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Ausgabe:

1893

Spalte:

547-550

Autor/Hrsg.:

Krause, Karl Chrn. Friedr.

Titel/Untertitel:

Zur Religionsphliosophie und speculativen Theologie 1893

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologiiche Literaturzeitung. 1893. Nr. 22.

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der Text gekürzt und dafs der Calcül der Endzeit nicht
richtig überliefert fei. Pofitive Beweife für feine Annahme
hat er, foviel ich fehe, nicht erbracht. Denn die
angebliche Benutzung der assumptio bei Cedrenus beruht
auch nur auf einer keineswegs ficheren Combination,
und dazu fleht das, was Cedrenus fagt, fo nicht in dem
lateinifchen Fragment. Auf die von J. erörterte Differenz
in der Berechnung der Jahrzahlen will ich kein Gewicht
legen, da in dem Fragmente eine Zahl falfch überliefert
fein kann. Aber dazu kommt noch eine Schwierigkeit,
die J. nicht berührt: der Inhalt der oratio. Mofes giebt
in der assumptio genaue Zahlen an; feine Bitte vor
feinem Tode, dafs ihm die Zahl der verfloffenen Jahre
genannt werden möge, ifl demnach gegenftandslos. Auch
die Verwandtfchaft mit den drei folgenden Stücken —
die gänzlich haltlofe Vermuthung, dafs fie aus dem Buche
Eldad und Modad (lammen, hat J. zum Glück felbft
wieder aufgegeben —, der visio Zenez, dem threnus Seilae
und dem citharismus regis David fpricht gegen die Herleitung
des erflen aus der assumptio Mosis. Denn dafs
diefes von den übrigen Stücken in der Hf. durch einen
kleinen Zwifchenraum getrennt ift, giebt keinen Grund
zur Annahme, der Schreiber habe damit die Herkunft
aus einer anderen Quelle verrathen wollen. Vielmehr gehören
m. E. die vier Stücke zu einander und find dem-
felben Literaturzweig zuzurechnen, dem die verfchiedenen
Apokryphen nQQOevxrj IdCaoiov etc. entflammen. In der
Annahme eines griechifchen Originales hat J. — 1, 2 und
4 hat er in's Griechifche zurücküberfetzt — ohne Zweifel
recht. —

Die Zeit, wo man an diefer apokryphen Literatur
mit einem Lächeln vorüberging, ifl hoffentlich vorüber;
das Intereffe für fie ift ja allenthalben im Wachfen. So
wird denn auch diefe Sammlung, mit der fich ihr Herausgeber
ein grofses Verdienft erworben hat, wohl den
Anftofs zu einer weiteren Befchäftigung mit diefen und
verwandten Schriften geben, und — hoffen wir es —
weitere Publicationen folcher Texte nach fich ziehen.
Dabei wird freilich viel Sand gefahren werden müffen.
Aber dazwifchen lohnt auch manches Goldkorn reichlich
die aufgewandte Mühe.

Giefsen. Erwin Preufchen.

Krause, Karl Chrn. Friedr., Zur Religionsphilosophie und
speculativen Theologie. Aus dem handfchriftlichen Nachlasse
des Verfaffers hrsg. von DD. Paul Hohlfeld u.
Aug. Wünfche. Leipzig 1893. Berlin, E. Felben (XII,
173 S. gr. 8.) M. 3.50.

Aus dem Nachlafs des Philofophen Kraufe (f 1832)
ifl fchon im J. 1834—43 einereligionsphilofophifche Schrift,
betitelt ,die abfolute Religionsphilofophie im Verhältnifs
zum gefühlglaubigen Theismus und nach ihrer Vermittlung
des Supernaturalismus und des Rationalismus', herausgegeben
worden; riiefelbe enthält aber keine fyftematifche
Darfteilung, fondern eine kritifche Auseinanderfetzung
mit Jacobi, Bouterwek und Schleiermacher. Auch die
jetzt erfchienene Schrift giebt kein vollftändiges religions-
philofophifches Syftem, fondern Gedanken und Entwürfe
zu einem folchen.

Im Jahrgang 1890, Col. 519fr. habe ich eine kritifche
Analyfe der Kraufe'fchen Philofophie zu geben verfucht;
als ein Element derfelben hatte ich dort die eigenartige
teleologifche VVeltbetrachtung hervorzuheben, die, fo fehr
fie fich mit der chriftlichen Weltanfchauung berührt, doch
in der Art ihrer Begründung und in ihrem Inhalt von
diefer verfchieden ift. Wie fich diefe Verfchiedenheit im
fubjectiven religiöfen Leben offenbart, tritt in der
vorliegenden Schrift zu Tage.

