Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1894 Nr. 15

Spalte:

392-393

Autor/Hrsg.:

Erdmann, O.

Titel/Untertitel:

Die Glaubwürdigkeit der heil. Schrift als des Wortes Gottes 1894

Rezensent:

Lobstein, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

395

Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 15.

30

in diefer ,Gefchichte' die ethifchen Strömungen der Gegenwal
t nicht die Darfteilung und Beachtung erfahren,

öfters die von ihm gebrauchten Hilfsmittel nicht genau
erwähnt, oder auch er habe von denfelben oberflächlich

die ihnen gebührt. Unter den Titel des fiebenten Buches ; Kenntnifs genommen, wird man fchwerlich in Bezug auf

(,Die theologifche Ethik im Zeitalter der kirchlichen Erneuerung
') fällt gleichfam als Anhang der gefchichtlichen
Darfteilung ,die philofophifche Moral der Gegenwart'
(680—688). Unferem Bedauern darüber, Jodl, Baumann,
Höffding, Paulfen, Wundt, Jhering auf fo fummarifche
Weife abgefertigt zu fehen, wird vielleicht L. mit einem
Hinweis auf den Titel feines Werkes erwiedern: hat er
doch eine ,Gefchichte der chriftlichen Ethik' fchreiben
wollen. Diefe Antwort kann indeffen nicht genügen.
Abgefehen davon, dafs die Bezeichnung und der Spielraum
der ,chriftlichen' Ethik ein viel weiterer ift als der einer
,theologifchen' Moral, hat doch L. auch ausführlich die

diefe zweite Hälfte wiederholen. Unzählige Male führt
L. die Werke an, ,denen er folgt', ,die feiner Darfteilung
zu Grunde liegen'; allerdings hat er feine Führer
oft fehr einfeitig gewählt, und über die Zuverläffigkeit
mancher derfelben wird man wohl rechten dürfen; auch
ift das Verhältnifs zu den Quellen häufig ein gar zu äufser-
liches, und der Meinung, dafs durch einige aus dem Zu-
fammenhang geriffene Belegftellen eine Schrift oder ein
Syftem wirklich charakterifirt werden kann, giebt Luthardt
in bedenklicher Weife nach; immerhin find die fchweren
gravamina, welche Ziegler und befonders K. Müller gegen
den zweiten Band formuliren mufsten, hier foviel wie

Ethik Descartes' und Spinoza's, die Staatslehre Hobbe's gegenftandslos geworden. Und doch wäre es ungerecht,
und Pufendorf's, die fittlichen Grundfätze Goethe's und 1 wollte man behaupten, dafs peinliche Genauigkeit Lut-
Hegel's behandelt, die fchwerlich ein gröfseres Recht be- ! hardt's Sache geworden ift. Er felbft erklärt, dafs er fich
anfpruchen dürfen, in eine Gefchichte der chriftlichen ,nur bei etlichen Partien mit den bisherigen Darftellun-
Ethik aufgenommen zu werden, als die eben genannten j gen begnügen zu dürfen glaubte: die Myftik der römi-
Verfaffer; andererfeits haben diefelben alle, in zahlreichen , fchen Kirche, die Myftik und der Pietismus der refor-
Stellen ihrer Werke, zum chriftlichen Ethos bald pofitiv, mirten Niederlande, die englifche und franzöfifche Moral,
bald negativ in einer Weife Stellung genommen, die und Aehnliches'. Vielleicht wird ein mit dem Charisma
den Hiftoriker und Syftematiker nöthigt, fich mit ihnen der Quellenfcheidung begabter Recenfent, durch die zwei
auseinanderzufetzen, wenn er nicht, ein Fremdling in j letzten Wörtchen des angeführten Citats beunruhigt, der

feiner Zeit, gegenüber den herrfchenden Strömungen ver
ftändnifslos und machtlos daftehen will. Defshalb gebührte
auch den englifchen und franzöfifchen Werken der Gegenwart
eine viel eingehendere und umfaffendere Beachtung,
als dies hier gefchehen ift. Befonders letztere find gänzlich
unberückficht geblieben. Und doch find Männer wie

vom Verf. in geheimnifsvoller Allgemeinheit angedeuteten
Spur folgen, und es läfst fich wenigftens nicht a priori
leugnen, dafs auf einer folchen Reife überrafchende Entdeckungen
gemacht werden könnten. Schreiber diefes,
welcher auf diefen Ruhm verzichten mufs, kann aber eine
Frage nicht unterdrücken, die ihm fowohl die mitgetheilte

