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Ausgabe:

1893 Nr. 4

Spalte:

112-113

Autor/Hrsg.:

Kennedy, James Houghton

Titel/Untertitel:

Gottesglaube und moderne Weltanschauung 1893

Rezensent:

Ritschl, Otto

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III

Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 4.

112

Abendmahlsgemeinfchaft redet, auf ,die Augsb. Conf.,
welche die lutherifche Lehre als Glaubensartikel aufftellt
und die Gegenlehre verwirft'. Und derfelbe Mann, der
die Union früher aus ,Liebe zur Landeskirche' gegen die
Altlutheraner vertheidigt hatte, ftellt fie am Ende feines
Lebens unter das Eliasurtheil vom Berge Karmel. Was
wird hier mehr zu bedauern fein, die Thatfache diefes
Umfchwungs oder die Advocatenkunft, welche fie wegzuleugnen
unternimmt, oder endlich die Unfähigkeit des
Biographen, den ,Zeitgeift' zu erkennen, den wachfenden
Einflufs der Parteimacht, der hier in Hengftenberg's Leben
deutlich hervortritt?

Niemand wird unter diefen Umftänden eine wirkliche
Unterfuchung der gefchichtlichen Bedeutung Hengften-
berg's von Schmalenbach's Arbeit erwarten. Und dürftiger
und unrichtiger als es auf S. 463—469 gefchehen ift,
hätte auch die perfönliche ,Charakteriftik' des Mannes
fchwerlich ausfallen können. Der ,gemüthstiefe, fülle
Mann', die ,contemplative Natur' mit ihren ,zur Warmhaltung
der Chriftusreligion gefegneten Leiftungen' wird
da gepriefen. Wie es aber damit fteht, verräth ein Satz,
der die Thatfachen geradezu auf den Kopf ftellt. ,Die
Stille des Pfarrhaufes in Wetter förderte die Anlage zu
einem verborgenen, verfenkten Leben'. Man kann den
Verf. nicht anders verftehen, als dafs er diefe Schilderung
der Kinderjahre in directe Beziehung zu dem fpäteren
Leben des Mannes fetzen will. Nun aber ift nichts ge-
wiffer, als dafs die ganze Jugendzeit Hengftenberg's nirgends
den Eindruck contemplativer Neigungen macht,
es fei denn, dafs man frühe Todesahnungen dahin deuten
will. Religiös vollends ift er in feinem Elternhaufe überhaupt
nicht beeinflufst worden: ,Ich hatte in meiner
Jugendzeit nie beten gelernt' (I, S. 100). Dem entfpricht
es durchaus, dafs die befchauliche Färbung der pietifti-
fchen Frömmigkeit feiner Zeit ihm immer fremd geblieben
ift. Zwar er hat fich den Kreifen, die ihn trugen, infoweit
anbequemt, dafs er Zinzendorf und der Brüdergemeinde
wiederholt dem alten Pietismus gegenüber Recht gegeben
hat. Aber fein Chriftusbild trägt durchweg nicht
die Kennzeichen des leidenden Heilands, fondern
die Merkmale des Weltherrfchers an fich
(vgl. S. 171. 203. 212. 343. 351), des Weltherrfchers auch
in politifcher und focialer Beziehung. Das ift eine gründliche
Verfchiebung des religiöfen Intereffes, welches den
Pietismus der Erweckungszeit urfprünglich belebte. Allerdings
umfchlofs derfelbe im Gegenfatz zur Aufklärung
auch kirchenpolitifche Tendenzen. Für Hengftenberg's
Wirkfamkeit kamen diefe ausfchliefslich in Betracht.
Unter der Lofung ,Mir ift gegeben alle Gewalt' wurde
der rohe Parteikampf infcenirt. Wenn man diefe Ueber-
gängc beachtet, wird man fehr geneigt, Ritfchl's
Urtheil (Rechtf. u. Verf.2 I, S. 644 ff.) zuzuftimmen, dafs
die wirkliche Frömmigkeit Hengftenberg's erft in feinen
Auffätzen über den Jakobusbrief und die Sünderin zu
deutlicher Ausfprache gelangt. Schmalenbach freilich
konnte folchen Gedanken nicht zugänglich fein. Denn
er hat felbft die kritifchen Bemerkungen Bachmann's
(II, 153) über die in der Ev. K.-Z. 1866/67 vorgetragene
Rechtfertigungslehre mit den Worten abgefertigt: ,fo
giebt es auch epidemifche Gerüchte, die um fich greifen
und Gutgefinnte doch bedenklich machen' (S. 431).

