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Ausgabe:

1893 Nr. 21

Spalte:

525-527

Autor/Hrsg.:

Vorbrodt, Gustav

Titel/Untertitel:

Psychologie in Theologie und Kirche? 1893

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 21.

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,Spleen'. — Auf vertrauterem Hoden bewegt fich der
Verf. in Frankreich. Allein wenn man das Verhaltnifs
zw ifchen Religion und Revolution darzuftellen unternimmt,
fo genügen für die Schilderung des franzöfifchen Katholizismus
nicht einige allgemeine Bemerkungen über Aberglauben
und Ceremoniendienfi Es gehörte zur Aufgabe
des Verfaffers, ganz fpeciell nachzuweifen, in welchem
Umfang die Kirche d. i. die officielle Religion fchon
zum Voraus an der Auflöfung aller Bande von Autorität
und Pietät mitgearbeitet hatte. Es genügte ferner
nicht, die .Erklärung der Menfchenrechte' einfach auf die
Einflüffe des ,neu-englifchen Puritanismus' zurückzuführen.
St dito dicunt idem, non est idcm. Wo waren denn die
Männer, denen der Verf. zumuthet, ,das gewaltfam abgebrochene
Werk der franzöfifchen Reformation wieder
aufzunehmen'? Oder wer follte denn ,aus den Aeufser-
lichkeiten der frommen Sitte in das Herzensheiligthum
einer innerlichen Geiftesreligion führen'? Das find ab-
ftracte Möglichkeiten. Es wird aber vielmehr auch von
,der Religion' auf diefem unterwühlten Boden gelten,
was Döllinger im Allgemeinen über die franzöfifche Revolution
bemerkt: ,Gerade in der Erkenntnifs, dafs eine
Reform unmöglich, ein Umfturz, fobald nur der erfte
Anftofs erfolgte, unvermeidlich war, liegt, wie mir fcheint,
ein Hauptfortfehritt des hiftorifchen Verftändnifses, zu
welchem unfere Zeit gelangt ift' (Akadem. Vorträge
3, 310).

Rumpenheim. S. Eck.

Vorbrodt, G., Psychologie in Theologie und Kirche? Deffau,
Kahle's Verl., 1893. (40 S. gr. 8.) M. 1.—

Auf 2'/2 Druckbogen wird uns das umfaffende Programm
einer erneuerten Theologie dargeboten^ Bald
einige grelle Streiflichter, welche den bisherigen Zuftand
der Theologie und Kirche beleuchten, bald etliche rafch
fich ablöfende Lichtblitze, welche die fchwierigften dogma-
tifchen Probleme erhellen, dann wieder in fcharfen Um-
riifen eine fchematifche Skizze, welche einem ganzen
Gebiete der Theologie neue Aufgaben und eine neue
Eintheilung vorzeichnet! — Das Vorwort wirft einen Blick
auf die neueften Kämpfe zwifchen .Kirche' und theolo-
gifcher Wiffenfchaft und geht mit der unpfychologifchen
Methode in's Gericht, die von den Lehrern der Theologie,
aber auch der anderen Pacultätcn in den Univerfitätsvor-
lefungen gepflegt werde und die nach pädagogifch-pfycho-
logifchen Grundfätzen geändert werden müffe. Der
Vortrag felbft ftellt zuerft feft, dafs ein Anfang zum pfy-
chologifchen Aufbau der Theologie gemacht fei, aber
ein noch ungenügender, und dafs die mangelhafte Ver-
werthung der Pfychologie hauptfächlich an dem Noth-
ftand der Theologie fchuld fei. Dann wird in einem
Capitel über ,die Bedeutung der Pfychologie für die
Theologie* gezeigt, wie die Pfychologie in der Theologie
der Vergangenheit nie gefehlt habe, aber auch durch
Schleiermacher und Ritfehl noch nicht zur vollen Geltung
gekommen fei, wie fie in der Gegenwart fich der Theologie
mächtiger aufdränge und felbft auch fich zu erneuern
anfange, endlich wie die Theologie der Zukunft
in allen ihren Disciplinen mit Hülfe der Pfychologie neu
zu geflalten fei. Nur kurz fpricht ein zweites Capitel
von der .Bedeutung der Pfychologie für die Kirche': fie
lehrt die kirchlichen Parteien in ihrem relativen Recht
verftehen, fie giebt für die Frage der Bekenntnifsver-
pflichtung die richtige Löfung an die Hand, fie verhilft,
wie eine Fufsnote andeutet, durch ihre Unterfcheidung
von Seins- und Werturtheilen uns auch dazu, den Pietismus
, die Frage der Civil- und kirchlichen Trauung, den
Werth der Confirmation, ferner die Auswüchfe der katho-
lifchen Frömmigkeit richtig zu beurtheilen.

