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Ausgabe:

1893

Spalte:

85-87

Autor/Hrsg.:

Kattenbusch, Ferd.

Titel/Untertitel:

Von Schleiermacher zu Ritschl. Zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik 1893

Rezensent:

Schulthess-Rechberg, Gustav

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deutet fein, dafs der Brief nicht fo anfängt, wie hier im
Text. S. 317 Z. 16 u. 17 find die Worte ,an die hochgelobten
Mutter Gottes' nicht verftändlich. An ift zu
tilgen; hochgelobt fteht im Grundtext nicht.

Die kleinen Ausftellungen beeinträchtigen den Werth
des Ganzen nicht. Der letzte Band fchliefst die Auswahl
aus Luther's Werken in würdiger Weife ab, denn er
bringt koftbare Vermächtnifse aus Luther's Geiftesfchätzen
unter das Volk. Bei der Billigkeit der hübfch ausge-
ftatteten Ausgabe wäre dringend zu wünfchen, dafs fie
in erfter Linie unter unfern jungen Theologen, aber auch
unter der ganzen deutfchen Studentenfchaft Aufnahme
fände. Noch mehr wäre es zu begrüfsen, wenn fie auch
bei gebildeten Katholiken Eingang fände und ihnen zu
einem unbefangenen Urtheil über den Mann verhelfen
könnte, an deffen geiftiger Hinrichtung heute noch alles,
was römifch-jefuitifchen Geift athmet, feine letzte Kraft
fetzt, was vorurtheilslofen Katholiken nur zum Beweis
dienen kann, dafs Luther ein anderer Mann fein mufs,
als ihn jene Geiner fchildern.

Nabern. G. Boffert.

Kattenbusch, Prof. D. Ferd., Von Schleiermacher zu Ritschi.

Zur Orientirung über den gegenwärtigen Stand der
Dogmatik. [Vorträge der theolog. Konferenz zu Giefsen,
geh. am 28. Mai 1891. (VII. Folge.)] Giefsen, Ricker,
1892, (86 S. 8.) M. 1.20.

Der Verf. ftellt fich die Aufgabe, die allgemeine
dogmatifche Situation der Gegenwart, wie fie Refultat
der Gefchichte ift, in den Grundzügen darzuftellen. Er
geht davon aus, dafs alle Richtungen und Vertreter der
dogmatifchen Wiffenfchaft unter uns trotz tiefgreifender
gegenfeitiger Differenzen irgendwie von Schleiermacher
abhängig find. Eine befondere Stellung unter ihnen
nimmt aber Ritfehl ein, deffen Auftreten die Oppofition
aller anderen Gruppen hervorgerufen hat. Hier das
fcheidende Princip zu fixiren wird für die vorliegende
Aufgabe von grofsem Werth fein. Der Verf. findet das-
felbe darin, dafs alle übrigen dogmatifchen Schulen die
Schleiermacher'fche Auffaffhng von der Eigenart der Religion
— wie immer modificirt — aeeeptiren, indem ihre
theologifche Reflexion ein unmittelbares Selbftbewufst-
fein' zum Ausgangspunkt nimmt, während Ritfehl die
Offenbarung Gottes in Chrifto, das gefchichtliche Evangelium
der Glaubenslehre zu Grunde legt. Schleiermacher's
Religionsbegriff gehört aber als organifches Glied einer,
im Kreife der Romantiker vertretenen, äfthetifch-pantheif-
tifchen Weltanfchauung an, für welche das Univerfum
ein Kunftwerk, Gott die finnvolle Einheit der Welt und
die Religion der Genufs diefcs Gottes ift; er kann daher
für die chriftliche Theologie nicht ohne weiteres mafs-
gebend fein. Die ,Bewufstfeinsthcologie' fcheidet fich nun
in die liberale, die confeffionelle oder orthodoxe und
die vermittelnde Richtung. Die erflgenannte ift in ver-
fchiedenem Mafse aufser von Schleiermacher von Hegel
beftimmr, welche beiden Denker, ungeachtet ihres er-
kenntnifstheoretifchen Gegenfatzes und ihres verfchiede-
nen Verftändnifses der Gefchichte diefelbe romantifche
Weltanfchauung vertreten. Auch die, pietiftifchen Impul-
fen entfprungene Erneuerung der confeffionellen Orthodoxie
lehnt fich an Schleiermacher an; und zwar nicht
nur, fofern diefer die gefchichtliche Befonderheit aller
wirklichen Religion betont fondern auch hinfichtlich der
äfthetifchen Methode, welche die Erlanger Schule in
fchärffter Ausbildung ihren inhaltlich ganz anders be-
fchaffenen Syftemen zu Grunde gelegt hat. Ebenfo fteht
die vielgeftaltige Gruppe der Vermittlungstheologen unter
dem Einflufs Schleiermacher's, nicht alle in vermöge ihres
Intereffes für die Union, fondern auch bezüglich ihres
wiffenfehaftlichen Verfahrens, welches im allgemeinen darin
befteht, die biblifche und kirchliche Lehre zunächft als