Aber thue ich dem Verf. vielleicht Unrecht, wenn
ich ihm die Löfung der allerdings fchwierigen Aufgabe
zumuthe, Hengftenberg's gefchichtliche Bedeutung zu
würdigen? Er hat den Titel feines Buches von Bachmann
übernommen. Aber er läfst die umfaffende Gründlichkeit
durchaus vermiffen, welche die beiden erften Bände
immerhin auszeichnet. Zwar dafs die Kirchenzeitung
nicht nur im Mittelpunkt fteht, fondern alles Andere
völlig in den Hintergrund fchiebt, wird Niemand rügen
wollen. Es ift das nur ein, vielleicht unfreiwilliges, Zeug-
nifs für die Werthlofigkeit von Hengftenberg's ,wiffen-
fchaftlichen' Leiftungen. Aber des Verf.'s Arbeit ift

geradezu zu einem Auszug aus 33 Jahrgängen jenes
Blattes geworden. Jahr für Jahr wird ein Excerpt aus
den Vorworten und einigen anderen Auffätzen geboten.
Die Darfteilung erhält dadurch etwas fo Zerhacktes, dafs
der Lefer fortwährend Athem holen mufs, um den willkürlichen
Gedankenfprüngen diefer Zeitungstheologie zu
folgen. Was aus ungedruckten Quellen beigefügt ift, be-
fchränkt fich neben den erwähnten Zuftimmungskund-
gebungen auf Mittheilungen aus Hengftenberg's Brief-
wechfel, die zum guten Theil einen erfchreckend nüchternen
Eindruck machen. Bleibt mithin dem Buche nur
das Verdienft einer unvollftändigen Stofffammlung, fo
hätte wenigftens das Inhaltsverzeichnifs etwas genauer
bearbeitet werden dürfen. Es fehlen u. A.: Anabaptiften,
i Bleek, Dorner, Guftav-Adolf-Verein, Hamann, Martenfen,
| Mühler, Proteftantenverein, Vermittlungstheologie, Zinzendorf
. Unter ,Röm.-kath. Kirche' müfsten mehrere
Dutzend Stellen angeführt fein; es finden fich nur zwei.
Und wenn der unglückliche ,Zeitgeift' überhaupt aufgenommen
wurde, fo mufste nicht auf eine, fondern gewifs
auf 50 Seitenzahlen verwiefen werden.

Rumpenheim. S. Eck.

Kennedy, Dr. James Houghton, Gottesglaube und moderne
Weltanschauung. Mit einer Einführung von Prof. Dr.
Otto Zöckler. Autorif. Ueberfetzung. Berlin, Reuther &
Reichard, 1893. (XVI, 214 S. 8.) M. 4.—

Ueber die vorliegenden Vorlefungen (Donellan
Lectures), welche der Verfaffer 1888 und 1889 vor der
Univerfität Dublin gehalten hat, bemerkt Zöckler in
feiner Einführung mit Recht: ,Es ift eine Kritik der
wider die Grundlagen des Gottesglaubens im menfch-
lichen Denken und Erkennen gerichteten Angriffe des
modernen Materialismus, die man hier findet. Und zwar
eine Kritik, die durch ihre Schärfe und mehrfeitig anregende
Kraft manchen ähnlich gearteten Verfuchen
unferer einheimifchen Literatur überlegen erfcheint'.
Thatfächlich zeichnen fich die Ausführungen des Ver-
faffers durch Gelehrfamkeit und Scharffinn aus. Er deckt
die wiffenfchaftliche Schwäche der materialiftifchen Hy-
pothefe in der Naturwiffenfchaft auf. Infofern mag feine
Beweisführung für folche, die nur deswegen an der
theiftifchen Weltanfchauung irre zu werden in Gefahr
find, weil fie fich durch die vermeintlichen Ergebnifse
der Naturwiffenfchaft über die letzten Gründe alles Seins
zu fehr haben imponiren laffen, wohl von einigem
Nutzen fein. Uebrigens aber hat auch der Verfaffer für
das Dafein Gottes felber keinen zwingenden Beweis erbracht
, fondern im heften Falle nur gezeigt, dafs der
Gottesglaube eine zutreffendere Erklärung für die Frage
nach dem Grunde der Welt bietet, als die materiali-
ftifche Hypothefe, dafs er alfo wahrfcheinlicher ift, als
diefe. Denn auf dem von ihm eingefchlagenen Wege ift
mehr zu erreichen überhaupt nicht möglich. Der Materialismus
ift ja felber im letzten Grunde gar nicht Wiffen-
fchaft, gerade fo wenig, wie der chriftliche Theismus,
fondern er ift, ebenfo wie diefer, Weltanfchauung. Wie
ein überzeugter Chrift durch alle Argumentationen für
die abfolute Abhängigkeit des Geifteslebens von der
Naturwelt fich dennoch feinen Glauben niemals rauben
läfst, ebenfo wenig wird die Dialektik des Verfaffers,
namentlich wo er fich in der beliebten apologetifchen
Weife auf fcheinbare Zugeftändnifse naturwiffenfchaftlicher
Autoritäten beruft, einen confequenten Materialiften in
feiner vorgefafsten Meinung irre machen. Dafs aber feine
Ausführungen jemandem plaufibel erfcheinen, das fetzt
bereits bei diefem die chriftliche Weltanfchauung oder
wenigftens einen mächtigen Eindruck voraus, den diefe
zuvor in ihm hervorgebracht hat.

Der moralifche Beweis ferner, den der Verfaffer im
Anfchlufs an Kant zur Ergänzung des phyfiko-teleologi-