Der Verf. ift fich bewufst, ein Princip von ,rcforma-
torifcher Bedeutung' zu vertreten; er ift überzeugt, dafs
allein der pfychologifche Standpunkt ,den Blick auf die

Wahrheit einmal erfchliefsen wird'; er erwartet deshalb
auch ,das vorläufige Widerftreben, dem die Neuheit und
Wucht moderner Gedanken ftets ausgefetzt ift': ,es wird
von Verflüchtigung, Spiritualismus, Querköpfigkeit, Unglauben
gefchrieben, vielleicht auch gefchrieen oder alles
todt gefchwiegen werden'. Ich fehe mich weder zu dem
einen noch zu dem anderen Gerichte veranlafst. Denn das
Verlangen ,mehr Pfychologie in der Theologie!' hat in
der That ein Recht, befonders wenn man, wie der Verf.
beliebt, zur Pfychologie auch die Erkenntnifstheorie rechnet
. Wird mit jenem Lofungsworte gefordert, dafs die
Theologie nicht ,in metaphyfifchen, logifchen, begriff-
j liehen Speculationen fchwelge,' fondern dafs fie mit fchar-
' fen pfychologifchen Begriffen und Analyfen in das reli-
giöfe Glauben und Leben nach allen feinen Bethätigungen
einzudringen fuche und auch die gefammte geiftige Wirklichkeit
, die fich uns im chriftlichen Glauben erfchliefst,
in ihren werthvollen Wirkungen für unfer geiftiges Leben
: darlege, fo kann man nur lebhaft zuftimmen. Aber in
diefe Richtung hat uns die Arbeit Schleiermacher's und
1 in neuerer Zeit die Ritfchl's fchon zu entfehieden hinein-
I geleitet, als dafs uns das Wort ,In allewege mehr Pfycho-
| logie', in diefem Sinne verftanden, durch epochemachende
I Neuheit vor den Kopf ftofsen dürfte. Es prägt uns nur
' auf's Neue mit dankenswerthem Nachdruck die Aufgabe
ein, jene mühfame, von vielen Seiten mifstrauifch ange-
fehene Arbeit unermüdlich fortzufetzen.

Aber wenn der Verf. uns verfichert, dafs wir nur
mit Hülfe der Pfychologie in Theologie und Kirche aus
dem jetzigen ,Zuftande der Mauferung' herauskommen
werden, fo meint er offenbar nicht blofs, dafs wir jene
Arbeitsmethode auch künftig, nur noch confequenter
befolgen müffen. Er erhebt den Vorwurf gegen den
Betrieb der theologifchen Wiffenfchaft, dafs diefe fich
! mit den elementarften pfychologifchen Kenntnifsen begnüge
, dagegen mit der modernen Pfychologie nicht genug
Fühlung habe. Und doch könnte fie von diefer
j einen ähnlichen wiffenfehaftlichen Gewinn haben, wie die
Pädagogik, die durch die Pfychologie zur Wiffenfchaft
geworden ift. Vor übertriebenen Hoffnungen in diefem
' Stück möchte ich warnen. Der Verf. felbft gefleht zu,
| dafs die Pfychologie durchaus im Werden ift, ja dafs in
den wichtigften Fragen, in der Ivrforfchung der ,zufam-
menhängenden Bewufstfeinscomplexe', welche ,das Ge-
müth, das Ich, die Perfönlichkeit' conftituiren, erft Anfänge
gemacht worden find. Von der Art, wie die pfy-
| chologifche Wiffenfchaft diefe Fragen jetzt in Angriff
nimmt, können wir ficherlich lernen; darum bin ich ge-
wifs der letzte, der das Studium der Pfychologie den
Theologen, befonders auch den Studenten, zu empfehlen
fich weigerte. Aber wir können bis jetzt, oder vielmehr
, da wir es in der Theologie mit einem ganz be-
; flammten, gefchichtlich bedingten Inhalt unferes geiftigen
! Lebens zu thun haben, wir können überhaupt nur in
j begrenztem Mafse direct verwerthbare Refultate von dort-
j her holen; wir müffen das menfehliche Geiftesleben fo,
! wie es unter dem Einflufs des Chriftenthums fich gcflaltet,
; in felbftändigen religionspfychologifchen und -kntifchen
I Unterfuchungen erforfchen und zum grofsen Theil eigenartige
Begriffe dafür prägen. Ich kann auch nicht finden,
dafs der Verf. in feinen Proben, die er von der pfychologifchen
Behandlung der Theologie, befonders der Dog-
matik giebt, mit wefentlich neuem pfychologifchem Material
arbeitete: der Gedanke von Beziehungsgefetzen der
verfchiedenen pfychifchen Functionen und von Bewufst-
feinseinheiten, die Unterfcheidung von niederem und
höherem Ich, von Spontaneität und Receptivität, fogar
I von drei Seelenvermögen, obwohl diefelben .nächftens
von der Pfychologie umgeftofsen werden', vor allem
i aber von Seinsurtheilen und Wcrthurtheilen, das find im
; wefentlichen die allgemein pfychologifchen Begriffe, die
der Verf. handhabt. Diefelben reichen da, wo einzelne
Stücke chriftlichen Glaubens, z. B. der Offenbarungs- und