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Ausgabe:

1894 Nr. 8

Spalte:

222-223

Autor/Hrsg.:

Wundt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Ethik. 2., umgearb. Aufl 1894

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 8.

222

für die Liebe gegen Einzelne, fofern wir uns mit ihnen
zufammen je als einen Theil des Leibes Chrifti zu betrachten
haben (ev. indem wir diefe Zugehörigkeit bei
Andern erft anticipiren) und fragen, was ohne Schaden
für das Ganze für diefen Theil das Berte ift. Dadurch
wird die natürliche und die jüdifche Moral einerfeits
uberboten, andererfeits eine tefte Regel für das dort
unbertimmt Gebliebene gegeben. Ueberboten werden
beide ferner durch die Forderungen einer Demuth, welche
den Anfpruch auf Ehre nicht fowohl auf das gebührende
Mafs befchränkt, fondern ihn gänzlich aufgiebt,
und einer Bereitfchaft zu vergeben, die nicht wie dort
fich nur von ungebührlicher Beftrafung fernhält, fondern
unter Verzicht auf jede ftrafende Reaction das Unrecht
durch Liebe überwindet, fowie eines beftändigen Strebens
nach Herzensreinheit, das auf jede Befriedigung
linnlicher Begierde — mit der Ausnahme der in der
chriftlichen Ehe gefchehenden — verzichtet.

Aber diefe Regeln vollkommenen Lebens verpflichten
den Chrirten in feinem gegenwärtigen Uebergangsftadium
nur fo weit, als die alte Natur durch die neue bereits
erfetzt irt. Soweit dies nicht der Fall ift, fteht auch er
unter den Regeln der jüdifchen bezw. natürlichen Moral.
Erft allmählich und zwar nicht auf dem Wege graduellen
Wachsthums, fondern Stück für Stück werden die ungeordneten
Vermögen der alten Natur durch die vollkommen
geordneten der neuen erfetzt.

Dies die wefentlichen Gedanken des Verfaffers. Ich
kann fie nicht als einen fördernden Beitrag zur Löfung
der zu Beginn hervorgehobenen Aufgabe anfehen. Ich
befchränke mich auf die Hauptpunkte. Für principiell
verfehlt mufs ich das Unternehmen halten, ein Syftem
der naturlichen Moral aus dem Gefichtspunkt zu entwickeln
, dafs der Menfch bei ihr nur als Theil der Natur
in Betracht kommt. Das fittliche Leben, auch das
natürlich-littliche, ift eine in der Gefchichte vorliegende
Thatfache und hat als folche allen Anfpruch darauf, in
diefer feiner Thatfächlichkeit zum Gegenftand der Unter-
fuchung auf die wirklich in ihm wirkfamen Motive, auf
deren Entftehung und Gültigkeitsgrunde, gemacht zu
werden, wahrend der Verf. eine Wiffenfchaft der natürlichen
Moral aus einem Brincip conftruirt, das diefer
Thatfache des naturlich-fittlichen Lebens gar nicht entnommen
ift. Denn der Gedanke an die Abficht der
Natur fällt gar nicht in das Bewufstfein des Menfchen,
der im Zufammenhang des gemeinfamen gefchichtlichen
Lebens zu fittlichem Bewufstfein erwacht. Es ift ein
quidproquo, durch welches der Verf. feinen Begriff des
natural conduct erreicht. Er nennt es das erfte fundamentale
Factum der natürlichen Moral, dafs der Menfch,
wenn er feft davon uberzeugt ift, durch eine beftimmte
Handlungsweife fein Glück zu fördern, es für unnatürlich
halten mufs, dies nicht zu thun, und er erweitert
dann den 10 gewonnenen Begriff eines von dem Wunfeh
nach Gluck verfchiedenen constraint zu natural conduct
auf die Falle, in welchen wir jene Ueberzeugung nicht
haben und deshalb andere Forderungen als die mafs-
gebenden anerkennen. Aber die Termini .natürlich' und
.unnatürlich' haben in jenem Falle gar keine Beziehung
auf eine Abficht der objectiven Natur, fondern beziehen
fich auf eine fubjective Empfindung, die wir in Allen
meinen vorausfetzen zu dürfen. Ferner ift es eine my-
thihrende Idcalilirung der Natur, wenn fie als ein von
planmäfsiger Abficht und von Fürforge für die Individuen
durchdrungenes Ganze dargeftellt wird. Weiter
bedeutet es eine Subftitution gleichgültiger Verftandes-
reflexionen an Stelle der unmittelbaren Gefühle, in denen
die fittliche Verpflichtung erlebt wird, wenn der Verf.
eine Menge fittlicher Forderungen als Specialfälle des
in der Natur herrfchenden Princips unveränderlicher
Gefetzmälsigkeit betrachtet. Endlich führt der den Verf.
in feiner Wiffenfchaft der natürlichen Moral leitende
Gedanke, dafs der Menfch bei ihr nur als Theil der

