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Ausgabe:

1893 Nr. 24

Spalte:

602-604

Autor/Hrsg.:

Wirth, Karl Volkmar

Titel/Untertitel:

Der evangelische Liederschatz, seine Entstehung und seine Verwertung für unseren evangelischen Christenstand. 1. Tl 1893

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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6oi Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 24. 602

und ihm auch darin beipflichte, dafs die conceptfreie
Predigt keineswegs generell als eine höhere Leiftung
taxirt werden darf, fo möchte ich doch daran erinnern,
dafs auf diefem Gebiete der Individualität ein gröfseres
Recht zugeftanden werden mufs, als der Verfaffer anerkennen
möchte. Gewifs kann in vielen Fällen die Berufung
auf die Individualität nur Deckmantel der Trägheit
fein; aber dafs eine Theorie in praxi vielfach gemifs-
braucht wird, ift doch noch kein Gegenbeweis gegen
ihre Richtigkeit. Ich mache nur auf folgende 3 Punkte
anfmerkfam: 1) Während für fehr viele Naturen das
Niederfchreiben Hülfsmittel für die Meditation felber ift,
fetzen andere die Feder erft an, wenn ihre Meditation
abge fchlo ffen ift; erftere brauchen ein Concept, damit
die Predigt entftehe, die anderen nur um fie zu fixiren.
Es follte doch wohl nicht bezweifelt werden, dafs für
letztere Naturen das Concept eine viel untergeordnetere,
entbehrlichere Rolle fpielt, als für erftere. 2) Baffer-
mann's Satz, dafs es Naturen giebt, denen das Schreiben
den Flufs der Gedanken unterbricht, läfst fich doch
nicht als ein Erfahrungsfatz durch die gegentheilige
Behauptung, dafs dies keineswegs der Fall fei, aus der
Welt fchaffen. Hier fteht eben Erfahrung gegen Erfahrung
. 3) Die Art des Memorirens, das Verhältnifs der
gehaltenen Predigt zum Concept, wird fich nach der
Individualität aufserordentlich verfchieden geftalten.
Während die einen ihr Lebenlang an den Wortlaut ihres
Conceptes gebunden bleiben werden, wird für andere das
Memoriren im eigentlichen Sinne des Wortes mehr und
mehr zurücktreten hinter einer Reproduction, die bei
fachlicher Identität mit dem Concept formell demfelben
freier gegenüberfteht. Die Frage, welche von diefen Arten
vollkommener und höher fei, wird man ganz abweifen
müffen und nur fragen dürfen, welche der Individualität
angemeffen fei. Gerade neuefte Vorkommnifse weifen
übrigens darauf hin, dafs bei fortgefetzter Anfpannung
des Gedächtnifses zu wörtlichem Memoriren eine Er-
fchöpfung defselben eintreten kann, durch welche plötzlich
gefegnete Predigerthätigkeit einen jähen Abfchlufs
erfährt.

Kiel. G. Kawerau.

Kögel, Oberhofpred. Schlofspfr. D. Rud., Das Evangelium
Johannis, in Predigten und Homilien ausgelegt. 1. Hälfte.
[Die vier Evangelien, in Predigten u. Homilien ausgelegt
. Hrsg. v. R. Kögel. IV. Abth. 1. Hälfte.] Bremen,
C. Ed. Müller, 1892. (X, 402 S. gr. 8.) M. 7.50; geb-
M. 9.—

Die Auslegungdes Johannes-EvangeliumsinPredigten
und Homilien erfolgt in derfelben Weife wie die der
übrigen Evangelien in den andern Bänden diefes Werkes.
Die Texte find nach der Zeit des Kirchenjahres oder
nach Veranlaffung des Fefttages ausgewählt und homi-
tetifch bearbeitet. Was der einzelne Sonn- und Fefttag,
in diefem Bande z. B. vier Mal das Reformationsfeft, für
die Auslegung wie für die Anwendung des Textes darbietet
, das wird mit bekannter Meifterfchaft verwendet.
Ein folches Verfahren kommt freilich mehr der einzelnen
Predigt als dem ganzen Werk, das eine ,Auslegung der
Evangelien in Predigten und Homilien' bieten will, zugute.
Wenn es überhaupt fraglich ift, ob durch Predigten und
Homilien eine Auslegung biblifcher Bücher, die den
Namen verdient, geleiftet werden kann, fo find die Schwierigkeiten
für eine folche Auslegung beim vierten Evangelium
noch gröfser als bei den andern. Wenn einer,
fo ift K. diefen Schwierigkeiten gewachfen. Der vorliegende
Halbband bringt 44 Predigten, darunter einige
in der Form der Homilie, namentlich zwei Adventspredigten
über L 1 —10 und 11—18. K.'s Art macht auch
die Homilie eigenartig. Vor 70 Jahren hat Schleiermacher
feine Homilien über das Evangelium Johannis

