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Ausgabe:

1893 Nr. 17

Spalte:

427-428

Autor/Hrsg.:

Gottschick, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der historisch-kritischen Schriftforschung für die evangelische Kirche 1893

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 17.

428

bildeten rindet er ihn nicht; ihr ganzes Treiben ift Spielerei.
Den vollen Ernft dagegen nimmt der religiöfe Glaube
der Maffen in Anfpruch, wie ungeheuerlich er auch der
Vernunft des Gebildeten zunächft erfcheint. So kommt über
ihn das Suchen nach Gott; aber nicht mehr, wie in der
Jugend, durch theoretifche Ueberlegung; er fucht erft den
Sinn des Lebens zu erfüllen, ehe er ihn begreifen könne.
Gott ift durch das Leben bezeugt, Er, ohne den
man nicht leben kann: in diefer perfönlichen Gewifsheit
zeigte fich ihm, dem 50jährigen, in furchtbarer innerer Revolution
nach einem ziellofen Treiben im Strome das rettende
Ufer. — S. 26—46 zeigt uns Gl., mehr fyftematifch,
Tolftoj's Stellung zur Literatur, zur Kirche, zum focialen
Leben, zur Wiffenfchaft, zur Kunft, die fchliefslich gewonnene
Weltanfchauung und fpricht kurz von Tolftoj's
täglichem Leben und feinen Anhängern. — Die letzten
5 Seiten endlich geben, eng zufammengedrängt, Glogau's
Kritik. Bei aller Verehrung für Tolftoj's ,grofsartige
Grundrichtung' macht er ihm tiefgehende Einwürfe.
Davon erfcheinen mir als die wichtigften: 1) Tolftoj habe
die Unmöglichkeiteinesplötz lic he nUmfchlags der ganzen
Lebensführung nicht genug gewürdigt. Die Vermittelung
der vielverfchlungenen focialen Wirklichkeit, von der
kein Eaden fich wirklich vernichten laffe, mit der Weihe
eines echt religiöfen Lebens habe er keineswegs auf-
gewiefen. 2) Es fei mangelnde Liebe, in den höheren
Culturbeftrebungen, bef. des ,faulen Weftens', in den
Triebkräften der Gefchichte, der Technik, der exacten
Forfchung, der Kunft gar nichts Berechtigtes zu fehen.
3) Nicht Inftitutionen, alfo wie das Geld, die Verfchieden-
heit der Stände, bildeten den Krebsfehaden, fondern die
Gefinnung, in welcher diefe heute benutzt würden. Die
Aufgabe eines wahrhaften Reformators wäre es, allein
die religiöfe Gefinnung durch die ftarken Töne me-
taphyfifcher Ueberzeugungen gründlich zu wecken.

Es äufsert fich jetzt vielfach die Sehnfucht nach
,mehr Pfychologie für die Theologie'. Diefem Bedürfnifs
kommt Glogau in höchft gediegener Weife entgegen.

Derwitz bei Gr. Kreuz. Joh. La Roche.

1. Gottschick, Prof. D. Johs., Die Bedeutung der historischkritischen
Schriftforschung für die evangelische Kirche.

Akademifche Antrittsrede. Freiburg i/B., J. C. B. Mohr,
1893. (32 S. gr. 8.) M. —. 80.

2. Wendt, Prof. Dr. Hans Hinnen, Die Norm des echten
Christentums. (Hefte zur Chriftlichen Welt, Heft 5.)
Leipzig, Grunow, 1893. (51 S. gr. 8.) M. —. 50.

3. Roberty, Past, J. Em. Quelques reflexions sur l'autorite
du Christ. Paris, 1893. (57 p. gr. 18.) M. —-. 40.

Die drei genannten Schriften, welche sämmtlich in
die gegenwärtig fo lebhaft umftrittenen Prinzipienfragen
der evangelifchen Theologie eingreifen, berühren fich in
manchen Punkten und find dazu angethan, aufklärend,
befreiend und erbauend auf die dem Zeugnifs der Gefchichte
und der Macht der inneren Glaubensüberzeugung
zugänglichen Geifter einzuwirken.

1) DasallgemeinfteProblem behandelt Gottschick,
deffen Worte namentlich jüngeren, am Eingang ihrer
wiffenfehaftlichen Laufbahn flehenden, durch kritifche
Sorgen in ihrem traditionellen Erkenntnifsftand erfchüt-
terten oder angefochtenen Theologen werthvolle Dienfte
leiden werden. Zunächd zeigt der Verf., wie das innerde
Intereffe des evangelifchen Chriden an feibdändiger und un-
erfchütterlicherGlaubensgewifsheit zu demfelbenErgebnifs
führt, zu welchem die wiffenfehaftliche Schriftforfchung
Schritt für Schritt unter dem Zwang der thatfächlichen
Befchaffenheit der Schrift und des wiffenfehaftlichen Gewiffens
geführt worden id. Diefes Ergebnifs findet feine
nähere Erläuterung und Begründung in dem Nachweis
der inneren Berechtigung der hidorifch-kritifchen Schriftforfchung
innerhalb der evangelifchen Kirche: diefe For-

