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Ausgabe:

1894

Spalte:

397-399

Autor/Hrsg.:

Drescher, H.

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung und das Recht der Individualität auf sittlichem Gebiet 1894

Rezensent:

Schulthess-Rechberg, Gustav

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fchen und die Menfchheit giebt. Diefer fängt in jedem
Einzelnen neu an und findet in keinem irdifchen Wefen
feine Vollendung, fchliefst aber eine ewige Hoffnung
ein. — Es ift nicht möglich, bei der nothgedrungenen
Kürze einer folchen Anzeige einen Eindruck zu geben
von dem Reichthum tiefer Gedanken und feiner Reflexionen
, welche der Verf. in feiner eigenthümlich prägnanten
und mächtigen Sprache zur Erörterung feines
Thema beibringt. Insbefondere zeigt die Ausführung
über die Bedeutung der Perfon Chrifti für uns jene aller
Feffel der Tradition und Convention entwachfene Freiheit
der Anfchauung und des Ausdrucks und den pfy-
chologifchen Realismus, welche in den Schriften des
Verf.'s den Lefer fo fehr zu fördern und innerlich zu ergreifen
pflegen. Vielleicht hat die Fülle der Anregungen
für einzelne Augen die runde Antwort auf die im Thema
enthaltene Frage etwas aus der Mitte gerückt, die nämlich
, dafs der geiftige Fortfehritt der Menfchheit im
höchften und zugleich wurzelhaften Sinne in der Gewinnung
einzelner Perfonen für die volle Höhe des Menfch-
thums beftehe, und dafs diefe nur da, aber auch überall
da vorhanden fei, wo Chriftus die Kraft eines Menfchen-
herzens geworden ift.

5. H. Baffermann, Chriflenthum und Familie.

Soll in unferm Volk das Chriflenthum erhalten und
gefördert werden, fo mufs dies durch die Familie ge-
fchehen, denn die Familie ift ebenfowohl die vorzüg-
lichfle Pflegeflätte chriftlichen Sinnes, wie das wichtigfte
Organ der vom Evangelium ausgehenden Kräfte. Nach
dem Urtheil des Verf.'s ift die Familie unter uns im allgemeinen
diefer Bedeutung fleh nicht mehr bewufst und
jener Aufgabe nicht gewachfen, fo dafs wir auf dem
Punkte angelangt find, die religiöfe Tradition zu verlieren
, welche den natürlichen Boden für neue Anpflanzung
chriftlicher Frömmigkeit bildet. Seine Rede
wird daher zur herzlichen Aufforderung an die Zeit,
namentlich die junge Generation wieder zu der Quelle
zurückzuführen, aus welcher chriftliches Einzelleben und
Familienleben quillt, dem Worte Gottes. — Man wird
weder den Ausfuhrungen noch den Beforgnifsen des
Verf.'s Unrecht geben können, es wird aber hinlichtlich
der letzteren doch daran erinnert werden dürfen, dafs
das Chriflenthum zu jeder Zeit auch andere Wege gegangen
ift als durch das Familienleben und auch durch
das Gemeindeleben, und das dürfte der Gegenwart, wo
die Mittel geiftigen Verkehrs weit mannigfaltiger find
als ehedem, in befonderem Mafse zu gute kommen.

6. K. Seil, Chriflenthum und irdifcher Beruf.

Wenn Chriftus (Luc. 5, 11) den Simon und feine Genoffen
bei ihrer Berufsarbeit zum thätigen Chriflenthum
einladet durch das Wort: ,von nun an follft du Menfchen
fangen', fo verftand die alte Kirche das hiemit angedeutete
Verhältnifs des irdifchen Berufs zum Chriften-
ftande in dem negativen Sinne der Weltflucht. Es mufs
aber in der Weife der Reformation fo verftanden werden,
dafs die Weltarbeit beim Einzelnen und im Ganzen das
unerläfsliche Mittel für das Ziel des Reiches Gottes ift;
nicht freilich das directe Mittel, denn mindeftens der
Arbeitsbetrieb der Gegenwart nimmt grofsentheils den
Einzelnen nicht als Perfönlichkeit in Anfpruch, wie er
doch allein Glied des Reiches Gottes fein kann, und der
Weltverkehr ift nicht gleichbedeutend mit dem Weltfrieden
; wohl aber indirectes Mittel, indem fie die natürliche
Form für den perfönlichen Dienft am Nächften, für
die Uebung und Förderung der Humanität bildet. Die
active Liebe zum einzelnen Menfchen adelt jede Berufs-
thätigkeit zur Mitarbeit am grofsen Gotteswerke. — So
richtig dies ift, wird doch nicht durchaus beftritten
werden dürfen, dafs der Berufsarbeit ein directer Werth
für den Chriftenftand zukommen könne; man denke nur
an das Zuchtmittel für den Willen, welches in jeder
ernften Arbeit liegt. Zwifchen Humanität und chriftlicher
Liebe, welche der Verf. identificirt wiffen will, wird der

Unterfchied beftehen, dafs der letztere Begriff ein ewiges
Theil im Menfchen von feinem natürlichen Lebensbeftand
unterfcheidet und den Nächften im Sinne der Ueber-
ordnung von jenem über diefen zum Object des Handelns
macht, während die Humanität von jenem Unterfchied
abfieht, das Natürliche und das Uebernatürliche in
eins faffend.

