die innere Genefis der Welt daraus zu erklären, eine
Ueberfchreitung der Grenzen erblicken, die auch der
religiöfen Erkenntnifs gefteckt find. Die Grenzüber-
fchreitung rächt fich bei dem Verf. dadurch, dafs er die
moderne Wiffenfchaft doch nicht voll zu würdigen vermag
und dafs er felbft bei feiner Erklärung der natürlichen
Vorgänge aus den göttlichen fpiritueüen Kräften
in geiftreiche Phantafien verfällt, zum Theil fogar in
Phantafterei, befonders in feinem Anhang zur ,Ueberficht
und Ableitung der fog. myftifchen Erfcheinungen'. — Die
Darfteilung des Buchs ift nicht überfichtlich und fehr reich
an Wiederholungen; ausdrücklich verwahrt fich der Verf.
gegen die Einfchnürung des Gedankens in das Joch der
gewöhnlichen Logik mit ihren methodifchen Regeln. Seine
Sprache ift nicht gefeilt, doch verleiht fie dem bewegten
Gemüth und dem Ringen des Gedankens, aus dem fie
hervorbricht, nicht feiten einen packenden Ausdruck.

Giefsen. Max Reifchle.

Caspari, Prof. D. Walter, Die geschichtliche Grundlage des
gegenwärtigen evangelischen Gemeindelebens, aus den

Quellen im Abrifs dargeftellt. Leipzig, Deichert
Nachf., 1894. (VI, 146 S. gr. 8.) M. 2.50; geb. M. 3.—
Die Hauptdata der ,praktifchen Theologie' will der
Herr Verfaffer in diefer Schrift zufammenftellen und
damit ,eine gefchichtliche Einleitung in die gegenwärtigen
Agenden' geben. Es kommt auf engem Raum gar
mancherlei zur Sprache: 1. Sonntag, Fefte, Feiertage bis
zum Ausgang des Mittelalters, 2. der Gemeindegottes-
dienft in der alten Kirche, 3. im Mittelalter, 4. die Neuordnung
durch die Reformation, 5. der Gemeindegefang,
6. die lutherifche Kirchen- und Gemeindebibel, 7. der
kirchliche Unterricht, 8. die Taufe, 9. die Trauung, 10. die
Bcftattung, 11. das Kirchenamt, 12. die kirchliche Liebes-
thätigkeit, 13. die Seelforge, 14. die chriftliche Sitte. Eine
Auswahl von 7 liturgifchen Formeln befchliefst das Buch.
Sachlich fcheint es nicht gerechtfertigt, das Kirchenamt
an 11. Stelle zu behandeln, und eine Zufammenord-
nung des Zufammengehörigen — z. B. die heiligen Zeiten
werden unter 1, 4 und 14 befprochen — würde der
Ueberfichtlichkeit gedient haben. ,Wer aus dem Büchlein
etwas lernen will, mufs die Anmerkungen durchnehmen
', fagt das Vorwort; und in der That geben die
Anmerkungen nicht feiten werthvolle Citate, für die jeder
Lefer dem Herrn Verfaffer zu Dank verpflichtet ift. Der
Werth des Buches reicht jedoch nicht viel weiter, und
die hohen Erwartungen, zu denen des Herrn Verfaffers
Buch über die Confirmation berechtigt, werden nicht erfüllt
. Die räumliche Ungleichheit der Bearbeitung mag
in der Schätzung des praktifch Bedeutfamen begründet
fein, aber um fo auffälliger tritt das Lückenhafte des
Werkes und der Mangel an Sorgfalt in den Angaben
hervor. Wenn von den Grundlagen des evangelifchen
Gemeindelebens gehandelt werden foll, dürfte man doch

eine kurze Erörterung des Begriffs der Kirche, der Gemeinde
, und feiner Verfchiedenheit im römifchen Katho-
licismus und im Proteftantismus erwarten, und die Neuordnung
des Gottesdienftes durch die Reformatoren kann
doch nicht in ihrer Bedeutung ohne den Begriff der Gemeinde
und des nun erflehenden Gemeindegottesdienftes
verftanden werden; aber das Unerläfsliche fucht man
vergebens.

