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Ausgabe:

1894 Nr. 1

Spalte:

3-7

Autor/Hrsg.:

Montefiore, Claude G.

Titel/Untertitel:

Lectures on the origin and growth of religion as illustrated by the religion of the ancient Hebrews 1894

Rezensent:

Budde, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1894. Nr. 1.

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die in Rede flehenden Texte durch neuere Publicationen
in zuverläffigerer Form vorgelegt worden find, wie dies
beifpielsweife bei den Contracten von Siut über den
Todtencult der Fall war.

Das befprochene neue Werk Maspero's wird Niemand
entbehren können, der fich mit Religionsgefchichte
und Religionsphilofophie befchäftigt; bei dem Talente
des Verfaffers, die fchwierigften Fragen in anfchaulicher
und anfprechender Form klar und fafslich darzuftellen,
wird es jedem Theologen, Hifloriker und Orientalinnen
eine anregende und belehrende Leetüre darbieten.

Bonn. A. Wiedemann.

Montefiore, C. G., Lectures on the origin and growth of
religion as illustrated bythe religion of the ancient Hebrews.

The Hibbert lectures, 1892. London, Williams & Nor-
gate, 1892. (XXIV, 576 S. gr. 8.) geb. 10 s. 6 d.

Die Hibbert-Vorlefungen des Jahres 1892 bringen
uns in diefem Bande eine , Altteftamentliche Theologie
' nach der heute im Grunde allein noch möglichen
gefchichtlichen Behandlungsweife und Anordnung, eine
Religionsgefchichte alfo des Alten Israel. Eine befondere
Schattirung aber erhält diefe Darfteilung des Verlaufes
dadurch, dafs der Verf. nicht wie die aller bisherigen
nennenswerthen Werke proteftantifcher Chrift fondern
Israelit ift, und auch wir muffen mit dem Verf. (S. VIII)
dem Vorftande der Hibbert-Stiftung grofsen Dank wiffen
für die Weitherzigkeit, mit der er gerade diefe Veränderung
des Augenpunktes dem Gegenftande erfpriefs-
lich erachtet hat. Sind wir doch vor engherziger Vertretung
eines Parteiftandpunktes bei dem Verfaffer, der
fich als einer der Herausgeber der Zeitfchrift The Jewish
Quarterly Review auf das vortheilhaftefte bekannt gemacht
hat, von vorneherein ficher. Er ift kein dogmatifch
gebundener Israelit, und nicht im jüdifchen Lager der
Graetz und Genoffen find feine wiffenfehaftlichen Gewährsmänner
zu finden. Mit Recht bekennt er fich vor
allen Anderen einem Stade und Wellhaufen, einem Kuenen
und Cheyne zu Danke verpflichtet, und nur für die fpä-
tefte Zeit, wo das Gefetz die Zügel mehr und mehr an
fich nimmt, wird S. Schechter ihm ein zweifellos fehr
befähigter Führer. Sollte man für die Stellung des
Verfaffers zu feinem Stoffe einen Wunfeh ausfprechen,
fo wäre es nicht der gröfserer Unparteilichkeit, fondern
gröfserer Selbftändigkeit. Man empfängt oft den Eindruck
, als wenn der Verf. es vor allen Dingen ängftlich
vermiede, fich von feinen Vertrauensmännern zu entfernen
; als wenn er fich mehr auf ihren Standpunkt
verfetzte und ihre Anfchauung einmal als richtig annähme
, als dafs er fie felbft zum Eigenthum fich
erwürbe und in fein Fleifch und Blut überführte. Das
alles freilich, um von einem gewiffen Punkte an mit umfo
gröfserem Rechte eigene Anfchauungen vertreten und
einen klar bewufsten Gegenfatz geltend machen zu
können.

So kommt es, dafs das Buch in feiner erften, gröfseren
Hälfte (Vorlefungen I—VI, S. 1—354) nicht viel mehr
als eine handliche und verftändige Harmonie der Arbeiten
der obengenannten und anderer namhafter Gelehrten
unferer Zeit bietet. Wo Uneinigkeit herrfcht, wird meift
eine gefunde Mitte gefucht, die naturgemäfs keine Erhebung
, fondern eine Art Einbuchtung nach der vorfichtig-
traditionellen Seite hin darzuftellen pflegt; hie und da
kommt es über ein gewiffes Schwanken und Theilver-
tretung entgegengefetzter Anfchauungen nicht hinaus.
Auch an Wiederholungen kann es bei folchem Verhalten
nicht fehlen. Immerhin wird das Buch in diefen Ab-
fchnitten dem Nichtfachmann viel Anregung bieten und
zur Einführung in dies fchwierige Gebiet umfomehr
empfohlen werden können, als an Wettbewerbern kein
Ueberflufs herrfcht.

