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Ausgabe:

1893

Spalte:

408-410

Autor/Hrsg.:

Skopnik, A.

Titel/Untertitel:

Politik und Christentum 1893

Rezensent:

Köhler, Karl

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Glauben und Gottesdienft. Es ift richtig; aber wenn nun
der durch und durch dynamifche, lebendige Glaubensbegriff
der Reformation von der Art wäre, dafs der heilbringende
Glaube überall nur als die ureigene, freie That
des Glaubenden denkbar wäre, mit Ausfchlufs jeder Art
von Zwang oder Nöthigung? und wenn alfo jene kühnen
Aeufserungen in der Schrift von weltlicher Obrigkeit,
die gegen jede Einmifchung obrigkeitlichen Zwanges in
Glaubensfachen proteftiren, doch mehr wären als der
Ausdruck augenblicklichen Unwillens über die Gewalt-
thaten katholifcher Herrfchaften gegen das Evangelium,
fondern die eigenften Gedanken des Proteftantismus darin
hervorleuchteten? Ift die Forderung der Gewiffensfreiheit
(im heutigen Sinn) die Frucht naturrechtlichen Abfalls
von dem Wefen der Reformation und nicht vielmehr der
Reformation felbft? Auch den Wiedertäufern gegenüber
hat Luther einmal (1524) gefordert, dafs man fie frei
predigen und die Geifter aufeinander platzen laffen folle,
fo lange üe nicht mit der Fauft drein fchlagen würden.

Der verbreiteten Vorftellung, dafs durch dieEntwicke-
lung der Dinge im 16. Jahrhundert die ev. Kirche der
unbefchränkten Verfügung der Landesherren anheimgefallen
fei, widerfpricht Rieker durchaus. Die Fürften jener
Zeit feien von der Ueberzeugung durchdrungen gewefen,
dafs fie in Sachen des Glaubens und Gottesdienstes nicht
nach ihrer Willkür zu verfahren hätten, fondern nach dem
Worte Gottes, und dafs fie deshalb dem geiftlichen Amt,
deffen Beruf die Verkündigung des Wortes fei, Gehör
zu geben hätten. In der Theorie ift das ganz richtig;
aber ebenfo feft ftand es für das evangelifche Bewufst-
fein, dafs das Predigtamt keine Zwangsgewalt, fondern
nur eine moralifche Autorität befitze, und dafs daher die
Obrigkeit nicht rechtlich verpflichtet fei, den Predigern
zu gehorchen, fondern felbftändig zu prüfen habe, ob
das, was fie fordern, im göttlichen Worte Grund habe
oder nicht. Thatfächlich war damit doch Alles der dis-
cretionären Verfügung des Landesherrn überlaffen. Wie
diefe in nicht vereinzelten Fällen gehandhabt wurde,
zeigen die Vorgänge in Braunfchweig zur Zeit des Herzogs
Julius, von denen Hundeshagen, Beiträge zur Kir-
chenverfaffungsgefchichte 1,464k berichtet. In welcher
Weife in Kurfachfen und anderwärts die Concordienfor-
mel den zum grofsen Theil abgeneigten Pfarrern obrigkeitlich
aufgenöthigt wurde, ift bekannt, nicht zu reden
von dem Befcheid, den der brave und herzensfromme
Wilhelm IV von Heffen-Kaffel einem feiner Superintendenten
ertheilte, als ihm derfelbe wegen eines vorgekommenen
argen Mifsbrauchs Vorftellungen machte: er habe
des Landgrafen als oberften Superintendenten Befehl
abzuwarten.

Aber ich bemerke, dafs es in Rückficht auf den Raum
nothwendig ift zum Schluffe zu eilen. Ich laffe alfo andere
Bemerkungen, zu welchen der intereffante Inhalt
des Buches Anlafs geben könnte, bei Seite und erwähne
nur noch Folgendes. Die Kirche ift nach reformatori-
fcher Anfchauung, bez. Rieker's Auffaffung derfelben,
nicht Verein (Gemeinde), fondern Anftalt, Stiftung; fie
belteht für ihre Mitglieder, aber nicht durch diefelben,
fondern unabhängig von ihnen. Sie ilt, wenigftens nach
Luther, ihrem Wefen nach unfichtbar, das unfichtbare
Reich des heil. Geiltes in den Herzen. Eine unfichtbare
Anftalt ift, wie mir fcheint, ein Widerfpruch in fich felbft.
Wenn die Kirche nach Apol. IV. vornehmlich in Ge-
meinfchaft inwendig der ewigen Güter im Herzen, als
des heil. Geiftes, des Glaubens, der Furcht und Liebe
Gottes' fleht, fo ift fie nicht denkbar ohne eine Zahl,
grofs oder klein, von Menfchenherzen, welche jene Güter
in fich aufnehmen und fich durch diefelben geeinigt
fühlen. Die Einzelnen find im Verhältnifs zur Kirche
das logifche Prius; Jefus hat nicht zuerft die Kirche gehaftet
und dann Menfchen in diefelbe berufen, fondern
fie ift dadurch geworden, dafs er Menfchen zu fich berief
, welche fodann, weil fie fich gleichermafsen alle von

