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Ausgabe:

1894 Nr. 15

Spalte:

390-391

Autor/Hrsg.:

Hubert, Friedr.

Titel/Untertitel:

Vergerio‘s publizistische Thätigkeit, nebst einer bibliographischen Uebersicht 1894

Rezensent:

Benrath, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 15.

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zu fetzen, und der Ton feiner Polemik ift ein durchaus
würdiger und dem Charakter des behandelten Gegen-
ftandes angemeffener. Er ift fich des Unterfchiedes, den
unfere Reformatoren zwifchen der fides historica und der
fides salvifica ftatuiren, gar wohl bewufst. ,Wenn auch
jemand durch Verftandesoperationen zum Fürwahrhalten
der Auferftehung Chrifti gezwungen werden könnte, es
wäre noch kein wahrer, fittlicher Heilsglaube an diefe
Gottesthat. Um der Auferftehung Jefu froh zu werden,
und fich der religiöfen Wirkungen auf das Menfchenherz
freuen zu können, dazu gehören fittliche Factoren; dazu
gehört vor allem die Erfahrung des Auferftandenen am
eigenen Herzen' (109—110). Nichtsdeftoweniger liegt
der ganzen Arbeit F.'s eine Unklarheit zu Grunde, die
in dem Wahres und Unrichtiges enthaltenden und in
feiner Allgemeinheit mifsverftändlichen Satze recht grell
hervortritt: ,Ohne den hiftorifchen Chriftus ift der Chri-
ftus des Glaubens ein wirkungslofes Phantom, und es ift
unmöglich, ohne Annahme der Gefchichtlichkeit der hiftorifchen
Thatfachen zum Heilsglauben aufzuwachfen'
(S. 15). Soll das heifsen, dafs das Heilsvertrauen des
evangelifchen Chriften nur dann entftehen und beftehen
kann, wenn es durch eine das heilsbedürftige Gemüth
überwältigende Thatfache geweckt und ftets aufs Neue
erzeugt und behauptet wird, fo werden wir dem Aus-
fpruchF.'s unbedingt beipflichten können. Soll aber unter
der Flagge jener einzig grofsen Thatfache der ganze
Ballaft der kirchlichen Tradition, oder auch nur der bibli-
fchen Einzelerreignifse, namentlich der auch von F. mit
grofsem Nachdruck betonten Wunder, hereingefchmuggelt
werden, fo müfsen wir energifch Verwahrung einlegen
gegen ein Unternehmen, das den gefetzlichen Glaubensbegriff
der katholifchen und proteftantifchen Orthodoxie
wieder aufrichten und uns um die koftbarfte Errungen-
fchaft der Reformation bringen würde.

Strafsburg i/E. P. Lobftein.

Luthardt, D. Chr. Ernft, Geschichte der christlichen Ethik.

2. Hälfte. Gefchichte der chrifflichen Ethik feit der
Reformation. Leipzig, Dörffling & Franke, 1893. (XII,
744 S. gr. 8.) M. 16. —

Das Erfcheinen des zweiten Bandes diefer Gefchichte
der chrifflichen Ethik, deren erfte Hälfte im Jahre 1888
erfchienen war, hat fleh länger verzögert und fein Umfang
ift gröfser geworden, als der Verfaffer felbft erwartet
hatte. Bei der Reichhaltigkeit des zu bearbeitenden
Stoffes ift dies begreiflich genug. Dafs Methode, Dar-
ftellungsweife und principielle Beurtheilung der Probleme
in diefem Werke diefelben find, welche uns in dem erften
Bande begegnet waren, verfteht fich wohl von felbft.
Was Ref. zur allgemeinen Charakteriftik der erften Hälfte
diefer Gefchichte bemerkt hat (vgl. Theol. Literaturzeitg.
1889, Nr. 1), trifft daher auch für diefen Band zu.

Das vorliegende Buch zerfällt in fieben Haupttheile:
I. Die reformatorifche Ethik (S. 1 —105). II. Die römifch-
katholifche Ethik der Reflaurationsperiode (105—173).
III. Die proteftantifche Ethik des orthodoxen Zeitalters
(174—248). IV. Die Ethik des Pietismus (248—340). V. Die
Ethik der Aufklärungszeit (340—496). VI. Die Moral im
Zeitalter der philofophifchen Erneuerung feit Kant (497_
613). VII. Die theologifche Ethik im Zeitalter der kirchlichen
Erneuerung (663—690). Ein ausführliches, auf das
Gefammtwerk fich beziehendes Sach- und Namenregifter
bildet den Schlufs (691—743)-

In der Faffung und Duchführung der Aufgabe, die
fich L. ftellt, laufen verfchiedene Gefichtspunkte nebeneinander
her, die fich bald in dankenswerther Weife ergänzen
, bald'aber auch — und letzteres ift am häufigften

der Fall, _ fich durchkreuzen und ftören. Das Buch

enthält eine Gefchichte und Kritik der ethifchen Syfteme
und Grundbegriffe, eine literarhistorifche Analyfe der

