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Ausgabe:

1894 Nr. 17

Spalte:

444-447

Autor/Hrsg.:

Crousaz-Crétet, P. de

Titel/Untertitel:

L‘église et l‘état 1894

Rezensent:

Köhler, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 17.

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est en voie de subir une profondc transformation. Die
alte Zeit ift unwiderbringlich dahin, der Verf. begehrt nicht
fie zurückzurufen. Am wenigften beklagt er den Niedergang
des Gallikanismus. Die weltliche Gewalt hat fich
die Herrfchaft über die Gewiffen aneignen wollen, das
ift die grofse Schuld der magistrats sectaires, der galli-
kanifchen Parlamente; ihnen gegenüber gebührt den
Bifchöfen das Verdienft, die Freiheit der Gewiffen vertreten
zu haben (S. 329), freilich nicht um fie frei zu

dern als eine Art Dogma hinftellt, für welches er zwar
(nach einer vorgängigen Begriffsbeftimmung) einen kurz-
gefafsten ,Beweis' aufftellt, das er dann aber rein apo-
logetifch behandelt.

Die Einwendungen nun, die er zu widerlegen verbucht
, find 1) der ,Moralftatiftik', 2) der ,Anthropologie',
3) ,der phyfiologifchen Pfychologie', 4) der ,Speculation',
5) ,der mechanifchen Weltauffaffung' entlehnt (Cap. 3—7).
Hier mufs aber bereits die Kritik einfetzen, weil diefe

machen, fondern um fie einer andern Macht als der von j Eintheilung zu unfyftematifch ift. Das ergiebt fich fchon
ihnen bekämpften zu unterwerfen. Die Ziele find für die äufserlich z. B. daraus, dafs die Moralftatiftik zweimal
Kirche der Gegenwart diefelben, die fie waren, die Mittel ; behandelt ift (im ganzen 2. Capitel und im ^ 3 des 7-1
und Wege find andere geworden. Die alte Glaubensein- ! und Th. Ziehen's ,metaphyfifche Speculationen' in dem
heit belteht nicht mehr, die Glaubensfreiheit ift an ihre Capitel von der ,phyfiologifchen Pfychologie' erörtert
Stelle getreten. Die Kirche denkt nicht daran, die alte,
auf dem Grundfatz der Glaubenseinheit beruhende Gefetz-
gebung wiederherftellen zu wollen. Une legislation faite
pour d'untres temps susciterait la guerre entre /es citoyens

werden (S. 178). Anthropologie und Pfychologie, phyfio-
logifche und anderweitige Pfychologie, Lehre von den
Motiven (Cap. 7, § 1) und Pfychologie, Speculation und
,Weltauffaffung' laffen fich überhaupt nicht fo mechanifch

d'un meine pays. L'Eglise ne songe pas a la faire re- von einander trennen, wie es der Verf. zu thun verfucht.
vivre. Elle aecomplira sa mission par d'autres moyens j Ein zweites formales Bedenken erregt die Behauptung
(S. 333). Sie begehrt keine Gewaltmittel zur Erzwingung 1 (Cap. 1), dafs die allein zuläffige Faffung der Freiheit
des Glaubensgehorfams zu gebrauchen. Elle deutend j des Willens die Deutung derfelben als Wahlfreiheit fei,
pas davantage hnposer ses dogmes par la force. Elle die der Verf. auch als phyfifche Freiheit bezeichnet.
tfignore pas que la violence, presque toujours iniputable Zwar kommt bei dem Streite zwifchen den Determiniflen
auxgouvernements, a plus eloigne d'elle qiiattire les dissi- und den Indeterminiften diefe Bedeutung allein in Be-
dents (S,33l). Der Verf. weifs wohl, dafs Glaubenszwang tracht. Aber der Umftand, dafs nicht nur die Stoiker,
meift fruchtlos ift und vorausfichtlich von dem heutigen I fondern auch dasNeueTeftament unter elevd-eqia lediglich
Staat nicht zur Verfügung geftellt werden wird; dafs ; die fogen. reale Freiheit verftehen (nicht die formale
folcher Zwang unfittlich und unchriftlich fei, fagt er nicht, j oder Wahlfreiheit), dafs ferner z. B. Auguftinus weit
er würde dadurch mit unfehlbaren Ausfprüchen ex ca- • häufiger das Hingegebenfein an Gott oder die wahre
thedra in Widerfpruch kommen. Es ift die alte Ge- ! Sittlichkeit Freiheit nennt (gegenüber den Pelagianern),
fchichte: Rom vergifst nichts und lernt nichts, aber es 1 als das rein formale Vermögen des differenten Handelns
rechnet mit den Thatfachen und verfolgt mit neuen Mit- (gegenüber den Manichäern), hätte den Verf. von jener
teln ftets die alten Ziele. j Behauptung abhalten follen. Ferner hätte er wohl daran
Darmftadt. K.Köhler. I gethan fich den ziemlich weit verbreiteten Sprach-
_ 1 gebrauch anzueignen, nach welchem eben zwifchen realer

und formaler Freiheit (= Wahlfreiheit) unterfchieden
Gutberiet, Dr. Conft., Die Willensfreiheit und ihre Gegner. ; wird) anftatt fich für die erftere eines beftimmten Ter-
Fulda, Fuldaer Actiendruckerei, 1893. (VI, 272 S. gr. 8.) minus zu enthalten.