7. A. Hauck, das Chriftenthum und das irdifche Gut.
Da der Gedanke die Laften und die Freuden des

irdifchen Lebens gleich zu vertheilen, unrealifirbar ift, fo
kann das Ziel nicht fein, die Zuftände zu ändern, wohl
aber die Menfchen, welche die Zuftände zu tragen haben.
Das Chriftenthum enthält die Heilung der focialen Krankheit
der Gegenwart, indem es die richtige Stellung zum
irdifchen Gut fchenkt. Mit Gott als dem abfoluten Gut
ift der Chrift davor bewahrt, die irdifchen Güter zu
überfchätzen, fich von ihnen beherrfchen zu laffen, wie
fie zu unterfchätzen und als Hindernifs feines Glückes
wegzuwerfen. Als von Gott verliehen und geordnet enthalten
die irdifchen Güter die Aufforderung an den
Chriften, fie als anvertrautes Pfund treu zu verwalten,
wozu der Gefichtspunkt der Solidarität der Menfchen
kommt, durch welchen der Einzelne angeleitet wird, das
Eigene in den Dienft der Gefammtheit zu ftellen. Dies
ergiebt die richtige Löfung der Frage, ob Individualismus
oder Socialismus des Befitzes. — Der Verf. dürfte feine
durchaus zu billigenden Aufftellungen zu wenig gegen
das Mifsverftändnifs gefchützt haben, als halte er die
geiftigen Principien des Glaubens und der Liebe für fich
für hinreichend zur Ueberwindung der focialen Nöthe der
Gegenwart, da es doch feine Meinung nicht fein wird,
die Mitwirkung rechtlicher Reformen zu diefem Zweck
abzulehnen.

8. H. Cremer, der moderne Peffimismus und die chrift-
liche Lehre von der Sünde.

Die Einficht in die Endlichkeit und das Elend unferes
Dafeins und in die Allgemeinheit der Sünde, welche jene
Uebel erft zur drückenden Laft macht, ift nicht erft ein
Erwerb des Chriftenthums. Aber während das natürliche
Urtheil über diefe Dinge in die trotzige Klage über die
Schlechtigkeit der Welt ausmündet, fchenkt das PJvan-
gelium der Menfchheit einerfeits einen viel tieferen Blick
in die Furchtbarkeit, infonderheit den inneren Zufammen-
hang und die collective Macht des Böfen, andererfeits
die Erkenntnifs der Schuld, welche auf jedem Einzelnen
liegt und ihn zufammenfchliefst mit der Sünde und Schuld
und dem Elend des Ganzen. Aber das Evangelium bezeugt
auch die Erlöfung, welche nur die Liebe und
zwar die handelnde Liebe Gottes in Chrifto, wie fie in
feinem Tode als Gericht und als Elrbarmen zur vollen
Entfaltung kommt, zu ftiften vermag. Im Glauben an
Chriftus find wir wiedergeboren und von dem Tode
errettet. Nun gewinnen wir auch eine andere Anfchauung
von der Welt. Um Chrifti, des Erlöfers willen läfst
Gott diefe Welt beftehen, durch Chriftus ift diefe Stätte
der Finfternifs zugleich eine Stätte der Gnade geworden.
Es giebt nun eine Macht des Lebens neben der Macht
des Todes und die Ausficht auf einen neuen Himmel
und eine neue Erde. — Der Verf. hat mit kräftigem
Worte die perfönliche Schuld und die Erlöfung durch
Gottes Liebe als die beiden Gefichtspunkte hervorgehoben
, durch welche die chriftliche Lehre von der
Sünde in Gegenfatz tritt zu allem natürlichen Peffimismus.
Mit vollem Recht! Die umfaffendere Formulirung des
Gegenfatzes ift jedoch diefe, dafs das Chriftenthum ein
pofitives fittliches Lebensziel, eine unter der Bedingung
der Annahme Chrifti erreichbare Vollkommenheit kennt,
während dem Peffimiften das Leben principiell zwecklos
ift. Die Abirrung von jenem Lebensziel ift die Sünde.
Indem Chriftus den Menfchen zur Stellungnahme in jener
Lebensauffaffung vermag, überwindet er die Sünde; die
Wurzel aller Sünde aber ift die praktifche Ablehnung