Hauptwerke mit ausführlichen Belegftellen, endlich häufige
Betrachtungen über die fittlichen Zuftände und Perfön-
lichkeiten. Nach welchem Mafsftab der Verf. den Stoff
ausfondert und abgrenzt, bleibt undeutlich; offenbar wirken
hier zum Theil äufserliche und zufällige Motive, wie
z. B. die Specialftudien und Sympathien des Verf's. Wer
Luthardt's gefammelte Vorträge oder feine Reden und
Predigten kennt, wird leicht errathen, warum er die fittlichen
Zuftände fpeciell in der lutherifchen Chriftenheit
Deutschlands (237—248), die Wendung in der herrfchen-
den Stimmung auf der Grenzfeheide zwifchen Pietismus
und Aufklärung (340—345), die Wirkung des reformato-
rifchen Princips auf das Gebiet der Kunft in Deutfch-
land (420—430;, den Thatbeweis des rechtfertigenden
Glaubens in den Werken der barmherzigen Liebe (673 —
680), zum befondern Gegenftand feiner Ausführungen
gemacht hat. Es find in diefen Capiteln die fchönen Vorträge
des Verf.'s über A. Dürer, über Geliert, über Gegen-
ftände oder Perfönlichkeiten der äufseren und inneren
Miffion verwerthet worden. Auch in den längeren, ziemlich
lofe zur Sache felbft gehörigen Excurfen über andere
nicht theologifche Themata, wie über Rouffeau und
feine Wirkungen, über Hegel, klingen Grundgedanken
aus L.'s Vorträgen über die modernen Weltanfchauungen
nach. Wir find weit entfernt, dem Verf. vorzuwerfen, dafs
er aus feinen früheren, beifällig aufgenommenen Schriften
Manches entlehnt und im vorliegenden Buche wiederum
mitgetheilt hat; wir mufsten aber das Verfahren erwähnen
, das die auffallenden Ungleichheiten erklärt, die
in der Behandlung der Gefchichte hervortreten.

Wie in der erften Hälfte, hat L. auch in diefem
Bande zahlreiche Referate aus den Quellen gegeben;
er hat dies befonders bei der Schilderung der Zeiten
und Verfaffer gethan, von denen er dachte, ,dafs wohl fo
bald nicht leicht Jemand diefen ganzen Stoff von Neuem
durcharbeiten würde'. Dies gilt in erfter Linie für die
Zeit der Orthodoxie, aber auch für das Zeitalter des
Pietismus und der mit Chr. Wolff pofitiv oder negativ
zufammenhängenden Theologen. Es fragt fich aber, ob
der von L. angegebene Gefichtspunkt die weitfehweifi-
gen Mittheilungen aus Joh. Gerhard (I74ff.) aus Quen-
ftedt (179 fr.), aus den akademifchen Disputationen der
Orthodoxie (182ff.), aus Dürr's und Baier's Compendien
(192—203), aus Wolff's Schülern (380—394) hinlänglich
motivirt und rechtfertigt. Erinnert man fich daran, dafs
diefe Gefchichte der Ethik für L. nicht Selbftzweck ift,
fondern dafs ,feine Abficht war, die Grundlage für eine
Darfteilung der Ethik felbft zu liefern', fo ift das Urtheil
gewifs begründet, dafs der Verf. mit jenen Notizen des
Guten zu viel gethan hat: die betreffenden Capitel fehen
doch gar zu fehr wie ein Herbarium oder ein Mufeum aus,
in welchem ein todter Stoff aufgefpeichert ift, welcher
die Vergeffeuheit, in die er verfunken ift, reichlich verdient
und keinerlei bildungsfähige Momente dem ethifchen
Forfcher darbietet. Jener ausführliche Katalog von
Namen und Schriften greift ungebührlich in das viel
beffer fundirte Recht Anderer ein und läfst für viel Wichtigeres
einen oft ganz unbedeutenden, in jeder Beziehung
ungenügenden Raum übrig. Beifpiele folcher Ungleichheiten
liefert beinahe ein jedes Capitel. Auffer den
foeben gegebenen Belegen, weife ich, um nur Eins herauszugreifen
, auf die Thatfache hin, dafs Luthardt dem
grofsten theol. Ethiker feit Schleiermacher drei Seiten
widmet, während die fittliche Denkweife Goethe's, die oft
genug mit der Gefchichte der chrifflichen Ethik blutwenig
zu thun hat, auf 8 Seiten, die fittliche Denk-
! w'ei.'e der Mutter Goethe's, die doch gleichfalls um die
| cnnfU- Moral viel geringere Verdienfte hat als Richard
Rothe auf 4i/2 Seiten dargeftellt wird. Auch die an
feinen Bemerkungen reichen Paragraphen über Schleier-
macher lind im Verhältnifs zu andern, für die gegen-
1 wartige Geftaltung der Ethik weit weniger fruchtbaren
I Partien, viel zu dürftig ausgefallen. Ueberhaupt haben

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