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Ausgabe:

1894 Nr. 15

Spalte:

385-387

Autor/Hrsg.:

Lange, J. P. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Bibelwerk, theologisch-homiletisches. Die Heilge Schrift Alten und Neuen Testaments, mit Rücksicht auf das theologisch-homiletische Bedürfnis des pastoralen Amtes... Des Alten Testamentes 19. Tl

Rezensent:

Siegfried, Carl

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389 Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 15. 390

Anwalt Luther's ,im neueften römifchen Gericht'. Die Wahl
eines Pfeudonyms ift begreiflich. Galt es doch, einen
wahren Augiasflall zu reinigen und fleh knietief in den
Schmutz zu wagen. Da pafst kein Doctorhut und kein
Talar, fondern ein Gewand, das man wieder ablegen kann.

Mit ungeheuerer Selbflverleugnung hat der Verf. die
Literatur durchgearbeitet, welche um 1500 den Gebildeten
geboten wurde, die man der Jugend in die Hand
gab, und welche in Predigten zur Verwendung kam. Es
ift haarfträubend, was für ein Erbe das Mittelalter an
Unfauberkeit hinterliefs, was felbfl ein Geiler von Kaifersberg
predigen konnte. Dagegen ift die Sprache Luther's,
der doch jener Zeit entflammte, anftändig und behutfam.
Ueberdies find manche feiner Tifchreden erfl fpäter in
anftofserregender Weife bearbeitet worden. Sehr beach-
tenswerth ift die Charakteriftik der Redeweife Luther's in
ihrer Energie und Wahrhaftigkeit gegenüber der eines
Melanchthon S. 37.

Die neueften römifchen Richter Luther's haben fich
nicht die Mühe genommen, Luther aus feiner Zeit zu ver-
ftehen. Ihnen glänzt ja der Schlufs des Mittelalters in
Janffen's goldenem Abendfonnenfchein, der fleh auch hier
wieder als vollkommenes Trugbild erweift. Hier wäre
zur VervoHkommung des Bildes noch eine Benützung
der Zimmerifchen Chronik aus der Hand von ftreng katho-
lifchen Verfaffern fehr wirkfam gewefen.

Auf den erften Theil ,Luthers freie Redeweife' S. 7—
38 folgt eine vollftändige Zufammenftellung römifcher
,Lugenden' über .Luther's angebliche Fleifchesfünden',
von denen feine erbittertften Feinde bei Lebzeiten Luther's,
fo argwöhnifch fie ihn beobachteten, nie etwas gewufst.
Man ift erftaunt über die fchöne Anzahl von Schaudermärlein
, welche die .Römifchen' jetzt im Bund mit den
.Naturaliften' aufgebracht, aber auch erfreut über die
Sicherheit, mit der Lutherophilus diefe Märlein nach
einander zerpflückt und fie als das, was fie find, nachweift
, als echte und gerechte Erfindungen einer wüften
Phantafie. Aber wer noch ein Herz für die römifch-
katholifche Kirche auch in ihrer heutigen Geftalt hat, dem
thut es im Innerften weh, zu fehen, wie ihre hitzigften
Vorkämpfer in blinder Wuth gegen Luther die Kirche,
welche fie grofs gezogen, in den fchwerften Mifscredit
zu bringen drohen. Denn was diefe Herren zufammen-
gebraut, zeugt von verzweifelt wenig Witz und viel lüfter-
nem Behagen an Schlüpfrigkeiten. Es ift ein hartes, aber
nicht unverdientes Wort, was zunächft Gottlieb, dem
Jefuiten Tilemann Pefch gilt: ,Wir hoffen —, dafs dem
Lefer etwas anderes völlig klar fein wird, die entfetzliche
fittliche Verdorbenheit, in welche die Jefuitifche Moral
einen Menfchen verfenken kann' (S. 72). Der Schmutz,
mit welchem Gottlieb, Evers, Herrmann bis herab zum
Paffauer Röhm, der jüngft aus Excerpten ein unglaublich
wüftes Buch zufammenklebte, das auch dem Lit. Hand-
weifer nimmer gefällt, Luther bewerfen, bleibt an ihren
Händen hängen. Ueberaus fchmerzlich ift, dafs in diefer
Gefellfchaft der ehemalige lutherifche Paftor Evers mehrmals
auf der unterften Stufe, wie als vorausgehender
Lampenträger erfcheint. Vgl. S. 64, 87.