Natur in Betracht kommt, gerade zur Verkennung des
charakteriftifchen Merkmals fittlichen Lebens, dafs der
Menfch in ihm einen von feinem natürlichen Dafein
unterfchiedenen und ihn über die Abhängigkeit von der
Natur erhebenden Lebensgehalt zu gewinnen ftrebt. Dem
entfpricht, dafs der Verf. auf dem Gebiet der religiöfen
Moral keine wirklich innerlichen Gründe der verpflichtenden
Kraft der dort auftretenden fittlichen Ideen aufweift
. In der jüdifchen Moral ift nun lediglich die
Thatfache, dafs Gott es fo geboten, der Grund der
fittlichen Verpflichtung — wie dies im Zufammenhang
der hiftorifchen Religion Ifraels verftändlich ift, wird
nicht gezeigt, und der typifche Charakter des Judenthums,
den der Verf. betont, kommt gerade fo in Wegfall, da
dies Merkmal auf den allgemeinen Standpunkt einer
moralifchen Religiofität nicht pafst — in der chriftlichen
ift es der wunderbare Vorgang der aufserhalb des be-
wufsten perfönlichen Lebens fallenden Vereinigung mit
dem verklärten Leibe Chrifti. Ebenfo äufserlich ift der
Beweis, dafs die fpeeififchen Regeln der chriftlichen Moral
das Vollendungsziel der fittlichen Entwicklung darftellen.
Statt auf den Nachweis, dafs erft in ihnen das fchon
vorher vorfchwebende, aber nicht erreichte Ziel freien
und übernatürlichen Innenlebens der Perfönlichkeit erreicht
wird, begründet der Verf. jene Thefe auf die dog-
matifchen Sätze, dafs Chriftus als Menfchenfohn die vollkommene
, menfehliche Natur befeffen hat und als Gott
das Urbild ift, nach dem der Menfch gefchaffen. Das
find blofse Verftandesreflexionen vom Boden dogma-
tifchen Fürwahrhaltens aus, der einfach als giltig vorausgefetzt
, zu dem kein Weg gezeigt wird.

Nicht minder unbefriedigend ift der Nachweis, dafs
erft in der chriftlichen Moral die Kraft zur Ueberwindung
der Sünde und ihrer Folgen gegeben ift. Es ift unhifto-
rifch und eine fchlimme Verkennung der fpeeififchen
Bedeutung des Chriftenthums, wenn fchon dem Judenthum
die volle Gewifsheit der Verföhnung mit Gott
lediglich auf die Reue hin zugefchrieben, wenn Chrifti
Zeugnifs von der Sünderliebe Gottes für etwas nicht
fpeeififeh chriftliches erklärt wird. Wäre aber die innere
Einigung mit Gott fchon auf dem Boden der Gefetzes-
religion durch die Zucht des Gefetzes zu erreichen, fo
würde auch nach den Prämiffen des Verf.'s nicht abzu-
fehen fein, warum die Folgen der Sünde nicht auch hier
fchon vollftändig füllten aufgehoben werden können.
Blofse Machtwirkungen Gottes find es, durch die der
Menfch neue Kräfte bekommt und durch die der Unordnung
, welche die Sünde in der Aufsenwelt herbeiführt
, entgegengewirkt wird. Dem Gebet wird auch hier
fchon eine Art Zauberkraft zugefchrieben. Was ift es
da für eine innere Notwendigkeit, die Gott veranlafst,
nur partiell, nicht gänzlich jene Folgen aufzuheben? Der
Verf. beruhigt fich eben dabei, dafs die Schrift es fo
lehrt, d. h. bei einer willkürlichen Ordnung Gottes.
Ebenfo kommt es bei ihm als eine willkürliche Verfügung
Gottes heraus, dafs die Neufchöpfung an Chrifti
Tod geknüpft wird. Endlich ift nicht abzufehen, wie
das wunderbare Factum, dafs den Getauften durch die
laufe der Keim einer neuen Natur eingepflanzt ift, wenn
man es auf Grund der Schrift mit dem Verftande für
wahr hält, das bewirken foll, was allein die kraftvolle
Grundlage chriftlichen Lebens ift und was die recht
verftandene Verföhnung durch Chriftus mit fich führt,
das freudige Lebensgefühl eines neuen Menfchen.
Tübingen. J. Gottfchick.

Wundt, Wilh., Ethik. Eine Unterfuchung der Thatfachen
und Gefetze des fittlichen Lebens. 2. umgearb. Aufl.
Stuttgart, Enke, 1892. (XII, 684 S. gr. 8.) M. 15. —

Bei der Befprechung der 1. Auflage diefes Werkes
(Tb. L.-Z. 1887 Nr. 11) ift die grofse Bedeutung gewürdigt,