Renouvier, Pillon, Guyau, Fouillee, Ch. Secretan für die j Erklärung L.'s als das von L. geübte Verfahren nahe-
Löfung der Aufgabe der Ethik (auch der chriftlichen) : legt: ,die bisherigen Darftellungen', mit denen L. fich
fragelos von ungleich höherer Bedeutung als Balth. Meis- , begnügen zu dürfen glaubte, gehen zum Theil principiell
11er, Dürr, Th. Maier, Rixner, Dorfchaeus, Baier, Amefius, [ weit auseinander, man vergleiche beifpielsweife die Dar-
Perkins, Alfted, Polanus, Balduin, Brakel, Stiefel, Reufch, 1 Heilungen, welche Heppe und Ritfehl von der Myftik und
Ganz, Crüger, Hanffen, und wie alle die aus ihren Gräbern | dem Pietismus der reformirten Niederlande geben. Selbft
heraufbefchworenen für den modernen Bearbeiter ver- I der Gewandtheit eines L. konnte es nicht gelingen, bei
fchollenen und verblichenen Gröfsen heifsen mögen. Was i aller Virtuofität feiner Mofaikarbeit, ein feftes und an-
die englifchen Autoren betrifft, fo mag der Zufammen- fchauliches Bild einer Zeit zu entwerfen, welche in ,den
hang der durch Stuart Mill, Herbert Spencer, Stephen i bisherigen Unterfuchungen' eine fo verfchiedenartige Bevertretenen
Moral mit den früheren utilitariftifchen Sy- ] leuchtung erfahren hat. Im Uebrigen erklären fich die
(lernen Englands den Umftand erklären, dafs L. ihre nicht unerheblichen Lücken neuefter Literatur daraus,
Werke im Anfchlufs an Shaftesbury, Ad. Smith, Ben- dafs der Druck des 50 Bogen Marken Buches fich mehrere
tham befpricht; nichtsdeftoweniger nimmt fich eine Grup- Jahre hingezogen hat: fo ift die von Heineck zum erften
pirung, welche die moderne Sociologie aus unferem ! Male herausgegebene, ältefte Faffung von Melanchton's
Jahrhundert herausrückt und vor alle Errungenichaften ; Ethik dem Verf. nicht mehr zugänglich gewefen: Bartels
der heutigen Gefellfchaft und Wiffenfchaft zurückverfetzt, Arbeit über die ethifchen Grundgedanken der evangel.-
fonderbar genug aus. Dafs die englifchen Moraliften und j lutherifchen Bekenntnifsfchriften kennt L. nur aus ihrer
Sociologen die Philofophie Comte's (den L. in feinem um- erften, fehr dürftigen Geftalt (1884); die fleifsige und das
fangreichen Werke mit keinem Wort erwähnt), die gross- ! vollftändige Material beherrfchende Monographie Grün
artige Entfaltung der Naturwiffenfchaften, die politifchen
und ftaatswirthfchaftlichen Bewegungen der Gegenwart
zur Vorausfetzung haben, mufs man aus einigen oft mehr
gelegentlichen und im Ganzen verftreut vorliegenden
Aeufserungen errathen oder zufammenftellen (460. 680—
681). Hatte es L. einmal auf unfere Zeit und ihre Pro-

berg's überSpener konnte L. nicht mehr benützen; Stange's
gekrönte Preisfchrift ,Die chriftliche Ethik in ihrem Verhältnifs
zur modernen Ethik (Paulfen, Wundt, Hartmann)',
1892, hätte er vielleicht noch heranziehen können, wenn
fein Intereffe und feine Sympathien ihn nach jener Seite
getragen hätten. — Am Berten ift der Verf. auf dem Boden
bleme, Intereffen, Aufgaben und Gefahren abgefehen, und | der lutherifchen Theologie zu Haufe; hier fchöpft er un-
wollte er auch die fittlichen Zuftände und Richtungen mittelbar aus den Quellen felbft, feine eingehende Befchäf-
in den Kreis feiner Beurtheilung hereinziehen, fo waren tigung mit der Ethik Luther's und Melanchton's kommt

Thatfachen wie der wachfende Anklang eines Friedr
Nietzfche, der einem Ibfen gezollte Beifall, der Beifall,
welchen die Gedanken Tolftoi's auch unter uns finden,
Symptome, die ein Bearbeiter der Gefchichte der Ethik
in der Gegenwart nicht ignoriren durfte; haben einige

ihm hier zu gute; freilich verlieht er jenen immer noch
zu fehr ihm Sinne der Epigonenzeit lutherifcher Orthodoxie
, wenn auch ,die Decke, die für gewiffe Leute auf
der Lefung der Schriften Luther's liegt', vielleicht Dank
der von ihm bekämpften Gegner (vgl. z. B. 662) fich

diefer Erfcheinungen auch zunächft nur ein pathologi- ; auf manchen Punkten gelüftet hat. In der Beurtheilung
fches Intereffe, fo würde die nähere Betrachtung der- Zwingli's bemüht fich L. um eine anerkennenswerthe Un-
felben immerhin auch zur Feftftellung der Diagnofe befangenheit, er bewegt fich hier in Bahnen, die Seeberg
unferer Zeit und Gefellfchaft einen höchft werthvollen Ge- ihm gewiefen hatte. Für die Correctur, die der Erft-
winn abgeworfen haben. — Doch halten wir uns an das j lingsarbeit des Refer. ,über Calvin's Ethik' von L.
von dem Verf. uns Gebotene. Den Vorwurf, den viele zu Theil wurde (S. 77—78), ift ihm Ref. aufrichtig dank-
Recenfenten gegen die zwei früheren Bände des Gefammt- bar, und er kann nur bedauern, dafs der enge Anfchlufs
werkes erheben mufsten, die Anklage, Luthardt habe L.'s an jenein manchen Punkten fehr unfertige oder ein-