in Berlin gehalten, in denen er dies Buch durchgehen'
und feinen Inhalt darlegen wollte. K. thut auch hier
hinzu aus dem Gefammtinhalt der chriftlichen, evangelichen
Lehre und weift über den nächften Inhalt und
Sinn des Wortes hinaus, geiftreich, zuweilen nur andeutend
, immer anregend. Seine homiletifcheStärke aber
liegt in den Predigten über folche Texte, die eine Hauptwahrheit
enthalten, und auch für längere Abfchnitte
findet er mit ficherem Blick den beherrfchenden Gefichts-
punkt, den er dann glänzend und fchlagend, aber auch
lichtvoll und erbaulich nach verfchiedenen Seiten darlegt.
Auch grofse, umfaffende Gedanken werden der Theil-
nahme und dem Verftändnifs der Gemeinde mit ficherer
Hand nahegebracht, in weifer Befchränkung auf das,
was der Text an die Hand giebt, und mit glücklicher
Beziehung auf das, was im gegenwärtigen Leben der
Gemeinde zur Anwendung herausfordert. Kein Hörer
wird jemals die Empfindung haben, eine lehrhafte Aus-
einanderfetzung zu empfangen, die er kaum verliehen
kann oder mühfam behalten mufs, fondern angeregt, ergriffen
bleibt er die ganze Predigt hindurch und fühlt
immer mehr, dafs ihm ein Zeugnifs evangelifcher Wahrheit
entgegentritt, das begründeten Anfpruch auf feine
Zuftimmung und auf feinen Gehorfam erhebt.

Halle a/S. A. Wächtler.

Wirth, Pfr. Karl Volkmar, Der evangelische Liederschatz,

feine Entftehung und feine Verwertung für unferen
evangelifchen Chriftenftand. 1. TL Nürnberg, Korn
1893. (III, 271 S. gr. 8.) M. 3. -

Der erfte Theil eines hymnologifchen Werkes liegt
hier vor, auf den empfehlend aufinerkfam zu machen mir
eine Freude ift. Ohne Zweifel ift es die Frucht eines
langjährigen und unabläffigen Fleifses; eine reine Begei-
fterung für die Sache und tief religiöfes Verftändnifs
fpricht aus jeder Zeile, und namentlich im praktifchen
Kirchenamt flehenden Theologen wird das Studium des
Buches eine Erquickung und Erhebung fein. Allerdings
wird der Gebrauchswerth fich auf Theologen befchränken;
die gebildeten Gemeindeglieder, für die nach Titel und
Vorwort (auch S. 102) das Buch gefchrieben zu fein
fcheint, werden fich vermuthlich d urch die Mittheilunt?"
griechifcher und lateinifcher Hymnen ohne Ueberfetzung,
durch althochdeutfche und mittelhochdeutfche Stücke
ohne Commentar als abgewiefen anfehen. — Der vorliegende
Band gliedert fich in fechs Theile: 1) Heilige
Gefänge (es find damit die in der heil. Schrift enthaltenen
Poefien gemeint) S. 3—9; 2) Kirchliche Lieder (Abrifs
der Gefchichte des Kirchenliedes bis zur Reformation)
S. I3~ S3; 3) Das evangelifche Kirchenlied (Abrifs der
Gefchichte desfelben) S. 57—79; 4) Das evangelifche
Gefangbuch S. 83—98; -5) Die Liedererklärung; 6) Einzelne
Liederdichter und Erklärung einiger Lieder S.
125—271. Das Werk ift offenbar auf mehrere Bände
berechnet, denn im fechften Abfchnitt werden nur Luther
und drei feiner Lieder befprochen (Aus tiefer Noth, Ein'
fefte Burg, Wir glauben all an Einen Gott). Auf diefen
fechften Abfchnitt, der fich auch auf die folgenden Bände
erftrecken wird, kommt es dem Herrn Verfaffer befonders
an; würde es da nicht richtig gewefen fein, die fünf erften
Abfchnitte als Einleitung dem ganzen Werk voranzu-
ftellen? Die Abficht, die Lefer zum Verftändnifs der
hauptfächlichen evangelifchen Kirchenlieder in den Stand
zu fetzen, würde dann auch kräftiger als Beftimmungsgrund
für die Auswahl und die Geftaltung des in den fünf
erften Abfchnitten Dargebotenen fich geltend gemacht
haben.

In dem erften Abfchnitt werden biblifche hymnolo-
gifche Angaben zufammengeftellt und theilweife erläutert.
Für den zweiten Abfchnitt Rheinen dem Herrn Verfaffer
hinfichtlich des mufikalifchen Theiles das ältere, eine