ihm ergriffen wufsten, fich zu einer Gemeinfchaft verbunden
fühlten. Die Kirche, weil unfichtbar, lehrt Rieker
weiter (S. 67), kann niemals in die Formen des Rechts
eingehen, und berührt fich hierin mit der Anfchauung
von Sohm, nach welchem gleichfalls das Kirchenrecht
als folches einen Widerfpruch gegen das Wefen der
Kirche darftellen foll. Allein während Sohm in der That-
fache, dafs fich trotzdem das Kirchenrecht mit unentrinnbarer
Nothwendigkeit immer wieder der Kirche aufdrängt
und auch im Reformationszeitalter aufgedrängt
hat, eine unerträgliche Feffel, ein düfteres Räthfel erblickt,
findet Rieker, mehr zu einer optimiftifchen Betrachtung
neigend, leicht datür die Löfung. Sie liegt in der bekannten
Theorie von Richard Rothe, in welche Rieker's Darfteilung
ausklingt. Die Reformation hat der kirchlichen
Erfcheinungsform des Chriftenthums principiell ein Ende
gemacht. Der Proteftantismus ift nicht kirchenbildend,
fondern kirchenauflöfend (womit freilich die Erfahrung
in den Ländern des Freikirchenthums keineswegs ftimmt),
an die Stelle der Kirche als Verwirklichungsform des
Chriftenthums fetzt er den chriftlichen Staat. In den Tagen,
als R. Rothe mit feiner Weisfagung von der bevorftehen-
den Auflöfung der Kirche im chriftlichen Staate auftrat,
war es möglich, diefe Zukunftsausficht als eine denkbare
Eventualität ins Auge zu faffen: am Ende des 19. Jahrhunderts
erfcheint fie doch um einige Jahrzehnte ver-
fpätet.

Der Widerfpruch, den Ref. manchen Sätzen des Verf.'s
entgegenzuftellen hatte (und auch noch anderen entgegen-
zuftellen hätte), hat nicht die Bedeutung, der im Eingang
ausgefprochenen Anerkennung des grofsen wiffenfchaft-
lichen Werthes feines Werks etwas abzubrechen. Sie fei
am Schluffe wiederholt ausgefprochen verbunden mit dem
Wunfche, dafs dem Verf. eine lange und erpriefsliche wif-
fenfchafthche Laufbahn befchieden fein möge. K. Rieker
war, als er feine erfte kirchenrechtliche Arbeit erfcheinen
liefs, Diakonus in Brackenheim, und man konnte es
damals mit Freude begrüfsen, dafs ein theologifcher Vertreter
des Kirchenrechts auftrat, nachdem dasfelbe faft
zu einer Domäne der Juriften geworden war. Jetzt tritt
er uns als Dr. juris u. Privatdocent der Rechte entgegen.
Er hat alfo, um fich der berufsmäfsigen Pflege der Kir-
chenrechtswiffenfchaft widmen zu können, ,umfatteln'
müffen. Das ift zu bedauern. Er hat ja innerlich nicht
aufgehört Theologe zu fein, fondern fchreibt mit theo-
logifchem Intereffe und Verftändnifs. Aber um fo weniger
follte es nöthig fein, um fich als Lehrer des Kirchenrechts
geben zu können, fich äufserlich aus einem Theologen
in einen Juriften umzugeftalten. Wohl läfst fich
das Kirchenrecht, als eine pofitiv hiftorifche Disciplin,
nicht eigentlich als ein Glied in dem Syftem der Theologie
conftruiren. Es fteht zu derfelben mehr in dem
Verhältnifs einer Hilfswiffenfchaft; was die prakt. Theol.
als Kybernetik oder Lehre vom Kirchenregiment darbieten
kann, ift etwas anderes. Gleichwohl läfst fleh ein
abfchliefsendes theologifches Studium ohne Kirchen-
recht nicht denken, und die theologifche Behandlung
des Gegenftandes wird allezeit eine anders geartete fein
als die von Juriften geübte. Die Theologie dürfte fich
das Kirchenrecht nicht nehmen laffen. Ift in keiner der
gröfseren theologifchen Facultäten Raum für einen Do-
centen vorhanden, welcher das Kirchenrecht als fein
Specialfach vertritt?

Darmftadt. K. Köhler.

Skopnik, Superint. a. D. Pfr. A., Politik und Christentum.

Eine religiös-politifche Studie. Berlin, Skopnik, 1893.
(VII, 220 S. gr. 8.) M. 3.50; geb. M. 4.50.

Diefes Buch enthält viel Gutes und Wahres, wenn
auch nicht eben viel Neues. Der Verf. bezeichnet feine
Stellung als eine vermittelnde: fie ift es im beften Sinne.