M. 3. 50. Geht Ref. nun aber nach Berührung diefer formalen

Der Verfafferfelbft rechnet die Thatfache der Willens- ! und a™?^^ Fehlerf1 EUJ "P'^J1" f*'

, ., , /- .• 1 ii .• 1 1 t . zur Anficht des Verl. s von der Willensfreiheit und zu

fre.he.t zu den Cardinalpunk en die Jedem, auch dem den Gründ dje er für diefdbe in, Qefecht führt f

Ungebildeten, mit der ftrahlendften Evidenz ab That- H er fich . Wefentlichen für befriedigt erklären,
fachen als unumftofshche Wahrheiten fich aufdrangen. p mdl VQn dem j des tHchen ßeweiscapitels

Er fugt hinzu den Beweis für die Willensfreiheit könne c 2) hat nur dag w h *> über dag

man kurz fafien, die Sache fei ja allzu klar Bedenkt ■ ^ Ze nifs unferes Freiheitsbewufstfeins ($ 2) be-
man nun wie unendlich oft von der Zeit der Stoiker j merkt wif| wahrend namentljch das über dje A3
und Epikureer her bis auf die neuefte Zeit über den , Willens. Ausgeführte (§ 1) zur Hälfte aus thomiftifchen,
Gegenftand (den nicht erft.die1 Scholaft.ker, wie Fr. Paulfen dnem brave* Untertanen des jetzigen Papftes natürlich
behauptet in die Phi ofophie hineingezogen haben ») theils vollkommen einleuchtenden, an fich aber nicht haltbaren,
monographiert theils1 im Zusammenhang mit den übrigen , . dezu determiniftifch gefärbten Sätzen befteht.

Beftandtheilen der Ethik und der Pfychologie gefchneben j >Ah* . den unmittelbar apologetifchen Partien (gegen
worden ift, fo erfcheint die Frage gerechtfertigt: wozu | Lombrofo, Schopenhauer, Wundt, Paulfen, Höffding und
dann noch ein neues Buch darüber? Indeffen abgefehen ; andere moderne Determiniften) findet fich eine brauch-
von der eminent^^prakt.Rhen Bedeutung der Sache ( von . bare und ausreichende Ergänzung jenes etwas dürftigen

ihr hängt die fittliche Verantwortlichkeit des menfeh-
lichen Handelns und fomit das gefammte fittliche Leben
der Menfchheit ab') hat den Verf. die Wahrnehmung
überwältigt, dafs gerade gegenwärtig, foweit die Willensfreiheit
überhaupt noch als ein Problem (nicht als völlig
abgethan) gelte, diefelbe heftiger, denn je, angegriffen
werde, fo dafs Grund genug vorhanden fei, wenigftens
die neueften, bedeutendften Determiniften zu widerlegen.
Zumal nun, da die jetzige Phafe des Kampfes neue
Streitobjecte (z. B. infolge der Fortfehritte der Moralftatiftik
) und neue Angriffs- fowie Vertheidigungswaffen
aufweift, fo will Ref. das Unternehmen nicht a limine
beanftanden und auch dagegen nichts einwenden, dafs
Gutberiet die Willensfreiheit nicht als ein Problem, fon-

Capitels. Allerdings geht der Verf. wenigftens hinficht-
lich der Moralftatiftik in einem Mafse auf Specialitäten
ein, welches gegenüber dem eigentlichen Zwecke des
Buches zum Theil geradezu als luxuriös erfcheint. Da
jedoch die betreffenden Angaben ebenfo wie die zahlreichen
ausführlichen Citate aus Schriften der Gegner an
fich intereffant find, fo nimmt man diefen Luxus nicht
ungern mit in den Kauf.

DerStandpunkt Gutberlet's ift fo wenig der extrem
indeterminiftifche, dafs man, um ihn kennzeichnen zu
können, in dem ohnehin begründeten Wunfche beftärkt
wird, es möge fich für diejenige mittlere Anficht, welche
Determinationen in einem gewiffen Mafse anerkennt, aber
deffen ungeachtet die wefentliche Freiheit des Willens

■ ) Siehe A. Trendelenburg, Notwendigkeit und Freiheit in der I fefthält, in der philofophifchen und theologifchen Ter-

griech. Philofophie, in den Hiftor. Beiträgen zur Philofophie, Bd. II., i minologie ein befonderer Ausdruck herausbilden und
Berlin, 1855. 1 feftfetzen, der das ,Tertium dafür' zwifchen dem abfoluten