Eigenartig und felbftändig beginnt M.'s Darfteilung
zu werden in der VI. Vorlefung ,Die Reftauration und
das priefterliche Gefetz' (S. 286—353), um dann in den
drei letzten Vorlefungen diefe Eigenart voll und ganz
zu entwickeln. Ein entfehieden apologetifcher Zug giebt
hier dem Werke fein Gepräge. Es gilt, das gefetzliche
Judenthum der fpäteren Zeit gegen die herrfchende chrift-
liche Auffaffung, begründet noch weit mehr auf das
Urtheil des Paulus als auf das Jefu felber, und feilgehalten
und immer auf's neue in fcharfen Faffungen aus-
gefprochen von der wiffenfehaftlichen Theologie unferer
Zeit, zu vertheidigen und zu rechtfertigen. Dem Satze
von H. Schultz, dafs niemand, der nicht Chrift ift, jemals
das Alte Teftament verliehen könne — übrigens ungenau
angeführt — wird S. 358 der andere gegenüber geftellt,
dafs niemand, der den Rabbinismus in feinen früheren
Phafen mit den Augen feines gröfsten Gegners [Paulus]
anfleht, ihn jemals richtig werthen kann. Es ift falfch,
das Judenthum nur im Lichte chriftlicher Teleologie (als
,Treibbeet des Chriftenthums' S. 416) zu betrachten; gar
keine Teleologie, das ift die Lofung und das Beftreben
des Verfaffers (vgl. S. 358: Li abandoning a Christian
teleology, no attempt must be made to Substitute anotlicr
in its place). Es ift freilich die Frage, wieweit ihm das
gelingt; fehen wir recht, fo verftöfst er felbft fchon in
den Ausgangspunkten gegen diefen feinen Vorfatz. Schon
in der Vorrede S. VII erklärt er, dafs er über den
Alexandrinifchen oder Helleniftifchen Judaismus nichts
gefagt habe, weil, fo anziehend diefe religiöfe Phafe an
fich, und von fo grofser Wichtigkeit fie für die Ge-
fchichte des Chriftenthums fei, fie dennoch weitab und
aufserhalb des Hauptftromes der religiöfen Entwickelung,
fowohl im Alten Teftamente felbft als im Rabbinifchen
Schriftthum, liege. Ift das keine Teleologie, welche die
Entwickelung nur auf einen beftimmten Zielpunkt für
die einzig gefunde und gefetzmäfsige nimmt? Noch ftärker
tritt das weiterhin hervor. Auf S. 417 werden die beiden
Hauptaugenpunkte der Behandlung im Gegenfatze gegen
die chriftlich-teleologifche feftgelegt. Da heifst es: Der
Hauptnachdruck und die gröfste Ausführlichkeit mufs
für diejenigen Punkte aufgefpart bleiben, welche im
nachbiblifchen Judenthum von der gröfsten Bedeutung
waren oder wefentliche Beftandtheile eines nicht fecten-
mäfsig ausgeprägten Theismus (unsectarian Theisvi) von
heute bilden. Damit find — fo allein vermag ich den
Satz zu verliehen — das rabbinifche Judenthum einerfeits,
das Reformjudenthum unferer Tage andererfeits, beide
neben einander, aber auch nur fie, als die recht-
mäfsigen Erben des Alten Teftamentes bezeichnet, und
eine gerechte, wahrhaft gefchichtliche Schilderung der
Religion des Alten Teftamentes mufs fich an diefen
Augen- und Zielpunkten beftändig orientiren [tt will be
advisable to keep two qualifications of interest concurrently
in view). Das find zwei 'Ideologien anftatt einer, und
noch dazu recht fchwer vereinbare. Wie das zu S. 358
ftimmen foll, ift fchwer einzufehen, ebenfowenig aber ift
ein fachlicher Grund dafür zu entdecken, vielmehr nur
des Verfaffers Ehrfurcht vor feines Volkes Vergangenheit
einerfeits und feine perfönliche Ueberzeugung andererfeits
können ein folches Verfahren erklären. Oder genügt
wirklich der Name Judenthum', der jenen beiden Richtungen
verblieben ift, fie als die einzig berechtigten Erben
des A. T.'s zu erweifen? Der Verf. fagt S. 467: ,Ks
kann nicht zu ftark betont werden, dafs die Bücher des
A. T.'s nur Tendenzen aufweifen auf eine religiöfe Entwickelung
hin, welche erft beträchtlich fpäter zur Reife
kam' — aber wenn er dann fortfährt ,und dafs, nach
der fchlechten wie nach der guten Seite, fie kein ent-
fprechendes (adequate) Bild des Judaismus auch nur eines
Hillel oder Akiba geben können', fo fchliefst fich der
Zirkel wieder rettungslos. Hier wird dann auch eine
dritte Richtung noch, neben der chriftlichen und helleniftifchen
, als unberechtigt und geletzwidrig ausgefchieden.