j fchung erweid fich in ihrer Legitimität dadurch, dafs gerade
ihre Arbeit dazu hilft, die Kirche auf der pofitiven religiöfen
Grundlage der Reformation zu erbauen. Sowohl
indem fie die gefetzliche Autorität der Schrift zerdört, als
indem fie die in der Schrift fich fpiegelnde gefchichtliche
Entwickelung dem Verdändnifs erfchliefst, fchafft fie die
Bedingungen unter denen die Schrift erft wahrhaft für
den Zweck verwerthet werden kann, dem fie dienen foll,
für den Zweck, die Autorität des Evangeliums zu immer
vollerer und reinerer Geltung zu bringen und fo einen
Glauben zu begründen, welcher feiner Sache wahrhaft

I gewifs id und von innen heraus Denken und Wollen des
ganzen Menfchen wirklich umzugedalten vermag.

2) ,Durch den Grundfatz von der alleinigen normativen
Bedeutung der religiondiftenden Lehre Jefu wird
das reformatorifche Schriftprincip nicht befeitigt, fondern
wird ihm nur diejenige Erklärung und Präzifirung gegeben,
deren es fich bedürftig erwiefen hat... Als rechtes Glied
der chridlichen Kirche im allgemeinen und der evangelifchen
Kirche insbefondere ift jeder anzuerkennen, der
fich zu dem von Jefus Chridus felbd offenbarten Evangelium
bekennt'. In diefen Ausfagen treten einige der
zwifchen Gottfchick's Vortrag und Wendt's Ausführungen
wahrnehmbaren Verbindungslinien deutlich
hervor. Beide Verf., obgleich durchaus unabhängig von
einander, bewegen fich in Bahnen, welche, in gleicher
Richtung orientirt, diefelben Intereffen verfolgen. Nur
liegt der Schwerpunkt der Wendt'fchen Erörterungen

I mehr auf dem hidorifchen Gebiete, wenn auch die reli-
i giöfe Bedeutung der heiligen Schrift an verfchiedenen
i Stellen durch die von W. gegebene Formulirung des
Problems eine dankenswerthe Beleuchtung erfährt. Als
mafsgebende Norm für die chridliche Religion kann
nach dem Verf. nicht die h. Schrift gelten ; in ebenfo
mafsvollen als klaren und fchlagenden Ausführungen
weid er die Schwierigkeiten des evangelifchen Schriftprinzips
nach (S. 9f.); nicht die heilige Schrift, fondern
die religiondiftende Lehre Jefu id die Norm des echten
Chridenthums. Die Aufhellung diefer Norm beruht nicht
auf Willkür, fie dellt vielmehr nur die praktifche Con-
fequenz der im Chridenthum immergültig gewefenen Aner-
I kennung der abfoluten OffenbarungsbedeutungJefu Chridi
dar. Den nächdliegenden Einwand, den man gegen
1 diefen Löfungsverfuch erheben wird, entkräftet W. zum
Voraus durch die Bemerkung, dafs die religiondiftende
Lehre Jefu uns als ein einheitliches Ganzes in allen we-
fentlichen Zügen fo gut gefchichtlich überliefert id, dafs
das fkeptifche Urtheil, fie biete keine genügend fede
Norm dar, nicht wiffenfehaftlich berechtigt id.

3) Das in der Societe de theologie de Paris am 16.
April 1892 von Pfr. Roberty vorgetragene Referat über
die Autorität Chridi lehnt fich im Wefentlichen an L.
Monod's Schrift, Le probleme de l'ahtorite (Vgl. Theol.
Lztg. 1892, Nr. 8) an. Die Betonung der in feinem
Selbdzeugnifs und feinem Lebenswerk wirkfamen und
offenbaren gefchichtlichen Perfon Chridi erinnert an die
Pofition Ritfchl's und Herrmann's; indem aber R. das
Recht der Mydik und das Wahrheitsmoment der alt-
protedantifchen Lehre vom testimonium Spiritus saneti
internum zu vertreten fucht, podulirt er neben der gefchichtlichen
Thatfache 'eine innere Offenbarung, eine
Berührung der Seele mit dem absolu mysterieux, Ausfagen
, welche an manche, dem Verf. felbd kaum gegenwärtige
oder bekannte Aeufserungen von Lipfius anklingen.

Strafsburg i. E. P. Lobdein.

Smyth, Newman, D. D., Christian ethics. [International
theological library, edited by Stewart D. F. Salmond,
1). D., and Charles A. Briggs, D. D. II.] Edinburgh,
T. & T. Clark, 1892. (X, 498 S. gr. 8.) geb. 10s. 6d.

Das vorliegende Werk bildet den 2. Band der International
Theological Library, die mit Driver's Introduction