Dafs der erfte Wochentag in den älteften chriftlichen
Schriften ausreichend als der Tag der Gemeindefeier
bezeugt fei, wird S. 1 mit der Apoftellehre u. f. w. belegt;
aber Act. 20, 7 und 1 Kor. 16, 2 weifen doch nicht
unwahrfcheinlich auf die Kntftehung der Sonntagsfeier
bereits in der Zeit der Apoftel hin, und die Hauptflelle
für den älteften Namen des Sonntags, Apc. 1, 10, wird
nicht citirt. Wie Leucius Charinus den Tag genannt
habe, wird nach Th. Zahn: Acta Ioannis mitgetheilt, aber
die wichtigen Angaben Tertullian's werden übergangen.
Dafs zur Zeit des Chryfoftomus die morgenländifche
Kirchein der Feier des Weihnachtsfeftes am 25. December
der Praxis des Abendlandes gefolgt fei, wird erwähnt,
aber dafs diefe Feier im Abendland erft von 354 datirt,
erfahren wir nicht. ,Damit find die Hauptfefte abge-
fchloffen', heifst es S. 2; allein es find nur das Fett der
Auferftehung Chrifti und das feiner Geburt genannt, von
dem Eintritt des Pfingftfeftes und der Himmelfahrt ift nichts
gefagt. Unverständlich und unrichtig ift die Notiz (S. 5),
dafs die Zeitbestimmung der Entstehung einzelner Sonntagsnamen
davon abhängig fei, dafs wir das Leben des
Verfaffers der Gemma animae genau datiren könnten.

In § 2 wird zuerft von der ,Vorlefung' gehandelt.
Von dem Vorgang der Synagoge erfahren wir nichts,
und die Angabe, dafs aufserbiblifche Lection an den
Märtyrerfeiern durch Vorlefung der Martyrien gt-
fchehen fei, bedarf der Ergänzung, dafs auch Briefe
römifcher und anderer Bifchöfe in der Liturgie vorgelefen
wurden, dafs nach Eufeb. h. c. 3, 12 an manchen Orten
Clem. Rom. I ad Cor., dafs von Clem. Alex, im Gottes-
dienft die Apoc. Petri als ,heilige Schrift' vorgelefen
wurde, dafs dasfelbe für einige Gemeinden Paläftina's
noch Sozomenos h. c. 7, 19 [ed. Valerius p. 735), alfo
um 440, bezeugt. Von Hieronymus und dem ihm zu-
gefchriebenen Comcs, aber auch von der Epistula dcdica-
toria (bei E. Ranke, Monumenta p. III) fchweigt der Verfaffer
. — In dem Abfchnitt vom Gemeindegebet (S. 10)
wird der Gebetsact in der clementinifchen Liturgie {Const.
Ap. 8, 5 f.) genau befchrieben, aber das Fürbittgebet
,für alle Menfchen, für die Könige und alle Obrigkeit',
auf das die alte Kirche von 1 Tim. 2 an fo grofses Gewicht
legt, ebenfo von der Exhomologefe (nachgeholt
S. 99 f.) wird nichts gefagt. In dem Abfchnitt von der
Abendmahlsfeier heifst es Anm. 18: ,Auch Cyrill hat
die Aufforderungen: Uvw Tag zaorJtai," u. f. w.; dafs dies
die weit ältere f. g. Präfation ift, erfahren wir nicht, noch
weniger, wann fie zuerft begegnet.

1° S 3 (S. L3 f-) fagf Anm. 1: Missa = Missio, wahr-
fcheinlich nicht: Entlastung, fondern: ,Gebet'. In diefer
Form ift die Notiz jedenfalls unrichtig. Missa {Missio)
heifst ,Entlaffung', und die Handlung, welche mit einer
Entlaffung (der Katechumen) eingeleitet und (der Gläubigen
) gefchloffen wurde, hiefs fynekdochifch Missa; weil
aber bei der Entlaffung ein Gebet gefprochen wurde,
heifsen auch die liturgifchen Gebete Missa, befonders
die Schlufsgebete der Hören (vgl. Thalhof er, Handbuch
der katholifchen Liturgik II, 1, 1890, S. 4 f.).

Aber bei weitem wichtiger ift der Mangel, der fich
vom dritten Paragraphen an durch das ganze Buch hinzieht
. Sowohl die Strafsburger Kirchenordnung
und Gottesdienftordnung, als auch die des Calvin
find in auffallendster Weife ignorirt. Man ftaunt über
Sätze, wie S. 25: ,Ein allgemeines Kirchengebet . .
fehlte in Luther's Deutfcher Meffe und fehlt darum auch
in anderen Ordnungen des Hauptgottesdienftes'. Nur