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Ausgabe:

1894 Nr. 9

Spalte:

256-258

Autor/Hrsg.:

Köhler, H.

Titel/Untertitel:

Die sogenannte ethische Bewegung und die Sozialdemokratie 1894

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 9.

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Ethik die Grundzüge der feinigen entworfen und in Vor- Indeffen das eigentliche Skelett des Syftems mag fo
lefungen ausgeführt, fondern auch, weil er fich eine flehen bleiben, wie es der Verf. hingeftellt hat, und auch
immerhin andere Aufgabe gehellt habe, als M., nämlich deffen eigentliche moralifche Anflehten entfprechen fach-
anftatt eingehender hifiorifcher Ausführungen in freier lieh nach der Ueberzeugung des Ref. im Ganzen fowohl
und zwanglofer Form vor Allem eine ,fyftematifche dem chriftlichen Bewufstfein als der allgemeinen Erfah-
Zufammenfaffung fowie eine feile und geordnete Be- ! rung und den Ergebnifsen befonnener Reflexion. Die
griffsentwickelung' erftrebt habe — mit Ausfchlufs ' technifche Ausführung können wir aber nicht durchweg
alles nicht im ftrengften Sinne unter einen moralifchen i gut heifsen. Auf die Temperamente z. B. kann man
Gefichtspunkt Fallenden (alles mehr Aefthetifchen und ; wohl die Gegenfätze der Receptivität und der Sponta-
Socialpolitifchen). Doch will auch Scharling (f. S. 28) den j neität, andererfeits des rafchen Wechfels und der Stetig

Stoff der Sittenlehre ,aus einem umfaffenden Cuitur
bewufstfein gewinnen, welches durch den h. Geift zu
einer chriftlichen Grundanfchauung desMenfchenlebens
mit feinen Ältlichen Aufgaben wiedergeboren worden ift
und das fleh von der h. Schrift leiten läfst'.

keit oder Dauer anwenden (mit Schi.), aber fchwerlich
den des Selbftbewufstfeins und des Willens (S. 67). Dafs
Gewiffen (aweiöiqaig, conscientid) fprachlich ein ,Zu-
fammenwiffen' mit dem Sittengefetz bedeute, können wir
nicht zugeben (vgl. dagegen M. Kaehler). Auch die betr.

Was nun die Gliederung des Stoffes anlangt, fo ift Definition (Gewiffen fei ,das Bewufstfein des Menfchen
es in neuerer Zeit Mode geworden, die von Schleiermacher I von der abfoluten Geltung des Sittengefetzes und eines
aufgebrachte Sonderung und Zufammenftellung der Güter-, hieraus hervorgehenden Gerichts über fein Thun und
Tugend- und Pflichtenlehre (d. h. deffen Unterfcheidung j Laffen') halten wir nicht für glücklich. Sie ift zu unbe-
des Sittlichen als Product, als fubjective Kraft und j ftimmt und drückt nicht einmal des Verf.'s eigene, weit
als Formel) als verfehlt zu bezeichnen. Anftatt deffen ! beffer gelungene Befchreibung des Gewiffens (z. B. das
fagt Scharling (S. 40), die Methode der Eintheilung des j wichtige Moment der zunächft rein individuellen BeStoffes
gehöre zu den Fragen der Ethik, in denen | deutung desfelben) treffend aus. Die Leugnung der für
Schi, den rechten Weg gezeigt habe. Ref. tritt dem das Individuum zugleich gefetzgeberifchen Bedeutung
nicht nur bei, fondern behauptet überdies, dafs Schi. ! desfelben (neben der richterlichen) hält Ref. für unbe-
mit feiner Methode im Wefentlichen auch thatfächlich gründet (vgl. deffen Lehrb. d. ev. Dogmatik, 1892, § 33).
trotz aller Einreden durchgedrungen ift, d. h. er macht Dafs im Gegenfatz zum Gefetz die Pflicht — wir reden
fleh anheifchig, nachzuweifen, dafs auch fall alle diejenigen ; jetzt nicht mehr vom Gewiffen — nur für den Ein neueren
theologifchen Ethiker, welche von der Methode
Schl.'s in thesi nichts wiffen wollen, in praxi gezeigt
haben, dafs es gar nicht möglich ift, den von demfelben
einmal gewiefenen Weg wieder völlig zu verlaffen. Was
Jul. Köftlin (Theol. Stud. u. Krit. 1879, IV) dem erften

zelnen in feinen befonderen Lebensverhältnifsen gelte
(f. S. 301), vermag Ref. nicht anzuerkennen. Es giebt
allerdings auch individuelle Pflichten, aber ift etwa z. B.
die Pflicht der Gerechtigkeit nicht eine umverteile, fowohl
für die Einzelnen wie für die Gemeinfchaften ? Auch

