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Ausgabe:

1893 Nr. 26

Spalte:

645-647

Autor/Hrsg.:

Scheibe, Max

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der Werturteile für das religiöse Erkennen 1893

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 26.

646

Scheibe, Iiilfspred. Max, Die Bedeutung der Werturteile für
das religiöse Erkennen. Halle a/S., Niemeyer, 1893.
(89 S. gr. 8.) M. 2. —

Der Verfaffer, ein Schüler von Lipfius, bietet uns in
feiner Erftlingsfchrift eine fleifsige, umfichtige und unbefangene
Unterfuchung über die Bedeutung der Werth-
urtheile und über die Bildung einer einheitlichen Welt-
anfchauung dar. Er geht von dem Gebrauch aus, den
Ritfehl, Herrmann und Kaftan bei ihren Beftimmungen
über die Eigenthümlichkeit des religiöfen Erkennens von
der Werthbeurtheilung gemacht haben, und feine Ausführungen
verlaufen hauptfächlich in der Auseinander-
fetzung mit diefen Theologen. Von den Nachweifungen
des Verf.'s fcheint mir die wichtigfte und richtigfte die
zu fein, dafs nicht nur das wiffenfehaftliche, fondern auch
das religiöfe Erkennen die Ueberzeugung von der objec-
tiven Realität feines Inhalts nothwendig mit fich führt.
Daraus wird dann weiter gefolgert, dafs der Unterfchied
beider Erkenntnifsarten nicht in dem Gegenftande des
Erkennens, fondern darin liegt, dafs die Urtheile des
wiffenfehaftlichen Erkennens ohne Rückficht auf die per-
fönliche Stellung des Subjects zu den Objecten zu
Stande kommen, während die Urtheile des religiöfen Erkennens
auf Werthurtheilen beruhen. Demgemäfs ift
auch in beiden Fällen die Art der Gewifsheit verfchieden.

Im Gegenfatz zu Ritfehl legt der Verf. Gewicht darauf,
dafs das religiöfe Erkennen auf Werthurtheilen beruhe,
nicht aber in ihnen verlaufe. Der Grund dafür ift fein
Begriff von einem Werthurtheil. Ein folches ift nach
feiner Anficht z. B. der Satz ,Die Liebe Gottes ift religiös
werthvoll'. Dagegen fagt er, das Urtheil ,Gott ift die
Liebe' beruhe auf jenem Werthurtheil, und überhaupt
feien die Urtheile des religiöfen Erkennens ,Poftulate auf
Grund von Werthurtheilen' (S. 52). Aber Ritfehl, nach
deffen Anficht der Satz ,Gott ift die Liebe' ohne Weiteres
ein Werthurtheil fein würde, verbindet eben mit diefem
Ausdruck einen anderen Begriff. Dasjenige, was er
Werthurtheil nennt, hat er niemals, wie zwar nicht der
gut unterrichtete Verf., aber andere ihm imputiren, als
Gegenfatz zu dem fog. Seinsurtheil gedacht. Er unter-
fcheidet zwifchen religiöfem und theoretifchem Erkennen,
die beide zu ihrem Inhalt ein objectives Sein haben,
aber diefen der jedesmaligen Erkenntnifsart correlaten
Inhalt je in verfchiedener Weife erreichen. Wenn Ritfehl
der Ausdruck ,Seinsurtheil' überhaupt geläufig wäre, fo
würde ihm diefer vielmehr als der Gattungsbegriff gelten,
dem fich die Werthurtheile und die theoretifchen Urtheile
als Arten unterordneten. Aber handelt es fich in diefer
Frage, wie es jetzt fo fcheinen möchte, wirklich nur um
eine Differenz in der Terminologie?

Um dies zu entfeheiden, haben wir zunächft eine andere
Differenz zu betrachten. Der Verf. weifs, dafs Ritfehl,
Herrmann und Kaftan neben der Werthbeurtheilung
noch ein anderes Erkenntnifs- und Gewifsheitsprincip in
Anfpruch nehmen, die Offenbarung Gottes in Chriftus (S. 23,
Anm. 1). Er geht aber nicht auf diefe Betrachtung ein,
weil er die Frage nach dem religiöfen Erkennen nicht
allein für die chriftliche, fondern für alle Religionen ge-
ftellt wiffen will. Er vergegenwärtigt fich alfo in der
Weife von Lipfius die Religion nur als fubjective Er-
fcheinung, der er in den Gegenftänden der religiöfen
Erkenntnifs ein objectives Correlat entfprechen läfst.
Demgemäfs conftatirt er religiöfe Bedürfnifse und Erfahrungen
, die auf einen objectiven Grund im Wefen
Gottes zurückfchliefsen laffen (S. 69). Aber Bedürfnifse
und Erfahrungen, die einen Menfchen zur Religion ,treiben'
(S. 49), find doch nicht, mindeftens nicht in den gefchicht-
tichen Religionen, ein zureichender Grund dafür, dafs die
entfprechenden objectiven Vorltellungen von Gott gebildet
und als wirklich anerkannt werden. Dazu bedarf
es vielmehr andererfeits auch eines bekannten objectiven
Factors der Religion, oder einer inhaltlich beftimmten