Wiffenfchaftlich ift die Waffenrüftung diefer Kämpen
fehr gering. Griechifch verftehen fie nicht (S. 31, 95 ff-),
Latein auch nicht trotz des Breviers (vgl. 31, 58,69,70,
80) ja nicht einmal die deutfehe Sprache zur Zeit Luther s
(S.72); umfo fertiger find fie im Abfchrciben, Evers voran,
der den fchmutzigen Polterer Weislinger, den Sohn einer
kalvinifchen Convertitin, einen Mann mit einem bejam-
mernswerthen Ende (Freiburger Diöcef.-Arch. I, 407 ff.),
luftig ausfchreibt und breittritt (S. 42), und diefer Evers
dient als Quelle für den Jefuiten Gottlieb (S. 95) und
Andere. Auffallend ift der Mangel an hiftorifcher Methode
und Kritik. Der eine Brief von Erasmus ift echt, der
andere unecht, je nachdem es diefen Herren pafst (S.72)
Eine Predigt Wolfgang Agrikola's von Spalt vom Jahr
1580 mit dem unglaublichften, allen Thatfachen hohn-

fprechenden Inhalt wird als Eichftätter .Urkunde' ausgegeben
. Ein wüfter Spottvers auf die Pfaffen, der fich in
einer deutfehen Bibel von Luther's Hand finden follte
(auf der vatikanifchen Bibliothek), erweift fich als Er-
gufs eines mittelalterlichen Pfaffenfeindes. Auf falfche
Citate kommt es diefen Leuten nicht an (S. 46), bald wird
weggelaffen, bald hinzugeflickt. Ganz unglaublich bodenlos
ift die Unkenntnifs ganz bekannter Thatfachen und
ihrer Folge (z. B. Luther in Eifenach, in Erfurt, feine
Heirath). Aus 2 Wochen werden im Handumdrehen 3
(S. 89). Die Benützung der Quellen ift der Art, dafs man
allen Ausfagen diefer Schriftfteller, die an Panizza einen
eigenthümlichen Bundesgenoffen haben, nur mit Mifs-
trauen begegnen kann.

Unwillkürlich fragt man fich, ob nicht ernften Katholiken
und gewiffenhaften katholifchen Hiftorikern, ob nicht
auch den deutfehen Bifchöfen die Schamröthe über die
empfindliche Niederlage, die Rom in diefen Eiferern erleidet
, auf den Wangen brennt, ob nicht der Vatikan es
für zeitgemäfs hält, zum Rückzug zu blafen. — S. 9 1.
Zwiefalten ftatt Zweifeiden.

Nabern. G. Boffert.

Hubert, Dr. Friedr., Vergerio's publizistische Thätigkeit,

nebft einer bibliographifchen Ueberficht. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht, 1893. (XV, 323 S. gr. 8.)
M. 6. —

Seit dem Erfcheinen der panegyrifchen Biographie,
welche im Jahre 1855 der wackere Sixt dem .päpftlichen
Nuntius, katholifchen Bifchof und Vorkämpfer des Evangeliums
' gewidmet hat, ift von Mehreren Tüchtiges ge-
leiftet worden, um uns einer umfaffenden und objectiven
Würdigung der Perfon und der Wirkfamkeit diefes merkwürdigen
Mannes entgegen zu führen. Zunächft hat
Weller im Serapeum (XIX, 1858; XXVII, 1866) die von
Sixt aufgeftellte Bibliographie fehr wefentlich erweitert;
dann haben von Kausler und Schott den Briefwechfel
V.'s mit Herzog Chriftoph von Württemberg herausgegeben
(1875); dann hat Ferrai in einer Reihe von Abhandlungen
in Zeitfchriften feit 1885 (jetzt gebammelt in:
Studj störtet, Padua-Verona 1892) die katholifche Zeit V.'s
und vor allem feinen Procefs eingehend dargeftellt; endlich
hat Friedensburg mit V. die Reihe der ,Nuntiatur-
berichte' begonnen (Gotha 1892) und eine biographifche
Skizze V.'s bis auf die Nuntiatur vorausgefchickt. Rechnet
man dazu noch, was Comba fchon 1875, Reufch
(Index I) und der Unterzeichnete in der ,Gefchichte der
Reformation in Venedig' (1887) beigebracht hab en, fo
ergiebt fich, dafs der ftreitbare Mann nicht vernach-
laffigt geblieben ift. Wie manches freilich trotz Sixt und
Weller noch zu thun war, um auch nur die Bibliographie
in Vollftändigkeit herzuftellen, das konnte den Wenigen,
welchen der fehr feltene Katalog der Guicciardinifchen
Bibliothek (1875, nebft Supplem/ von 1877 und 1881) zu
Händen ift, ein Blick in die Schätze diefer Sammlung
klar machen.

Da hat nun abermals bei dem Bibliographifchen
Hubert feine junge Kraft eingefetzt, und zwar mit einer
folchen Hingabe an die felbftgewählte Aufgabe, dafs er
fich keine Mühe — und die war oft nicht gering — hat
verdriefsen laffen, und es ihm gelungen ift, nochmals
einen guten Schritt weiter auf die erftrebte Vollftändigkeit
hin zu thun. Was der neue Bearbeiter uns bietet,
ift im Wefentlichen eine Charakterifirung und bibliogra-
phifche Befchreibung der gefammten literarifchen Er-
zeugnifse, wie fie aus der Feder des vielfchreibenden
Mannes hervorgegangen find. Aber fchon die Angabe
des Titels, dafs die .publiciftifche Thätigkeit' V.'s dargeftellt
werden foll, läfst darauf fchliefsen, dafs es fich
eigentlich doch nur um die einer beftimmten Abzweckuncr,
und zwar der Polemik gegen die katholifche Kirche'