Theil der Ethik zuweifen will, ift im Grunde nichts ; noch Anderes, was hier nicht angegeben werden kann,
Anderes als Tugendlehre (das Sittliche als Kraft), fein giebt zu Einwendungen Anlafs. Allein einzelnen Capi-

teln, gegen welche wir Bedenken haben, fleht eine grofse
Anzahl folcher gegenüber, die wir als wohlgelungen bezeichnen
dürfen. So ift z. B. was der Verf. über die
Freiheit, den Indeterminismus und den Determinismus
ausführt, einen Punkt, der in den wenigften Lehrbüchern
der Moral genügend behandelt ift, fehr dazu geeignet,
Studirenden über die betr. Fragen in der Kürze hinlängliche
Klarheit zu verfchaffen. Es gehört überhaupt zu den
Vorzügen diefes Buches, dafs es genau das Mafs der
Ausführlichkeit und der Kürze einhält, welches den Be-
dürfnifsen der Studirenden entfpricht. Leider fehlt es
übrigens in demfelben nicht an zahlreichen Druckfehlern
(S. 95, Z. 13 von unten, fleht z. B. fehr irreleitend anftatt
Indeterminismus Determinismus).

Kiel. F. Nitzfeh.

zweiter Theil ift im Wefentlichen Pflichtenlehre. Auch
von Oettingen's erfter Theil ift im Grunde Tugend
lehre, im zweiten giebt diefer eine combinirte Pflichten-
und Güterlehre. J. A. Dorner weift in feiner Ethik darauf
hin, dafs Gefetz (= Pflicht), Tugend und höchftes
Gut in Chrifto zur vollen Darfteilung kommen. Auch
Martenfen und Joh. Peter Lange find, jeder in feiner
Weife, zu der in Rede flehenden Gliederung zurückgekehrt
, erfterer wenigftens innerhalb feines erften oder
allgemeinen Theiles. Modificirt erfcheint allerdings
das Verfahren Schl.'s bei allen diefen Ethikern, und das
gilt auch von Scharling, der im erften Theile ,die
Perfönlichkeit', im zweiten ,das Gefetz', im dritten ,die
Lebensgüter' (zuvörderft die Familie, hierauf die bürgerliche
Gemeinfchaft und den Staat, endlich die Kirche)
behandelt und mit der ,Vollendung des Reiches Gottes'
fchliefst, innerhalb diefer drei in der Hauptfache nach
Schl.'s Vorbild entworfenen Abtheilungen jedoch eine Köhler, H., Die sogenannte ethische Bewegung und die Sozialeigen
thümliche Gliederung zur Geltung zu bringen 1 demokratie. LeiPziS> Hinrichs, 1893. (48 S. gr. 8.)

verfucht. Völlig motivirt kann Ref. nun freilich diefe M _ (-

innere Gliederung der Haupttheile nicht finden. Nämlich v • '

während wir es billigen, dafs im erften Haupttheile (der Englifche und amerikanifche Vorbilder find es ge-

die Perfönlichkeit betrifft) die pfychologifchen Grund- ! wefen, welche die ,fogenannte Ethifche Bewegung' bei
beftimmungen gegeben, ferner die Lehre von der Frei- | uns hervorgerufen und am 19. üctober 1892 in Berlin
heit und die ewigen .Grundideen des Lebens und ihr j zur Gründung einer ,Deutfchen Gefellfchaft für ethifche
Urfprung in Gott', endlich die Lehre vom Gewiffen und j Kultur' geführt haben, an deren Spitze zur Zeit der Di-
vom Charakter entwickelt werden, würden wir ,den Be- j rector der Königlichen Sternwarte, Geheimrath Prof. Dr.
griff des Sittlichen' der Einleitung, die Lehre vom Reiche | Förfter, fleht, ,während als die eigentliche Seele der BeGottes
gänzlich dem dritten Haupttheil zuweifen, hin- i wegung der Herausgeber der Wochenfchrift „Ethifche
gegen die Tugendlehre fowie die Lehre vom fubjectiven Kultur", Profeffor Georg von Gizycki, zu betrachten ift.
Heil (von der Bufse, Wiedergeburt, Heiligung u. f. w.), ; Die Gefammtzahl der Mitglieder betrug bis zum 20. No-
der Lehre von der .Perfönlichkeit' (alfo nicht der Lehre vember bereits 552, gröfstenteils Berliner . . . Bis Ende
vom .Gefetz') einverleiben, nicht minder die Lehre von ! Januar war die Zahl auf über Taufend gediegen'. Auch

der Sünde. Demgemäfs würde allerdings für den zweiten
Haupttheil auf der Grundlage der Lehre ,vom objectiven
Heil" (vom geoffenbarten Gefetze Gottes, vom Gefetz der
Liebe, von der Nachfolge Jefu u. f. w.) nur die Lehre
von der Pflicht übrig bleiben, aber warum auch nicht?

in anderen Städten z. B. in Magdeburg ift der Verfluch
gemacht worden, Abtheilungen zu gründen. Allein die
.ethifche Bewegung' hat noch einen anderen Spröfsling
getrieben, der nicht von feinen, fondern von recht derben
und rauhen Händen gepflegt wird, nämlich von den