Offenbarung Gottes, zu deren Aneignung jene Bedürfnifse
nur erft disponiren, deren Inhalt aber nicht von
den bedürftigen Menfchen producirt, fondern höchftens,
wenn er einmal angeeignet ift, reproducirt werden kann.
Allerdings find in den gefchichtlichen Religionen immer
Menfchen die Bringer der Offenbarung. Indeffen als
folche, die anderen dasjenige vermitteln, was diefe bedürfen
, aber aus fich felbft heraus noch nicht befitzen,
unterfcheiden fich die Religionsftifter von der grofsen
Maffe als die religiöfen Autoritäten oder als die Präger der
religiöfen Werthe, die die anderen fich im Gefühl aneignen
, und deren objective Realität in der fubjectiven
Erfahrung des Lebens die Probe befteht. Aus der Rückficht
auf diefen Zufammenhang ift es unumgänglich,
aufser der fubjectiven Religion der ohne eine Offenbarung
ftets bedürftig bleibenden Menfchen einen objectiven
Erkenntnifsgrund für die Vorftellungen von der Gottheit
zu fetzen. Einen folchen nimmt auch irgendwie jede
entwickelte Religion in der von ihr behaupteten Offenbarung
für fich in Anfpruch. Im Chriftenthum ift diefer
objective Factor die Perfon Chrifti. Und da es überhaupt
keine religiöfe Weltanfchauung im Allgemeinen,
fondern immer nur beftimmte religiöfe Weltanfchauungen
diefer oder jener pofitiven Religion giebt, fo können wir
Chriften von Chriftus gar nicht abfehen, wenn unfer reli-
giöfes Erkennen in theologifchen Vorftellungen von Gott
und von der Welt ausgeprägt werden foll. Oder wenn
wir davon abfehen, üben wir auch nicht mehr eine
religiöfe Erkenntnifs.

Da nun das religiöfe Erkennen, wie der Verf. richtig
bemerkt, nicht etwa blofse Gedanken und Ideen, fondern
Thatbeftände und Wirklichkeiten enthält, fo trifft es nach
feiner Anficht mit dem feiner Art nach verfchiedenen
theoretifchen Erkennen in demfelben Gebiete zufammen.
Das ift ,das Transfcendente der Sinneswahrnehmung und
des Selbftbewufstfeins', die Welt und ihr Grund Gott
(S. 58). Wegen der Identität diefes objectiven Gegen-
flandes aller Erkenntnifs verwirft der Verf. die Annahme
einer doppelten Wirklichkeit und Wahrheit. Daher fucht
er einerfeits die theoretifch-metaphyfifche Gotteserkennt-
nifs, andererfeits die religiöfe Welterkenntnifs als berechtigt
und nothwendig nachzuweifen. Jener bedarf er,
da er nicht ausfchliefslich die chriftliche Offenbarung als
Erkenntnifsgrund für Gottes Wefen verwerthet. In Betreff
der Welterkenntnifs zeigt er, dafs bei richtiger Abgrenzung
eine Collifion zwifchen Religion und Wiffenfchaft ausge-
fchloffen ift. Indem er aber beide Male die religiöfe und
die theoretifche Erkenntnifs fich gegenfeitig ergänzen
läfst, wird die Einheitlichkeit der erkannten Wahrheit in
der Weife vorgeftellt, dafs die religiöfe Erkenntnifs die
Lücken ausfüllen foll, welche die Wiffenfchaft nothwendig
offen läfst (S. 76. 86. 88). Alfo in der von ihm
entworfenen Weltanfchauung praevalirt die wiffenfehaftliche
Erkenntnifs.

Mit diefem Standpunkt ftimmt es nun zufammen,
dafs die religiöfen Urtheile als ,Poftulate auf Grund von
Werthurtheilen' definirt worden find (S. 52). Als Poftulate
fafst fie freilich das philofophifche Erkennen nach den
ihm eigenen theoretifchen Mafsftäben auf. Aber ein
Theologe, der fich diefe Betrachtung aneignet, abftrahirt
dabei abfichtlich von dem ihm fonft geläufigen religiöfen
Erkennen. Diefe Entfagung zu Gunften des theoretifchen
Erkennens ift aber auch um der Einheitlichkeit der Weltanfchauung
willen nicht unumgänglich. Man kann bei
der Bildung einer folchen auch umgekehrt verfahren und
dem auf das Ganze gerichteten religiöfen Erkennen die
Praevalenz vor dem auf das Einzelne gerichteten wiffenfehaftlichen
Erkennen zubilligen. Dann fufst man auf
dem durch Werthurtheile auf Grund der Offenbarung
erkannten objectiven Sein, deffen Thatfächlichkeit nicht
nur durch Poftulate erfchloffen, fondern, weil man überzeugter
Vertreter einer Religion ift, bereits vorausgefetzt
wird. Von diefem Standpunkt aus betrachtet man die