Gegenftand fubjectiver Erfahrung zu betrachten, diefelbe
dann aber auf dem Wege der Speculation als begrifflich
nothwendig zu erweifen, und fo vor dem Forum der
Philofophie zu legitimiren. Diefe fpeculative Wendung
verknüpft diefe Männer mit Hegel oder Sendling. — Ritfehl
hat auch von Schleiermacher gelernt; auch ihm ift die
Religion ein Wefen für fich, auch er betont den pofiti-
ven und gemeinfchaftlichen Charakter jeder Religion
und die teleologifche Art des Chriftenthums. Daneben
fehlt es bei ihm nicht an Berührungspunkten mit Theologen
aus Schleiermacher's Nachfolge, wie Hofmann,
Rothe u. A. Aber er hat mit dem äftethifch-romantifchen
Religionsbegriff und der demfelben entfprechenden dogmatifchen
Methode durchaus gebrochen. Ihm ift es nicht
um die Ausdeutung eines mit feiner Kirche geeinten
frommen Selbftbewustfeins zu thun, fondern um das richtige
Verftändnifs der heilbringenden Offenbarung Gottes
in dem gefchichtlichen Chriftus. Dabei ift felbftverftänd-
lich die h. Schrift die alleinige Erkenntnifsquelle, aber
nicht vermöge irgendwelcher aufserordentlicher formeller
Qualitäten, fondern einfach als hiftorifche Urkunde. Auch
kann die Dogmengefchichte grofse Dienfte leiften, aber
nicht infolge einer ihre Entwickelung beherrfchenden
Logik oder Weisheit, fondern fofern fie die Bemühungen
Anderer um das Verftändnifs der Perfon Chrifti zur
Vergleichung und Kritik an die Hand giebt. Am höchften
unter den Theologen ftellt er Luther. Die Methode
Ritfchl's ift in theoretifcher und praktifcher Hinficht derjenigen
der Bewufstfeinstheologie vorzuziehen. Enthält
die letztere keinen Schutz gegen Selbfttäufchung und
Phantafiefpiel, da das chriftliche fromme Selbftbewufst-
fein keine hinreichend beftimmte und fcharf umgrenzte
Grofse ift, und keinen Mafsftab, welcher über ein blofs
relatives Recht der jeweiligen Stufe diefes Bewufstfeins
hinausführte, fo bietet dagegen die objective Methode
Ritfchl's eine fichere und abfolute Norm für den Inhalt
der chriftlichen Erkenntnifs und eine Grenze für ihren
Umfang dar. Und ihr praktifcher Vorzug liegt darin,
dafs fie nicht in die Qual und die fittliche Gefahr der
religiöfen Selbftanalyfe verfetzt, um fo energifcher aber
unter die objective Gotteswirkung in Chrifto, durch
welche der Menfch den Weg zum Glauben findet und
und die Kraft, den Glauben feilzuhalten.

Dies im Umrifs der Inhalt des vorliegenden — für
den Druck etwas erweiterten — Vortrages, welcher trotz
unvermeidlich .fkizzenhafter' Geftalt die Meifterfhaft des
Verf.'s in hiftorifcher Charakteriftik und feine energifche
Mitarbeit an den dogmatifchen Problemen verräth.
Niemand wird das Schriftchen ohne Belehrung und
manigfaltige Anregung lefen. Eine glückliche Geftaltung
fehliefst die Ermüdung aus, welche fonftbei der Schwierigkeit
des Stoffes zu beforgen wäre. Es wird eine gewilie
Kenntnifs des Gegenftandes vorausgefetzt; aber auch
der mit demfelben Vertraute hat an manchem Punkte
Anlafs zu bedauern, dafs der knappe Rahmen eine eingehendere
Darfteilung oder eine nähere Begründung des
Gefagten verbot. Der Ref. wird aus diefem Grunde auch
fein Urtheil auf den leitenden Gefichtspunkt zu befchrän-
ken haben, nämlich auf die Beftimmung des Verhältnifses
Ritfchl's zu der dogmatifchen Theologie unferes Jahrhunderts
. In diefer Hinficht will mir fcheinen, dafs der
Verf. in der That den treffendften und fruchtbarften Ausdruck
gefunden hat. Man kann ja an fich wohl mit demfelben
Rechte von Ritfehl fagen, dafs er zuerft den
reformatorifchen Gedanken des Glaubens in der Dogmatik
zu voller Wirkung gebracht hat, oder dafs er
zuerft die Löfung der Religionswiffenfchaft von der
Weltwiffenfchaft nicht nur verfucht, fondern auch that-
fächlich vollzogen hat, oder dafs er als der erfte
den Muth und die Kunft befeffen für ein wahrhaft
empirifches Begreifen des Chriftenthums; und eine
ausführlichere Behandlung des Gegenftandes würde zu
zeigen haben, wie diefe Errungenfchaften Ritfchl's