Zwar find nach Kraufe ,die drei Hauptinthätigkeiten
der Gottinnigkeit', das Anfchauen, Fühlen und Wollen,
,auf einmal zugleich da und wachfen zufammen verhältnifs-

mäfsig' (117); zur Religion gehört ein auf Wefen (=Gott)
gerichtetes ,Schaufühlwollen' des Menfchen. Aber die
wiffenfchaftliche Erkenntnifs Gottes und des Gliedbaues
der Welt ift ihm doch die grundlegende Function: ,Ohne
reine Vernunfterkenntnifs kein echtes Gottgefühl! fowie
überhaupt: ohne Wiffenfchaftfchauen kein echtes reines
Vollgefühl!'(30). ,Die erften Gottahnbegriffe find Ergeb-
nifse wiffenfchaftlicher Forfchungen' (70); auch der chrift-
liche Gottesbegriff ift feinem Urfprung nach aus wiffen-
fchaftlichen Erkenntnifsquellen herzuleiten. Der Grundfehler
der chriftkirchlichen Lehre ift es, dafs fie dies verkennt
. Derfelbe ifl ,vollkommen krafs ausgefprochen' in
dem Satze, Chriftum lieb haben fei beffer als alles Wiffen.
I Die Höherbildung des Chriftenthums mufs fich daher durch
den Fortfehritt von der 71 lang zur yvtiüoig, zum Wefen-
gliedbaufchauen vollziehen.

Ein auf diefer Grundlage fich entwickelndes religiöfes
Leben mufs vor allem darin von der Bahn des Chriftenthums
ablenken, dafs es fich nicht an eine gefchichtliche
Perfon als an die mafsgebende Offenbarung Gottes hält.
Aus dergefchichtlichen Erfcheinung des Chriftenthums foll
das reine Urbild desfelben herausgefchält werden. Diefes
ift frei von ,aller gefchichtlichen Beziehung, fowohl überhaupt
, als auf Jefu Leben, Thun und Leiden insbefondere'.
Diefe Beziehung hat höchftens mäeutifchen Werth; ,sie ift
nur in der Hebammenkunft, um die Menfchen zum reinen
Schauen der Idee zu leiten, nicht an fich das Erlte' (17).
Dagegen mufs gebrochen werden mit dem Glauben, dafs
Gottes Offenbarung nur durch Einen Menfchen an die
Menfchheit gefchehe, überhaupt mit dem Mittlerglauben.
,Nachdem Jefus gelebt hatte, mufsten Blutzeugen fterben,
weil fie den Zeus, Herakles, Auguftus und andern Menfch en-
Fetiffos nicht opfern wollten; jetzt werden Blutzeugen
nöthig werden, die fich wider die Fetiffo-Verehrung Jefu
gottinnig fetzen müffen, weil fie ferner daran nicht theil-
nehmen können. Denn, der fie entgötzen wollte, den haben
fie felbft zu ihrem Götzen gemacht' (71). Schon lnftorifch
meint Kraufe diefe Ueberfchätzug Jefu widerlegen zu
können; denn er lebt in den freimaurerifchen Gedanken,
dafs Jefus das Wefentliche feiner Lehre aus einer .uraltzeitigen
Wiflenfchaftserfahrung' durch Vermittlung der
Effener gefchöpft habe. Aber vor allem fetzt er dagegen
feinen Begriff der göttlichen Offenbarung: Jeder reinherzige
Menfch lebt in fteter Offenbarung Gottes' (63).
,Alles, was feinen Geift und fein Gemüth bewegt, ift die
Sprache Gottes mit der Seele, eine Regung der göttlichen
Liebe' (8). Aus dem Wefen Gottes felbft ergiebt fich als
urwefentlich ,eine ftete Offenbarung Gottes an das Schauen
feiner Menfchheit' (74), fowohl eine unmittelbare im Geifte
des Einzelnen felbft, als eine mittelbare, durch den ganzen
Gliedbau der Wefen, auch durch die Geifter, mit denen
wir in der Menfchheit zufammenleben, und deren gute
Reden (80). — Aber nicht nur in dem Glauben an den Einen
Gottmenfchen liegt die Unvollkommenheit des Chriftenthums
, fondern auch die aus jenem Glauben abgeleiteten
Religionsbegriffe find in Fehlgedanken befangen: die Vor-
ftellungen von Gottes Zorn, Strafe, Erlöfung von Gottes
Strafen, Verföhnung, Vergebung der Sünden, Himmel und
Hölle verunreinigen die chriftliche Religions- und Sittenlehre
; zudem ift fie in wefentlichen Punkten mangelhaft:
es fehlt die Idee der Menfchheit und der reinen, harmo-
nifchen Menfchlichkeit, der Wiffenfchaft, der Kunft, der
Freundfchaft u. f. w. (74.76). So genügt unferem Zeitalter
das Chriftenthum nicht mehr, weder in feiner urfprüng-
lichen Form noch in feinen fpäteren Ausgeftaltungen.
Die Gottinnigkeit des dritten harmonifchen Zeitalters
wird alle Formen des Chriftentums, aber auch alle anderen
Gottahntümer in einer höheren Geftalt, in der wahren
gottfehauenden Religionswiffenfchaft und der einen
wahren Religionsgemeinfchaft aufgehen laffen (20. 76).

Die höchfte Vollendung der Gottinnigkeit
fchildert Kraufe mit begeifterten Worten. Sie ift da erreicht
, wo der Menfch fein perfönlich-individuelles Leben